Ich kann mich nicht sonderlich gut an die Szene erinnern.
Ich erinnere mich an die Kacheln unseres Küchenfußbodens: schmutzweiße, leicht gewölbte Steinquadrate mit grauen Fugen. Ich erinnere mich an die Kacheln an der Wand: holländische Windmühlen und Schiffe in Preußischblau auf Elfenbeinweiß. Ich erinnere mich an die Eckbank, die Kissen mit gelbem Bezug, an das staubfettige Radio, den Blick aus dem Fenster, die Oberfläche unseres Küchentisches.
Die Erzählung meiner großen Schwester Iris überlagert meine Erinnerung. Triumphierend zitiert sie immer wieder, was ich angeblich gesagt habe im Anschluss an die Rede. (Ich will es nicht wiederholen.) Als wäre damit irgendetwas klar.
Ich denke, Elke stand, als sie die Rede hielt. Ich bin mir sicher, dass Klaus schwieg.
Die Familienansprache zum Anbruch der neuen Zeit hieß: »Über die Unnötigkeit zu trauern.« Elke arbeitete darin heraus, dass sich im Grunde nichts ändern würde. Sie würde zwar zukünftig abwesend sein, doch trotzdem sei sie immer »da«. (Wie ließ sich das mit ihrem historischen Materialismus verbinden?) Die Trennung der eigenen Eltern möge auf den ersten Blick wie ein Unglück erscheinen. Doch sollten wir Kinder uns glücklich schätzen, dass unsere Eltern nicht uns Kindern zuliebe zusammenblieben. Denn damit nähmen sie uns in Geiselhaft und nur das sei traurig.
Klaus hatte mir wenige Monate zuvor versprochen, dass dies nie geschehen würde. Sein Wort war Butter.
Für Elke war es ihr zwanzigster Parteitag. Sie verriet unsere Familie, so wie Chruschtschow 1956 Stalin verraten hatte. (Dabei wollte Elke an Stalin nichts verwerflich finden.) Es war der zweite Weihnachtsfeiertag 1990. Statt Empörung unter den Genossen brach ich in Tränen aus. (Stimmt so nicht.) Iris, als 1. Generalsekretärin, schrieb Elkes Argumente innerlich mit. Sie würde die neue Linie der Familie in Elkes Abwesenheit verteidigen. Erst viel später verstand sie, dass es keine Familie mehr gab und sie hier mit uns gefangen war. Mit der verachtenswerten Klaus-Aki-Karolina-Clique. Mein Bruder Aki las einfach weiter oder tat wenigstens so. Noch im Rausgehen schaute er in sein Buch.
Der These folgend, man könne Schmerz umgehen, indem man den Abschied auslässt – wie damals, als sie meine Ratte plötzlich heimlich fortschafften –, verschwand Elke und mit ihr die Hälfte des Inventars sang- und klanglos, während wir in der Schule waren. Und dann war sie weg. Elke. (Mama hatte ich sie nicht mehr nennen dürfen seit einem Vorfall mit vier.)
Ich nährte mich noch lange vom alten Vokabular meiner Mutter. Ich klammerte mich an ihre Sprache. Ich übernahm ihre Denkfiguren: Misstrauen, Verachtung, Idealisierung. Ich vermisste sie so sehr, hatte aber keine Worte für mein Gefühl. Meine Trauer durfte nicht sein.
Erzählungen meiner Mutter:
– »Ich laufe durch die Innenstadt. Da kommt dieser Scheiß-Akkordeonspieler und quäkt mir alte Revolutionslieder ins Ohr. Der will eine Taste in mir drücken. Mit seiner manipulativen Musik. Ich hab ihm einen Schein in die Hand gedrückt, dass er mich in Ruhe lässt.«
– »Sie hat sich vom Optiker eine Brille andrehen lassen. Ab da ging es bergab mit ihren Augen. Kein Wunder!«
Glaubenssätze meiner Mutter:
– »Hilfsmittel ebnen der Verweichlichung den Weg.«
– »›Hilfe annehmen‹ ist das Deckwort für ›sich abhängig machen‹.«
– »Hilfsangebote sind nur getarnter Verrat.«
– »Alleine kämpfen, niemandem vertrauen.«
– »Es aus eigener Kraft schaffen.«
Eine der fundamentalsten Geschichten meiner Mutter lautete: Ich bin kein Opfer. Nichts kann mich brechen. Ich lebe selbstbestimmt. Sie sprach ihre Gefühle hinfort. Sie empfand die Ideologie, die sie vertrat: Wenn ich nicht schwach sein will, dann bin ich es nicht. Geschichte ist immer die Geschichtsschreibung der Sieger und ich bin der Sieger über meine Geschichte. Ich habe mein Leben in der Hand und wer mir was anderes erzählen will, der kann mich verdammt noch mal am Arsch lecken. Okay?
Sie war meine Heldin.
Sie war grausam. Brüllte rum. Ließ einen alleine. Beachtete einen nicht.
Meine Mutter war ein harter Hund.
Die Ideologie der Schneiders lautete: Wir sind besonders. Wir sind anders als die anderen. Wir sind besonders intelligent. Wir sind besonders stark. Wir lassen uns nicht manipulieren. Wir fallen nicht auf Quacksalber herein und Seelenklempner. Wir verachten die Dummen und die Schwachen. Wir lassen uns von keinem was vorschreiben. Wer uns kritisiert, hat keine Ahnung. Was uns stört, schneiden wir ab.
Elke forderte von mir, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper zu sein. Und ich versuchte es, oh ja. Es gelang mir über Jahre. Bis zum Zusammenbruch.
Wir lebten ab da in Grau, als würden die Ölquellen brennen. Klaus war oft stumm. Dann suchte er körperliche Nähe und wärmte sich an mir. Manchmal heulte er und tat so, als sei ich traurig und müsse getröstet werden. Meine Schwester Iris versuchte, Elkes Platz einzunehmen. Sie kopierte ihre Rhetorik. Die Heldengeschichten. Die Verachtung. Aber es blieb doch ein vulgärer Abklatsch. Bald begann sie, in Elke-Manier verächtlich über Elke zu sprechen. Sie übte sich auch im Gute-Laune-Aktionismus und Klaus zog bisweilen mit. Die beiden hatten seit der Scheidung diese irre enge Beziehung und besprachen in endlosen Telefonaten auch nach Iris’ Umzug nach München alle Aspekte ihrer beiden Privatleben. Die Gespräche von Iris und Klaus hatten einen gewissen Suchtcharakter. Ich habe sie oft belauscht. (Daran war natürlich nichts problematisch, Miss Selbstgerecht.) Mein armer Bruder Aki rutschte währenddessen langsam ab. Er rasierte sich den halben Kopf, hüllte sich in schwarze Stoffbahnen und begann, sich intensiv mit Feuerritualen zu beschäftigen.
Ich seilte mich immer öfter in die Schwimmhalle ab, träumte davon, eine Olympionikin zu werden. Alle lachten mich aus. Sie ahnten nicht, dass mein Ehrgeiz von Rache befeuert wurde. Ich würde Elke in die Welt folgen und wieder mit ihr zusammen sein.
Ich trainierte viel und galt bald als Talent. Iris zischte, wenn sie mich beim Träumen erwischte. Sie setzte auf linke Positionen und vielleicht eiferte sie dabei aus demselben Motiv nur mit anderen Mitteln auch Elke nach …
Klaus und Elke hatten sich scheiden lassen. Warum die Ehe auseinanderging, wissen wir bis heute nicht mit Sicherheit zu sagen. Klaus eröffnete uns, es war wohl im Januar 1992, dass sie sich trennen wollten. Ein Zusammenleben sei nicht mehr möglich. Es war für uns nicht fassbar, denn Weihnachten hatten wir alle in schöner Harmonie und Fröhlichkeit gefeiert, ohne im Geringsten zu merken, dass sich das Verhältnis zwischen Klaus und Elke geändert hatte. Wir mussten die Entscheidung der beiden zur Kenntnis nehmen. Wir haben auch nicht versucht, Klaus zu bedrängen, da wir den Eindruck hatten, dass er nicht darüber sprechen wollte. Ein Gespräch mit Elke, zu der wir eigentlich ein gutes Verhältnis hatten, erübrigte sich somit. So schwer es für uns war, wir konnten nichts an der Entscheidung der beiden ändern, vertrauten nur darauf, dass sie alt, klug und erfahren genug waren, sich der Verantwortung für die Trennung bewusst zu sein. Die größten, vor allem seelischen Probleme fürchteten wir natürlich für die Kinder, aber – von heute zurückblickend – glauben wir, sagen zu können, dass die Kinder ohne bisher erkennbare Schäden die Trennung verkraftet haben. Sie halten Kontakt zu ihrer Mutter und haben, so sehen wir es wenigstens, mit ihrem Vater – und die drei Geschwister untereinander – ein gutes Verhältnis. Alle bei Ehescheidungen oft üblichen äußeren Schwierigkeiten sind, so weit für uns erkennbar, mit Anstand und Würde gelöst worden. Die Scheidungsformalitäten verliefen ohne für uns erkennbaren Zank und Streit. Wie es innerlich aussieht, wissen nur die Betroffenen. Wir können nur das Beste wünschen.
Klaus leugnete, dass es ihm schlecht ging. Er erlaubte sich keinerlei Reflexion seiner Lage. Dass er aus dem Himmel gefallen war, merkte er nicht. Er wollte nichts spüren und versuchte, mit aller Kraft zu verdrängen.
Klaus weigert sich bis heute, zu erinnern. Er kann nicht über Elke sprechen. Alle meine Fragen wischt er weg. Du darfst nicht erinnern – das Estorsche Erinnerungsverbot, Erinnerungstabu. Klaus bleibt seinen Eltern verbunden. Er hält sich für ihren Kritiker und pflegt doch ihre Tradition. Du darfst nicht erinnern. Die Geister der Vergangenheit sind gefährlich.
Seine Gereiztheit, seine hinter stumpfem Blick verschüttete Trauer, seine Grobheiten (Depressive sind auch aggressiv), die Kälte – mussten wir hinnehmen. Er war unsere einzige Bezugsperson.
Es war Klaus peinlich, dass Elke fort war. Er brauchte einen Mythos, der ihn sein Gesicht wahren ließ. Einen Opfermythos. (Genau wie Oskar hat Klaus nie einsehen wollen, was er selbst dazu beitrug.)
Nach der vernichtenden Niederlage waren die Deutschen zentral in ihrem Selbstwert getroffen. Die Abwehr des Erlebnisses einer melancholischen Verarmung des Selbst war daher zunächst die dringlichste Aufgabe der Psyche. Eine in ihrem Wahn bloßgestellte, der furchtbarsten Verbrechen überführte Bevölkerung, die sich im weitesten Sinne des Wortes von Traumata und Zerstörung umgeben sah, war so geschockt, dass sie sich zunächst nur um sich selber kümmern konnte. Die Naziperiode wurde derealisiert, sie verschwand wie ein Traum.
Meine Mutter hingegen bestand darauf, Täterin zu sein, weil sie die Opferrolle hasste. Auf den Tod hasste und verachtete. Hätte sie sich in die Opferrolle gefügt, wäre sie schon als Kind gestorben. Hätte zusammen mit ihrer Sehnsucht nach Liebe und Trost vierjährig auf der Isolierstation im Krankenhaus sterben können. Aber sie starb nicht, sondern schwor Rache. Sie lernte ihren ersten Leitsatz: es allen zu zeigen. Immer und überall.
Sie lernte Nichtschwachseindürfen. Lernte Sätze, die Richtung haben müssen, um anerkannt zu werden. Sprache, die die Funktion hat, den Sieg zu verkünden über den Tod. Wir leben, also haben wir glücklich zu sein.
Ich lernte früh, mit Menschen zu brechen. Es gab nicht einen Bruch, es gab immer wieder neue Brüche in meinem Leben. Der Abbruch – das typische Muster. (Kann ich je wieder etwas kitten? Einen einzigen all dieser Brüche wieder zusammenfügen?)
In Phasen brach ich lustvoll mit Menschen. Die Freiheit nach dem Bruch, ich atmete Unbesiegbarkeit. Ja. Ich war stolz darauf, nichts zu empfinden. Ich war nicht sentimental, konnte die Richtung wechseln, sooft ich wollte.
Bleib gebunden, Schmerz, und werde nicht zu Sprache, sonst kommst du wieder zur Welt. Bleib gebunden im unbewussten Boden. Nimm Gestalt an, werde endlich erkannt, zu Sprache, und ziehe als Wolke dahin und vorbei.
Heute sehne ich mich nach deiner Liebe. Zärtlichen, verständnisvollen Worten. Als Kind wusste ich nicht, dass ich sie vermisse. Ich kannte keine liebevolle Nähe. Nähe zu dir war immer vergiftet durch grelles Anerkennen, Herausheben, Bewundern. Das war, was dir einfiel, wenn du nett sein wolltest: mich für meine Leistung, meine Talente zu loben. Der Abstand zu den anderen war nötig. Ich war dann stolz. Wusste aber, dass ich ohne Besonderheit nichts wert sein würde. Was könnte ich für dich sein, wenn ich ohne Talent und Begabung wäre?
Es war deine Art zu sagen: Ich liebe dich. In deiner Sprache, die mit Gefühlen nur mittelbar in Berührung kam. Du konntest nie über ein Gefühl sprechen, weil du es nicht erkanntest. Es galt für dich nicht, du wolltest es nicht wahrhaben. Du verachtetest den Schmerz und wurdest so Herrin über ihn. Um welchen Preis? Du entkamst ihm, aber du musstest dich dafür von deinem eigenen Kern trennen. Du tratst den Beweis an, jedes Gefühl zu bezwingen. Du hast gewonnen. Immer wieder. In jeder Beziehung hast du den anderen Menschen besiegt. Es war unendlich traurig, deinen Siegesfeiern beizuwohnen. Du leugnetest deine Einsamkeit.
Hättest du irgendwo abbiegen können? Bist du abgebogen? War es deine Rettung, uns zu verlassen? Du warst doch in Sicherheit, danach. Keine Gefahr mehr für dich und uns.