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Düsseldorf, Ostern 1995. Mein zweiter Einsatz für die Jugendnationalmannschaft unter Valeska Schatz. Ich galt als Mannschaftsfloh und Maskottchen, war mit Abstand die Jüngste und Kleinste. Kurz vor dem Pflichtwettkampf bekam ich Heimweh. (Klingt unplausibel, aber so war es.) Ich rief zu Hause an und sofort war klar, dass alles aus den Fugen geraten war. Mein Onkel Richard ging ans Telefon. Ich fragte: »Warum bist du bei uns?« Er reichte den Hörer weiter an meinen Vater. Meine Mutter war im Hintergrund zu hören. Ich erkannte sie daran, wie sie durch die Zähne ausatmete. An ihren wütenden Schritten. Schließlich stieß sie einen unverkennbaren Laut aus. »Warum ist Elke bei uns?« Mein Vater behauptete, ich hätte mich verhört. Es sei alles in Ordnung. Er log mir direkt in den Kopf. Gaslighting. Ich hatte damals keinen Begriff für die Gewalt, die er mir damit antat. Klaus beteuert bis heute, er habe es gut gemeint und mich schonen wollen. Ich hängte auf und war wie abgeschnitten.

Ich nehme an, dass mein Bruder während meiner Abwesenheit endgültig durchgedreht war. (Bis heute hat nie jemand mit mir darüber geredet.) Wochen vorher hatte er angefangen, die Wände in seinem Zimmer mit Chinatusche schwarz anzumalen. An seltsamen Orten in der Wohnung fanden sich immer öfter kleine Zettel, auf die er schreiende Botschaften gekritzelt hatte. Einmal fand ich zum Beispiel einen im Zimt: »DIE ELTERN ERSTICKEN DIE KINDER, WEIL IHR STINKENDER ATEM DEN NEUEN GEIST TRÄGT.« (Klaus war seit Jahren chronisch von Aki genervt gewesen. »Als hätte ich nichts Besseres zu tun, als mir von einem pubertierenden Jugendlichen auf der Nase rumtanzen zu lassen.«) Sein Bettkasten war zu einem Hort leerer Wodkaflaschen gewachsen. »Weißt du, man kann es nicht riechen, wenn einer Wodka trinkt«, hatte er mir im Herbst zuvor noch mit seiner geduldigen, gütigen Stimme erklärt. »Ich kann es riechen, wenn du am Morgen Wodka trinkst.« »Ja, du. Du zählst ja auch nicht.« Mir war er bis fast zum Schluss sehr liebevoll begegnet. (Du idealisierst ihn. Du brauchst die Spaltung. Böse Iris – guter Aki. Aber du weißt, dass das nicht stimmt.)

Für einen Samurai-Krieger hatte er sich gehalten, viel Zeit investiert, das lautlose Anschleichen zu üben, und schließlich war er mit einem scharf geschliffenen Schwert nach Hause gekommen. Kurz bevor ich mich auf den Weg nach Düsseldorf machte, lauerte er mir damit hinter der Tür auf. Ich stand in einem neuen Badeanzug vor dem Spiegel und übte Bewegungsabläufe meiner Solokür. »Eitel bist du und verlogen!« Ich schaute in seine fremden Augen und erwartete meine Exekution.

Ich schwamm einen grottenschlechten Wettkampf und meine Chance, diese Saison für die Jugendweltmeisterschaft nominiert zu werden, schwand.

Aki war verschwunden, als ich aus Düsseldorf nach Hause kam. Klaus’ Bruder Richard hatte Aki eine Überweisung in die Klinik geschrieben, doch Elke hatte ihr Veto eingesetzt und ihn mit nach Zürich genommen. (Elkes Wohnorte entfernten sich immer weiter von uns. Als Nächstes würde sie auf den Mond ziehen.)

Jetzt war ich mit Klaus allein.

Ich versuchte, mit ihm zu sprechen.

»Ich habe Angst, dass ich auch verrückt werde.«

Er sagte, dass ich ganz normal sei, dass ich nicht so ein Drama machen solle, dass es ausnahmsweise einmal nicht um mich ginge.

Ich lernte, dass mein Vater in der Not keine Hilfe ist.

Ich leide wieder unter Konzentrationsschwäche. Mein Blick hält Geschriebenem nicht stand. Ich flüchte springend, stürze mich von Punkt zu Punkt. Die Gleichzeitigkeit von Unruhe und Leere. Das Gefühl, mich nicht verbinden zu können, abgetrennt und einsam zu sein. Dabei geht es um alles. Meine Biografie, meine Geschichte, mein Leben. Gelingt es mir nicht, meine Geschichte zu formulieren, einen Sinnzusammenhang zu schaffen, so gehe ich unter. So unterwerfe ich mich der Prophezeiung meines Vaters, eine Kranke zu sein.

Vielleicht war es fatal, dass Elke verhinderte, ihn in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Vielleicht war es fahrlässig. Vielleicht war es eine Gnade.

Elke fuhr mit Aki in die Berge. Dort verbrachten sie zwei Wochen auf einer Alm ohne Strom und fließend Wasser. Angeblich sperrte sie ihn in den ersten Tagen ein, vielleicht fantasiere ich mir das aber auch bloß zusammen. Als Elkes Jahresurlaub aufgebraucht war, setzte sie einen Vertrag auf, den Aki unterschreiben musste. Er verpflichtete sich darin, sich »an die Regeln zu halten«. Natürlich haute er sofort ab. Erst Monate später schickte er ein Lebenszeichen. Aus Lappland. Im Grunde ist er bis heute ein Phantom geblieben.