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Die strenge Vorzimmerdame will die beiden Polizisten zunächst gar nicht zum Chef vorlassen. Aber als beide ihre Ausweise zeigen und Thies droht, den Großbäcker sonst vorzuladen, bittet Hagemeister sie gleich herein auf die kleine Sitzecke, die außer dem Schreibtisch in dem großen Arbeitszimmer steht. An den Wänden hängen Schwarzweißbilder, die die Geschichte des Betriebes dokumentieren. Aufnahmen aus den Sechzigerjahren von Männern mit riesigen Backblechen, alte VW -Busse mit dem Namen Hagemeister in geschwungenen Buchstaben. Damals waren die »Backecken« noch nicht erfunden. Daneben gerahmte Zeitungsartikel der Lokalpresse über Firmenjubiläen und Filialeröffnungen. Und auf dem Schreibtisch stehen noch zwei kleinere Rahmen mit Familienbildern: Hagemeister mit einer deutlich jüngeren Frau und zwei Kindern.

Die Frau sieht sehr gut aus, fällt Thies gleich auf, ein bisschen zu gut für den alten Bäckermeister. Und irgendetwas an der Frau irritiert ihn. Sind das ihre Ohren? Ja, Frau Hagemeister hat auffällig große, ein bisschen abstehende Ohren, bemerkt er, als er noch einmal zu dem Foto sieht. Nicole wirft ihm schon einen strengen Blick zu, dann stellt sie sich und Thies noch mal vor.

»Was kann ich denn für Sie tun?« Hagemeister nickt den beiden zu und nimmt ebenfalls in der Sitzecke Platz. Der Großbäcker mit dem runden Gesicht und den geröteten Wangen wirkt freundlich. Er trägt eine altmodische Wolljacke, darunter Hemd und Schlips. Seine Haare hat er von einem tiefen Scheitel sorgfältig über den Kopf gelegt.

»Sie können sich vermutlich denken, warum wir hier sind.« Thies schlägt gleich seinen schärferen Ton an.

»Nein, das kann ich allerdings nicht.«

»Wir haben recherchiert, dass ein Mario Koschitz für Ihre Bäckerei als Fahrer arbeitet. Ist das richtig?«, übernimmt Nicole die Befragung.

»Mario Koschitz? Ja, sicher, der fährt schon seit vielen Jahren für uns und hilft hier im Betrieb auch mal bei Hausmeistertätigkeiten aus.« Hagemeister streicht sich über die sorgfältig drapierte Frisur. »Was soll mit ihm sein?«

»Ja, wat denn, der hat ’ne Bäckerei überfallen …«, platzt es aus Thies heraus.

»Moment, erst mal die Frage: Herr Koschitz ist zurzeit nicht hier? Ist das richtig?«, stoppt die Kommissarin ihren Kollegen. »Und noch eine andere Frage: Fährt er eine Harley Davidson … wie heißt die?«

»›Low Rider‹ in ›Gunship Grey‹«, kommt es bei Thies wie aus der Pistole geschossen.

»Ja, ja, das ist seine ganze Leidenschaft.« Hagemeister lächelt immer noch. »Aber was erzählen Sie da von einem Überfall?«

»Küstenbäckerei ›Backbord‹ in Schlütthörn, da hat er dat Schaufenster eingeschlagen und ’ne Schlägerei angefangen.« Thies sieht den Großbäcker herausfordernd an.

»Sind Sie sicher, dass mein Mitarbeiter Mario Koschitz damit zu tun hat?« Im Augenblick lächelt Hagemeister nicht mehr. »Und falls unser Mario tatsächlich mit seiner Motorradbande unterwegs war, was geht mich das an?«

»Die Bäckerei in Schlütthörn, kommt Ihnen das nicht bekannt vor?«, hakt Nicole nach.

»Schlütt … hörn?« Der Großbäcker gibt sich alle Mühe, so zu tun, als höre er den Namen zum ersten Mal.

»Schlütthörn, dat war ’ne Filiale von Hansen aus Husum.« Thies wird schon wieder lauter.

»… für die Sie sich sehr interessiert haben, nachdem Hansen sie aufgegeben hatte«, nimmt Nicole den Satz auf.

»Woher wollen Sie das denn wissen?« Allmählich kommt der Bäcker in seiner Wolljacke ins Schwitzen.

»Wir haben unsere Quellen.« Nicole ist noch höflich.

»Dat is normale Polizeiarbeit«, fährt Thies ihn an. »Angeblich waren Sie ganz scharf auf die Bäckerei in Schlütthörn.«

»Warum interessiert Sie das überhaupt?«, will Hagemeister wissen.

»Einen Moment, die Fragen stellen wir hier«, stellt Thies klar.

Der Großbäcker sagt im Augenblick gar nichts.

»Mein Kollege hat Ihnen eine Frage gestellt«, hakt Nicole nach. »Was ist mit Schlütthörn?«

»Weiß auch nicht.« Hagemeister streicht sich aus Verlegenheit über seinen breiten Scheitel. »Die Bäckerei hatte unserer Familie mal gehört … na ja, fast … das war bei meinem Vater vor langer Zeit, das ist über fünfzig Jahre her.«

»Anfang der Neunzehnhundertsiebzigerjahre, oder wie muss ich mir das vorstellen?«, fragt Nicole noch mal nach.

»Ja, so um den Dreh. Damals war ein junger Bäcker aus der Hansen-Familie auf mysteriöse Weise verschwunden, mein Vater wollte den Laden übernehmen, und dann tauchte wie aus der Versenkung plötzlich ein jüngerer Bruder auf und übernahm die Bäckerei, obwohl er gar kein Bäcker war. Das war der alte Hansen, der sich jetzt zur Ruhe gesetzt hat. Aber was hat Sie diese alte Geschichte überhaupt zu interessieren?«

»Es geht um Mord«, bringt der Fredenbüller Polizeihauptmeister mal wieder seinen Standardsatz an.

»Mord? Eben war noch von einer zerschlagenen Fensterscheibe die Rede.« Der Bäcker spielt weiterhin tapfer den Ahnungslosen.

»Bei dem Ermordeten, den wir in einem Sperrmüllwagen aufgefunden haben, handelt es sich um den Bäcker Jens Küth«, erklärt die Kommissarin. »Und der war, so haben wir ermittelt, einmal ihr Mitarbeiter.«

Bei dem Namen Jens Küth wird es dem Großbäcker in seiner wollenen Hausjacke noch mal ein paar Grad wärmer. »Küth war Filialleiter bei unserer ›Backecke‹ in Eckernförde … aber dann wollte er … tja, Reisende soll man nicht aufhalten.«

»Höre ich da heraus, dass es zwischen Ihnen und Ihrem Filialleiter Spannungen gegeben hat?«, fragt Nicole nach.

»Kein schlechter Bäcker. Aber ganz einig waren wir uns oft nicht. Wir haben für unsere Filialen bestimmte Richtlinien, und an die wollte er sich nicht halten.« Zunächst windet sich Hagemeister, aber dann redet er sich in Rage. »Er kann sich auch nicht benehmen. Auf der großen Weihnachtsfeier … er trinkt ein bisschen viel bei solchen Anlässen und … wie soll ich sagen … er ist immer ein bisschen zu sehr hinter der Damenwelt her.«

»Ist das ein Grund, sich gleich von ihm zu trennen?« Nicole sieht ihn prüfend an.

»Na ja, wenn es um die eigene Frau geht, schon«, rutscht es ihm heraus. Hagemeister ist deutlich anzusehen, dass er sich diesen Satz lieber verkniffen hätte.

Thies und Nicole sehen sich auch sofort an. Klingt das vielleicht nach einem echten Mordmotiv? Nach einem Alibi können sie den Großbäcker schlecht fragen. Der Todeszeitpunkt des Ermordeten ist zu vage.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen spricht Nicole noch einmal den Ausfahrer an, der gerade in seinen Transporter steigen will. »Sagen Sie, ist Ihnen an Ihrem Kollegen Mario Koschitz in letzter Zeit etwas aufgefallen?«

»Kann man so sagen.« Da muss der Fahrer nicht lange überlegen. »Beide Augen zugeschwollen, und dat halbe Gesicht schillerte in allen Regenbogenfarben. Dabei is er dat normalerweise, der austeilt. Aber inzwischen sieht er schon wieder ganz manierlich aus.«

»Den Schläger auf der Harley haben wir schon mal. Aber hat der deswegen auch den Bäcker im Sperrmüll auf dem Gewissen?«, raunt Thies seiner Kollegin zu.

Doch die hat schnell noch eine andere Frage an den Bäckereifahrer. »Kennen Sie den Kollegen Jens Küth?«

»Ja, der is ja tot aufgefunden worden, das hat hier natürlich schon die Runde gemacht. Ich hab ihn regelmäßig in Eckernförde beliefert, aber da is er ja wohl rausgeflogen.« Er sieht die beiden betroffen an. »Das musste ja eines Tages so kommen.«

»Was heißt das jetzt?« Thies sieht ihn verwundert an.

»Der hat doch alle Frauen angegraben, ob sie verheiratet waren oder nich. Davon waren die Ehemänner nich ganz so begeistert … also, der hat sich auch schon manches blaue Auge eingefangen.«

»War da möglicherweise auch etwas mit der Frau des Chefs?«, fragt Nicole gleich nach.

»Is dat nich ’ne andere Altersgruppe?«, fragt sich Thies.

»Ja, nee, seine zweite Frau is ’n ganzes Stück jünger als der Chef«, bemerkt der Fahrer. Und dann hat Thies auch gleich das Familienfoto auf dem Schreibtisch vor Augen.

»Und, war da was?« Die Kommissarin bleibt beharrlich.

Der Bäckereifahrer sieht die beiden nur an und zuckt mit den Schultern.

»Aber jetzt hab ich auch mal ’ne Frage: Hat Mario mit dem Mord wat zu tun?«

»Dat sind laufende Ermittlungen«, stellt Thies klar.

»Na ja, anders als Küth hat der das auch nich so mit den Frauen. Nur seine Harley und die Motorradgang.«