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Die Streitigkeiten in seiner Gang lassen Scholz keine Ruhe. Was treibt Samira für ein Spiel? Was hat sie vor? Mit wem trifft sie sich möglicherweise, mit wem macht sie gemeinsame Sache? Bringt sie seinen großen Coup auf den letzten Metern in Gefahr? Gibt es Verräter?

Auf dem Fahrrad ist er spät abends an den Deich gefahren. Es ist eigentlich schon Nacht. Aber über der Nordsee ist noch deutlich die rötliche Abenddämmerung zu erkennen. Ein paar Austernfischer ziehen krakeelend über ihn hinweg. Von der See kommt eine leichte feuchte Brise.

Er hat die Orte Schlütthörn und Reusenbüll hinter sich gelassen. Vor dem Deich parken mehrere Autos. SUV , Familienkutschen, ein Geländewagen. Was machen die hier? Spaziergänger? Mitten in der Nacht? Vermutlich irgendwelche verrückten Vogelbeobachter. Scholz wischt den Gedanken beiseite. Er nimmt den kleinen asphaltierten Weg, der schräg den großen Deich hinaufführt. Scholle kommt dabei richtig aus der Puste. Von der Deichkrone aus hat er einen weiten Blick über das ganze Deichvorland. Am Horizont kann er das Watt sehen, und von Weitem blinken ein paar Lichter von den Halligen herüber. Und dann steht da unübersehbar, mitten in der baumlosen, platten Landschaft, an dem Weg zum Watt, hinter einer Schautafel des NABU der alte Wohnwagen vom »Zirkus Zamproni«.

Ein Stück fährt er noch auf dem Rad, dann steigt er ab. Er wirft das Rad ins Gras und geht zu Fuß weiter, um nicht aufzufallen. Scholz ist nun wirklich nicht besonders groß. Trotzdem duckt er sich noch mal weg. Im selben Moment merkt er, wie unsinnig das ist. Hier in dieser baumlosen Landschaft kann er sich nirgendwo verstecken.

Als Scholle näher kommt, sieht er, dass in dem Camper Licht brennt. Er schleicht sich näher heran und geht zunächst hinter der Schautafel des NABU mit der Vogelwelt des Wattenmeeres in Deckung. Er lauscht. Vom Wagen weht ein ABBA -Song herüber. Er sieht an den Rotschenkeln und Pfuhlschnepfen auf der NABU -Tafel vorbei zu dem erleuchteten Zirkuswagen. In dem kleinen Fenster ist nichts zu erkennen, und hören kann er auch nichts, nur ›Dancing Queen‹, das sich mit dem Pfeifen einer Windbö und dem Piepen der Austernfischer mischt.

Dann ist es für einen Moment ganz still. Und plötzlich hört er die laute Stimme von Samira. Scholle hört, dass sie schreit, aber so genau kann er sie nicht verstehen. So etwas Ähnliches wie »Das kannst du vergessen« und »Ich hab dir das schon gesagt, ich mach das nicht«. Das andere ist eine männliche Stimme, die er nicht erkennen kann. Sie ist im Augenblick leiser. Gegen ›Dancing Queen‹ kann er sie kaum hören. Aber sie streiten heftig.

»Ich weiß, was ich gestern gesagt hab!«, schreit die Schlangenfrau. »Vergiss es! Heute sage ich was anderes!«

Scholle schleicht sich noch näher an den Camper heran. Aber er hält Abstand. Er will auf keinen Fall entdeckt werden. Samira darf ihn hier nicht sehen. Und der andere erst recht nicht. Vielleicht ist es einer aus seiner Gang. Im Augenblick haben beide aufgehört, sich gegenseitig zu beschimpfen. Stattdessen hört er ein Rumpeln. Es klingt, als wolle jemand die Tür öffnen. Scholz geht hinter der NABU -Tafel in Deckung und wartet ab.

Wer ist das in dem Zirkuswagen? Rusty, Charly, der Major? Bäcker Timo Grosche oder sogar Bubu? Nein, Bubu kann er ausschließen. Er kann doch gleich mal nachsehen, ob in den Schlafräumen über der Bäckerei einer fehlt. Der Major übernachtet in seiner Pension. Aber wenn einer der anderen nicht da ist, dann weiß er Bescheid. Oder ist es doch jemand ganz anderes, den er gar nicht auf der Rechnung hat? Im Moment bleibt Scholle noch wie angewurzelt hinter dem Schild mit den Rotschenkeln und Pfuhlschnepfen stehen und lauscht. Inzwischen spielt ABBA ›Super Trouper‹.