1

Wir lebten in diesem leicht heruntergekommenen Haus aus den Dreißigerjahren, im Speckgürtel Frankfurts. Die Wegplatten im Vorgarten mussten unter ihrer Moosschicht einmal grün und rot und blau gewesen sein, auf einigen konnte man hin- und herkippeln, sodass sie ein dumpfes Klingen ausstießen. Als Kind fuhr ich auf Rollschuhen über sie hinweg, ich fühlte mich wie Kati Witt in Sarajevo 1984. Dann rutschte ich auf ihnen aus oder blieb an einer Kante hängen und fiel auf mein Steißbein. Die Wucht des Sturzes war so heftig, dass ich mehrfach nachprallte, nachbebte, wie ein Ball. Dabei vibrierte die Welt vor meinen Augen und in meinem Kopf.

Fotos beweisen, dass meine Eltern ein Paar waren. Elke und Klaus. In mir finde ich keine Bilder von den beiden als Paar.

Sie wollten alles ganz anders machen als ihre Eltern. Klaus wollte uns Kindern Freiheiten lassen, vor allem anderen Freiheit. Also keine Grenzen, nirgends. Elke wollte uns zu guten Revolutionären erziehen, wollte uns sozialistischproletarisch erziehen. (Härte, Arbeit, Struktur, Widerwille gegen Verweichlichung.) Sie tauschten die Rollen, sie wollten alle Tradition wegschmeißen, aber vor allem waren sie jung und unreflektiert und absolut unfähig, eine Beziehung zu führen.

Klaus war eine gute Mama. Er kochte, strickte, las uns vor und sang beim Putzen. Häuslich, treu und lieb. Das waren die ersten Ehejahre. Dann bekam er schlechte Laune. Oder eine Depression. Sein Laissez-Faire wurde ein Alles-egal. Ein Interessiert-mich-nicht, Ist-mir-zu-viel und Ich-kann-nicht-mehr. (Natürlich bin ich ungerecht. Eine Depression ist kein Deckchensticken.)

Meine Mutter liebte Anton Makarenko, den sowjetischen Reform-Pädagogen der 1920er. Er hatte straffällig gewordene Jugendliche in Heimen erfolgreich durch Arbeit, Disziplin und eine strikte Kollektivmoral resozialisiert. Bei Iris, Aki und mir funktionierte es nicht so gut.

Sie nannten mich Karolina. »Weil es schön klingt.« Doch dann riefen sie mich immer Kissi und wollten nicht, dass ich Kleider trug.

Was habe ich mich mit Elke über Schlingensief gestritten. Ich hätte gegen den Fahrersitz treten, ins Steuer greifen können vor Wut. Dazu ihr beschissener Fahrstil. »Er ist ein egozentrisches Arschloch.« Das war ihre elaborierte Meinung und nichts an seiner Kunst ließ sie gelten. Mit ihrer verquasten stalinistischen Weltsicht. Die idealistische Kunstproduktion unter Mao sprach sie wohl direkter an. Die fröhlichen Gesichter, der Sonne und der Zukunft zugewandt. Aufgekrempelte Ärmel, auch mal eine Waffe in der Hand. Klare Botschaften. Erbaulichkeit. (Die Kinderbücher der Siebziger und Achtziger waren so schön einfach gestrickt. Alle zusammen: Alles gut. Alle frei: Alles gut. Ketten weg, Böse weg: Das Gute siegt.)

Elke hätte nicht mit der Wimper gezuckt, verwöhnte Bürgertöchter in Erziehungsanstalten zu stecken, um ihnen beizubringen, was harte Arbeit ist. Immer idealisierte sie die extremen Verhältnisse, aus denen sie kam. »Ich bin kein Opfer. Ich kann arbeiten. Ich habe Respekt vor jedem Menschen, der arbeiten geht.« (Klaus und ich wussten, dass wir damit nicht gemeint waren.)

Ich wuchs auf mit dem lächelnden Mao auf dem Gästeklo. Ich mochte ihn sehr und hielt ihn für den lieben Gott.

Über die Antiautoritären lästerte Elke gerne und in sexuell konnotierter Fäkalsprache. (Später verstand ich, dass sie sich von kindlichen Bedürfnissen bedroht fühlte.)

Zum Beispiel die antiautoritäre Erziehung. Das ist eine Falle, die uns die Bourgeoisie gestellt hat. Und manche sind reingehüpft! Die Bourgeoisie will uns zum Individualismus erziehen. Wir leben im Zeitalter des Untergangs, das ist eine Wahrheit, die die Bourgeoisie nicht umstürzen kann. Dass der Kapitalismus untergehen wird, ist ein ehernes Gesetz der Geschichte. Wir haben ja erst angefangen, die sektiererischen Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten. Aber: Beim Überwinden des Linkssektierertums nicht die Partei vergessen! Der Rechtsopportunismus ist der Hauptfeind der Arbeiterbewegung! Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass eines Tages auch in Deutschland eine revolutionäre Situation entstehen wird. Wir wollen die Massen führen! Die Partei marschiert an der Spitze der Massen. Wir sind die einzige wahrhafte Partei der Arbeiterklasse.

Klaus opferte sein Leben uns Kindern. Elke schaffte das Geld ran. Als sie weg war, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich um uns zu kümmern und weiter Mama zu spielen. (Und ich weigere mich bis heute, Danke zu sagen.)

Einmal stieß ich in der Nacht auf ihre nackten Körper. Klaus war durch eine chronische Hüftentzündung in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Elke unterstellte ihm verächtlich, dass er seine Symptome nur vorschob.

Meine Mutter badete mich in der Kultur der Verachtung. Sie stählte mich in ihrem Misstrauen und ihrer Angst, die sie so überzeugend als Wut tarnte.

Meine streitenden Eltern. Meine Trommelfelle übersät von Narben. Eitrig, entzündet wehrten sie die grausame Sprache ab, wollten nicht hören, aber hörten doch.

Elke war, tief, sehr tief in ihrem Inneren, sanftmütig. So streichelte sie einmal heimlich meine Ratte August, küsste sie auf die Schnauze, setzte sie sich auf die Schulter, sprach zärtlich mit ihr. Als ich mich im Türrahmen zu erkennen gab, warf sie August in den Käfig und schimpfte ihn ein beschissenes Drecksviech.

Nach jedem ihrer Ausbrüche: Flucht vor sich selbst, Türschlagen und um den Block gehen, stundenlang. Am nächsten Morgen wieder Witze auf den Lippen. Ihr Zorn, ihre Wut, die hatten einen Ursprung, der strahlte und strahlte. Je vehementer sie diesen Ursprung verleugnete, desto stärker strahlte er.

Mein Vater Klaus hingegen spezialisierte sich darauf, gewaltvoll zu schweigen. (Der Arme hat kein Bewusstsein über seine Taten, hält sich für ein Opfer und gleicht darin ganz seinem Vater, doch davon will er nichts hören, vor allem nicht aus meinem Mund. Seine Erzählung funktioniert für ihn nicht mehr, wenn ich ihm widerspreche. Er sagt: »Ich bin ein emanzipierter Mann. Ich war ein aufopferungsvoller alleinerziehender Vater.« Ich sage: »Du warst ein übergriffiges Wrack.«)

Mein Vater schwieg über jeden Schmerz hinweg. Er schwieg über das Echte und sprach umso mehr und unaufhörlich über all das Falsche. Er plapperte und plapperte, wie das Wasser läuft, wenn man den Hahn aufdreht. Im Reden hielt er sich die Gefühle vom Leib, die unendliche Traurigkeit, einsam und verlassen zu sein. (Nach der Trennung meiner Eltern blieb Klaus verlassen.) Und er setzte mich auf seinen Schoß und umklammerte mich, um nicht allein sein zu müssen, bis ich ihm schwor: »Ich werde nie von dir gehen.« Und er ließ mich nicht gehen. Er gab mich nicht frei.

Meine Geschwister gingen in die Schule und ich saß unter dem Tisch meines erfolglosen Vaters, der sich damals noch für einen möglichen Autor hielt. Elke fand es grundfalsch, dass Klaus mich daheim behielt und so meine Neurosen züchtete. (Darüber musste Klaus lachen. Sein Großvater hatte ihm beizubringen versucht, wie man Rosen züchtet, doch das Einzige, was er gelernt hatte, war die Fähigkeit, Neurosen in seiner Jüngsten wachsen zu lassen.)

Ich durfte keine Geheimnisse vor ihm haben und nicht anders denken als er. Wenn ich ihm widersprach, wurde ich zu seiner Feindin und er zog alles von mir ab, was ich Liebe nannte. Dann wurde er kalt und gehässig. Drei Töne aus tiefster Kehle: Ä, ä, ä.

Ich bin die Jüngste und alle wissen, die Jüngsten sind im Grunde narrenfrei. Keiner nimmt sie ernst, keiner glaubt ihnen, keiner traut ihnen etwas zu. So leben sie im Erwartungsschatten und mit etwas Glück, bei robustem Gemüt, können sie sich frei entwickeln. Frech werden und verhasst, so wie ich.