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Baby Fiete ist mal wieder bester Laune. Ansonsten ist die Stimmung angespannt im Hause Stappenbek-Niggemeier. Dabei sind heute Morgen alle noch zuhause, denn die Familie wollte mal wieder gemeinsam frühstücken.

Nicoles Mordfall drängt im Augenblick nicht so. Da können wir in aller Ruhe weiterermitteln, meint sie. Niggemeier muss heute erst zur vierten Stunde und hat Spiegeleier gemacht. Der Studienrat für Deutsch und Geschichte und Oberstufenkoordinator für das gesellschaftswissenschaftliche Profil hat fünf Jahre vor seiner Pensionierung seine Stundenzahl reduziert, um sich um seinen jüngsten Sohn zu kümmern. Der ältere Finn ist bei ihm immer zu kurz gekommen. Nicole war lange Jahre immer eine Affäre geblieben. Niggemeier hatte sich nie dazu durchringen können, für Nicole und Finn seine alte Familie zu verlassen. Aber einen endgültigen Schlussstrich hatte er auch nicht ziehen können. Nicole erging es ebenso. Mit Fietes Geburt änderte sich auf einmal alles, und die neue Familie bezog ein altes Reetdachhaus hinterm Deich. Niggemeier gibt noch seinen Unterricht am Husumer Theodor-Storm-Gymnasium, er hat seine regelmäßigen Proben und gelegentliche Auftritte mit der Band »Stormy Weather«, in der er mittlerweile seit Jahrzehnten mit Bounty zusammenspielt. Aber er hat jetzt auch viel Zeit für die Familie, vor allem für den Jüngsten. An dem kleinen Fiete scheint Niggi einen Narren gefressen zu haben. Er spielt ihm ganze Nachmittage auf der Gitarre Cat Stevens vor. ›Wild World‹ bringt den Kleinen regelmäßig zu ekstatischem Glucksen. Der große Bruder Finn findet das gar nicht so lustig. Und heute Morgen ist er richtig schlecht drauf, obwohl er erst zur Dritten in die Schule muss.

Seit zwei Wochen lebt Finn in größter Sorge um sein Meerschweinchen Matze. »Mama, wo soll Matze denn hin sein? Der kann doch nicht einfach so verschwinden, der ist bestimmt entführt worden.«

»Komm, Finn, wer soll Matze denn entführen?« Nicole rollt erst mit den Augen, dann will sie ihren Sohn in den Arm nehmen. Aber der wehrt sich. »Matze kommt bestimmt allein zurecht. Dem geht es bestimmt gut.« Nicole und Niggi haben die Hoffnung eigentlich aufgegeben, dass sich das Meerschweinchen wiederfindet. Aber das zeigen sie ihrem Sohn natürlich nicht.

»Der kennt sich hier doch gar nicht aus.« Finn malt sich die schlimmsten Szenarien aus. »Und hinterm Deich lauern überall Gefahren.«

»Was denn für Gefahren?« Niggemeier mag die Dramatik nicht recht nachzuvollziehen.

»Schafe, Krähen, Reiher, Silbermöwen, Heringsmöwen …«

»Ja, Finn, Heringsmöwen, das sagt es doch schon. Meerschweinchen-Möwen gibt es nicht.«

»Und dann auch der Wind. Zu viel Wind ist nicht gut für Matze.« Finn fällt immer noch etwas Neues ein. Im Hintergrund gluckst Fiete vor sich hin.

»Konzentrier dich mal lieber auf die Schule.« Allmählich hat Nicole genug von der Diskussion, sie muss langsam mal los.

»Jaja.« Durch diese Bemerkung verbessert sich Finns Laune nicht unbedingt.

»Oder auf das nächste Fußballspiel.« Niggi nickt ihm bedeutungsvoll zu.

Die Laune seines Sohnes wird immer schlechter. Die C-Junioren der SG Schlütthörn haben am letzten Wochenende nämlich schon wieder verloren.

»Konzentriere du dich mal lieber auf das nächste Spiel, damit ihr nicht wieder so eingeht wie zuletzt gegen Bongsbüll.«

»Wir haben ja jede Menge Möglichkeiten gehabt. Wir kommen immer wieder in die Box, aber wir haben uns einfach nicht belohnt. Unfassbar.« Finn ist sofort wieder im Interviewmodus. »Aber wir machen eine Entwicklung, wir müssen Geduld haben.«

»Vielleicht müsst ihr einfach mal das Tor treffen«, meint Nicole.

»Wir müssen das letzte Spiel analysieren, und dann wartet der FC Leck am nächsten Sonntag.« Finn macht ein besonders ernstes Gesicht. »Ich weiß ja, ich muss fokussiert sein, mich auf das nächste Spiel vorbereiten. Aber mir geht Matze nich aus dem Kopf und auch so viele andere Sachen …«

»Komm, das wird alles.« Nicole will ihn wieder in den Arm nehmen. Aber Finn sträubt sich.

»Habt ihr denn mal irgendetwas unternommen?«, will er von seiner Mutter wissen.

»Was sollen wir bitte unternehmen? Was stellst du dir denn vor?«

»Mama, Matze ist gekidnappt, und ihr habt diesen toten Bäckermeister auf dem Sperrmüll gefunden, das ist doch kein Zufall.«

»Finn, nun hör aber mal auf, was soll unser Mordfall denn mit deinem Meerschweinchen zu tun haben?«

»Die beiden Fälle haben bestimmt miteinander zu tun. Das ist doch meist so, sagt Thies auch immer.«

Nicole stößt einen tiefen Seufzer aus. Fiete fängt ausnahmsweise mal an zu quaken. Mit dem gemütlichen Frühstück wird das wohl nichts mehr. Nicole bekommt auf ihrem Handy einen Anruf von Thies und muss jetzt wirklich los. Auf dem Weg fasst sie einen Entschluss. Meerschweinchen sehen doch irgendwie alle gleich aus, oder?