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Ein Tag bis Pfingsten

In der Bäckerei läuft der Betrieb wieder auf Hochtouren. Imke Schlotterbeck-Thran, die heute noch mal aushelfen muss, erweist sich hinter dem Kuchentresen als Naturtalent. Die »Deichdinkel«, »Kliffkanten« und »Wellenbrecher« gehen nur so über die Ladentheke. Die sahnigen Friesentortenstücke jongliert sie schwungvoll mit dem Tortenheber auf die Papptabletts, als wäre das eine Spezialdisziplin in ihrem Sozialpädagogikstudium gewesen. Aber es gibt auch Unruhe im Laden, einige Kunden werden ungeduldig. Die »Kliffkanten« sind mal wieder ausgegangen, und Bubu hat bei seinem kurzen Zwischenspiel hinter der Theke mehrere Vorbestellungen offenbar nicht notiert.

»Ich hab zu Pfingsten zehn Stücke ›Deichbiene‹ bestellt«, echauffiert sich eine Schlütthörnerin in pfingstlich lindgrünen Sportklamotten.

Und dann stürmt auch noch Raiffeisenbankerin Wencke Petersen aufgeregt in den Laden. »Entschuldigung, dass ich mal eben dazwischenfrage.« Sie drängelt sich an den Tresen. »Sagen Sie, hab ich gestern beim Brötchenholen mein Handy hier liegen lassen?« Wencke hatte das Fehlen ihres Smartphones erst heute Morgen bemerkt. Gestern Abend musste sie mit ihrer Freundin erst mal Wiedersehen feiern. Und jetzt sucht sie hektisch alle möglichen Orte ab. Die beiden wollen gleich die Fähre nach Föhr bekommen.

»Ein Handy?« Imke Schlotterbeck zieht das lange Messer aus der Friesentorte und sieht sie etwas ratlos an.

»Sie waren doch gestern im Laden«, funkt jetzt die Schlütthörnerin in Hellgrün dazwischen. »Dann müssen sie doch auch mitgekriegt haben, dat ich zehn Stücke ›Deichbiene‹ bestellt hab?«

»Ja, ja, kann sein.« Wencke ist nervös. »Haben Sie vielleicht gesehen, ob ich mein Handy hier verloren hab?«

»Ihnen ist doch die Tasche umgekippt«, fällt der Frau gleich ein. »Da von der Ablage an der Theke runter, und dann lagen die Sachen hier auf dem Boden.« Sie überlegt. »Aber ’n Handy war nich dabei. Dat wär mir aufgefallen.«

»Ist hier gestern ein Handy gefunden worden?«, fragt Imke Schlotterbeck Bäckermeister Grosche, der jetzt dazukommt.

»Handy? Nee.«

»Tut uns leid, Frau Petersen.« Die Aushilfsbedienung zuckt bedauernd die Schultern.

»Wo war ich denn noch? In der Drogerie? Oder hab ich es doch in der Bank liegen lassen?«, brummt Wencke mehr zu sich selbst und stolpert konfus aus dem Laden.

Im Tunnel sind währenddessen die Arbeiten in vollem Gange. Bubu Buschke ist wieder in seinem Metier und schwingt in geduckter Haltung die Spitzhacke. Die Außenwand des Tresorraumes erweist sich als hartnäckig. Rusty hat zunächst Bedenken wegen des Krachs. Aber auch im Laden ist so viel Betrieb, dass der zusätzliche Lärm gar nicht weiter auffällt. Und dann ist von schräg oben ein diffuses, dumpfes Rumpeln und Knirschen zu hören.

»Was is dat denn jetzt?«, fragt Rusty. »Das donnert hier direkt über uns.«

»Da is ja noch einer am Arbeiten.« Bubu lässt für einen Moment die Spitzhacke sinken.

»Ich sag euch, dat is der Idiot mit seinem Scheißbagger.« Charly hat den Glasfasermann schon längst auf dem Kieker.

»Ich will mal hoffen, dass er mit seinem Bagger nicht in unseren Tunnel durchbricht.« Der Major schiebt sich die gelb getönte Brille auf die Nase. Die anderen blicken besorgt zur mit ein paar Holzbrettern notdürftig abgestützten Decke der Abgrabung. Prompt rieseln ein paar Erdkrumen zwischen den Brettern hindurch.

»Wer, verdammt noch mal, braucht schon dieses Scheißglasfaserkabel?«, schimpft Charly.

Aber dann ist der Rest der Bande auch schon wieder bei der Arbeit. Bubu hat das Stemmeisen in der Hand, und Charly Kegel hat prophylaktisch mal ein paar Bohrlöcher in den Beton gebracht.

»Kleine D-dynamitstange rein, dann macht dat einmal W-wumm, und die W-wand is weg.«

»Dafür haben wir dann die versammelte nordfriesische Polizei vor der Tür stehen«, bemerkt Major Horst Hazelspoon.

Der Beton bröselt und splittert nur spärlich, aber ganz allmählich entsteht eine größere Vertiefung in der Wand.

Meerschweinchen Matze hat sich hinter einem Stützpfeiler verkrochen und beobachtet das Geschehen aus sicherer Entfernung. Charly will dem Nager gleich wieder mit einem Spaten zu Leibe rücken.

»Lass ihn doch«, versucht Bubu seinen Komplizen zu beruhigen. »Er tut doch keiner Fliege was zu Leide.«

»Dat Viech macht mich wahnsinnig!« Kegel würde ihn am liebsten in die Luft sprengen.

Der Major behält derweil den Überblick und weist die genaue Richtung. Anlässlich des finalen Durchbruchs hat er nicht nur sein Tweed-Jackett, sondern auch sein Haarteil abgelegt. Er gibt zwar nur Hinweise, wo genau Bubu Spitzhacke und Meißel ansetzen soll, aber selbst dabei ist er ins Schwitzen gekommen.

Und dann bricht mit einem Schlag ein größeres Stück Beton kurz über dem Boden aus der Wand. Bubu fackelt nicht lange und setzt noch einen kräftigen Hieb mit der Spitzhacke hinterher. Es splittert und bröselt erneut, diesmal deutlich mehr. Und dann klafft ein kleines Loch in der Wand. Charly, Rusty, Bubu und der Major halten sofort inne. Sie erstarren förmlich. Bubu wirft einen Blick durch das Loch. Zu sehen ist nichts. Aber das muss der Tresorraum sein. Jetzt wirft auch Rusty Ralf einen Blick durch das kleine Loch, dann horcht er hinein.

»Ich hör noch was. Da ist noch Betrieb!«

»Halt, aufhören!«, stoppt der Major den Mann an der Spitzhacke. »Solange noch jemand in der Bank ist, müssen wir mit dem Durchbruch warten … aber wir haben es geschafft. Wir sind jetzt praktisch drin.« Horst wischt sich den Schweiß von der Stirn und setzt sein Toupet wieder auf.

Gleichzeitig ist das Schaben des Baggers über ihnen zu hören. So bekommen sie gar nicht mit, dass Scholle durch den Tunnel gelaufen kommt.

»Wir sind durch!«, ruft Charly ihm gleich entgegen.

Doch Scholz nimmt es gar nicht zur Kenntnis.

»Was ist, hast du Samira angetroffen?«, will Rusty wissen. »Macht sie krank oder was?«

»Schön wär’s. Schlimmer! Sie ist tot!« Scholle steht in dem Tunnel als Einziger aufrecht, dafür aber vollkommen aufgelöst inmitten seiner Crew.

»Was sagst du da? Tot?« Den Major juckt es gleich wieder unter dem Toupet. »Das kann doch nicht angehen.«

»Erstochen. Dat war Mord, eindeutig!« Scholz fuchtelt hektisch mit den Armen, soweit das in dem engen Schacht überhaupt möglich ist. »Ich hab bisher noch keine Polizei gerufen. Aber eigentlich müssten wir da … weiß auch nich, vielleicht anonym anrufen?«

»Wer kann das gewesen sein?«, stellt Bubu in Zeitlupe die entscheidende Frage.

»Dat kann ich euch ganz genau sagen!« Scholz sieht die anderen aus seinen großen braunen Augen an.

Aber die anderen hören schon gar nicht mehr richtig hin. Charly zeigt auf das Loch in der Wand, durch das gerade Meerschweinchen Matze hindurchschlüpft.

»Guckt euch dat an, dat Scheißviech is in’ T-T-Tresorraum abgehauen.«