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Vier Tage bis Pfingsten

»Ach, Thies und Nicole, ihr seid dat.« Pensionswirtin Renate ist hocherfreut, als die beiden Polizisten vor ihrer Tür stehen. »Kommt doch erst mal rein.«

Die beiden Polizisten haben neue Erkenntnisse. Eher zufällig ist Ole Matthiesen bei seinen Recherchen auf die Telefonnummer von Renates Pension gestoßen. Bei der Durchsicht alter Vermisstenmeldungen hatte er vergeblich nach der möglichen Identität des Skeletts geforscht. Stattdessen hatte er eine etwa fünf Wochen alte Vermisstenmeldung entdeckt, die bei der Zentrale in Flensburg eingegangen war. Der Anruf kam anonym, aber die Telefonnummer, die Ole recherchiert hatte, kam Thies gleich bekannt vor. Sie steht schließlich seit Jahren gut sichtbar auf dem Schild im Vorgarten von »Renates Wellness-Oase«.

»Wir wollen gar nich lange … wir haben eigentlich nur eine Frage.« Nicole kommt schnell zur Sache, denn sie möchte sich hier auf keinen Fall häuslich einrichten.

»Ich hab noch ’n Gast, der is mit Frühstück noch nich ganz durch. Wollt ihr auch erst mal ’n Kaffee?«

»Ich hab schon gehört, du hast mal wieder ’n Feriengast«, bemerkt Thies.

»Ja, dat is wohl ’n Engländer. Immer im karierten Jackett.« Auch beim Flüstern rollt sie das R. »So ’n büschen wat Besseres … wie soll ich sagen … englisch eben.«

»Renate, wir wollen dich wirklich nich lange aufhalten.« Aber da hat die Pensionswirtin Thies schon in ihre Küche gedrängt, und Nicole bleibt gar nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen. Im Vorbeigehen wirft Thies einen Blick in das Frühstückszimmer.

»Moin, Moin«, grüßt der Gast auf Friesisch mit englischem Akzent und einem Eierlöffel in der Hand.

»Ja, Moin«, grüßt der Fredenbüller Dorfpolizist zurück. Nicole nickt nur.

»Sag mal, dat is doch der mit dem Toupet, von dem Antje und Wencke Petersen erzählt haben«, flüstert Thies seiner Kollegin zu. »Wat macht der hier? Urlaub?«

»Renate hat ja immer wieder ungewöhnliche Gäste«, erinnert sich die Kommissarin. Aber der sieht wirklich ziemlich schräg aus. »Was hatten Bounty und Wencke gesagt?«

»Dat er englische Jacketts wie der alte von Rissen trägt, und Wencke meinte, dass er in der Bank ein Schließfach angemietet hat. Is ihr irgendwie aufgefallen.« Thies redet die ganze Zeit im Flüsterton.

»Alles kein Grund, ihn wegen Mordverdachtes zu verhaften«, stellt die Kommissarin fest.

Renate hat ihrem Gast währenddessen Kaffee nachgeschenkt und versorgt jetzt auch die beiden Polizisten in der Küche mit einer Tasse.

»Kannst du uns etwas über den Mann sagen?« Nicole deutet mit einer Kopfbewegung zum Frühstücksraum. »Für deine Honigmassage ist er ja nicht so der Typ, oder?«

»Nee, mit Wellness kann ich dem nich kommen. Wenigstens steht er auf die Eier vom Biohof, jeden Morgen zwei, und auf meine selbsteingemachte Hagebuttenmarmelade. Dat is ja schließlich auch Wellness.«

»Renate, wegen der Wellness sind wir nicht hier, wie du dir denken kannst.« Nicole will endlich mal weiterkommen.

»Ich hab schon gehört, ihr habt den Bäcker gefunden, der damals verschwunden ist.« Frau Bandixens Erkenntnis hat sich in Fredenbüll wie ein Lauffeuer verbreitet. Alle rätseln über das geheimnisvolle Skelett. Was ist damals vor fünfzig Jahren in der Schlütthörner Bäckerei passiert? Auch die Älteren, Piet Paulsen oder »Dauerwelle« Frau Bandixen haben nur noch vage Erinnerungen. Aber heute sind Thies und Nicole ja aus einem anderen Grund bei Renate.

»Uns ist bei einer Vermisstenmeldung deine Telefonnummer aufgefallen.« Thies sieht sie prüfend an, und die Pensionswirtin blickt fragend zurück. »Von deinem Telefon ist eine Vermisstenmeldung gemacht worden.«

»Kann nich sein!« Renate ist entrüstet. »Ich hatte damals noch gar kein Telefon.«

»Wir reden jetzt nicht über die Zeit vor fünfzig Jahren, sondern vor einem Monat«, erklärt ihr die Kommissarin. »Und der Vermisste war der ermordete Bäcker.« Renates Blick wird immer ratloser. »Hattest du in dieser Zeit eines der Zimmer vermietet?«

»Nee.« An Gäste in diesem Zeitraum kann Renate sich zunächst nicht erinnern. »Nur diese eine Frau war mal kurz da, zwei oder drei Mal. Aber immer nur für eine Nacht, und Frühstück wollte sie auch nicht.« Renate tut so, als würde die Übernachtung dann nicht zählen.

»Hatte die so ’ne spezielle Frisur?«, fragt Thies gleich nach. »So ein Igel mit bunten Stacheln?«

»Igel? Nee, dat war kein Igel.« Da ist sich Renate sicher. Und mit Frisuren kennt sie sich als Stammkundin im »Salon Alexandra« aus.

»Alright , ich wünsche einen schönen Tag«, grüßt der Major kurz durch die Küchentür. »Frau Renate und die Herrschaften.«

»Ihnen auch ’n schönen Tag, Herr Hasel … ähhh … spuuun.«

Die beiden Beamten nicken ihm kurz zu. Aber dann kehrt Nicole schnell zur Befragung zurück. »Wie sah sie denn aus?«

»Eigentlich normal.« Sie überlegt. »Also auf keinen Fall wie ’n Igel.«

»Das heißt stattdessen?« Nicole wird ungeduldig. Renate blickt sie fragend an. »Was hatte sie stattdessen für eine Frisur? Und wie sah sie aus?«

»Dunkle Haare. So ’n büschen kürzer als du, Nicole … und dunkler. Ach so, sie hatte irgendwie komische Ohren.«

Die Kommissarin verdreht angesichts dieser Beschreibung die Augen. Bei Befragungen hat sich Renate schon in früheren Fällen schwergetan, erinnert sich Nicole.

»Alter?«, fragt Thies. »Renate, wie alt war die Frau? So wie Nicole? Jünger? Älter?«

Renate wirkt angesichts der Frage überfordert »Vielleicht ’n büschen älter als Nicole, aber nich viel.«

Mehr scheint aus der Wirtin der »Wellness-Oase« im Augenblick nicht herauszubekommen sein.

»Wer ist die Frau?«, fragt die Kommissarin, als die beiden wieder in ihrem Auto die Fredenbüller Dorfstraße entlangfahren.

»Nicole, da war von zwei Frauen die Rede.«

»Der Igel und …«

»… die große Unbekannte … mit großen Ohren!« Auf einmal bekommt er seinen Kuhblick. Bei Thies fallen gleich mehrere Groschen.