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Vielleicht wäre mir das Kommende erspart geblieben, wenn ich damals beim Nominierungsendausscheid in Köln nicht aufgegeben hätte. Mich nicht wie tot hätte treiben lassen. Auf dem Wasser. Zumindest hätte ich nicht so dramatisch tun müssen. Ich konnte nicht mehr, ja. Aber ich war nicht bewusstlos. Es war mir bloß zu peinlich, einfach so aufzugeben. Ohne den simulierten Schwächeanfall. (Warum habe ich mich nicht durchgebissen? Valeska Schatz wollte mich in der Mannschaft haben. Sie hat an mich geglaubt.) Ich wurde nicht für die JWM in Québec nominiert. Ein beschämender Sommer stand mir bevor. Klaus und ich alleine auf Gomera. Dann dieses Lager der Sozialistischen Jugend in Südfrankreich, für das ich eigentlich zu jung war. Kinderschutz war kein Wert von Bedeutung in der Sozialistischen Jugend. In mir sah niemand ein schutzbedürftiges Kind.

Heiko war für ein Jugendlager zu alt, obwohl er dem Jungen auf der Kinderschokolade ähnlich sah. Der Scheitel und die weißen Zähne. Doch er war dunkler. Seine gebräunte Haut bedeutete ihm viel. Ich litt damals unter der Angst, an Hautkrebs zu erkranken, und trug auch bei Hitze einen langen Kapuzenpulli. Heiko würde sich schon bald über meine irrationalen Ängste lustig machen und danach zog ich den Pulli aus. Er war sieben Jahre älter und er sprach abfällig über Aki, verriet mir Akis geheimen Spitznamen. (Ich habe diesen Spitznamen nie benutzt.) Spätestens da hätte ich Heiko ins Gesicht spucken müssen, ihn verächtlich abwerten. Ihn beschämen. Ich konnte das doch eigentlich. Er machte mir ein Kompliment, das auf einer Beleidigung des von mir am meisten geliebten Menschen auf der Welt beruhte. Er strich irgendeinen Vorzug an mir heraus, der mich gegenüber meinem Bruder abhob, und ich verriet meinen Bruder Aki im geöffneten Türrahmen eines gelben VW-Busses. Ich weiß nicht mehr, ob ich im Bus saß und hinaus in die Sonne starrte oder ob ich draußen im Licht stand und nach innen guckte. Doch. Ich erinnere mich. Der Hell-Dunkel-Kontrast. Ich schaute nach Innen. Tag und Nacht. (Sicher konstruiere ich hier. Ich flüchte mich in Ästhetik.) Ich genoss die Aufmerksamkeit. Wollte ich mich an Aki rächen? Weil er weg war und ich nicht? Ich spürte vielleicht, dass es falsch war. Aber Aki war weg.

Ich mochte Heiko nicht. Ich entschied mich für ihn.

Ich sage meinem Vater ins Gesicht, was damals geschehen ist: »Ich war 14. Er schlief mit mir. 21-jährig. Das ist eine Straftat, sofern die Jugendliche nicht sexuell selbstbestimmt handelt, und ich war nicht sexuell selbstbestimmt.« Seine Augen sind grau. Er schaut mich an, aber er sieht mich nicht: »Ich wusste das ja nicht.« (Er wusste das ja nicht.) »Aber ich war 14. Warum hat es dich nicht gekümmert, mit wem ich gehe?«

Du hast doch sowieso immer gemacht, was du willst.

Das wird er jetzt sagen. Ich weiß es schon vor ihm. Er sagt es nur mit seinen Augen. Widerwillig schüttelt er den Kopf. Er hält den Satz zurück. Aber ein anderer fällt ihm immer noch nicht ein.

Ich war die emotionalen Verrenkungen gewöhnt. Nicht unterscheiden zu können zwischen angenehmen und unangenehmen Gefühlen. Zwar unterscheiden zu können, aber unfähig zu sein, die unangenehmen Gefühle abzulehnen, mich gegen sie zu entscheiden, von ihnen wegzugehen. Das Bild von mir im Außen hatte mehr Wert. Die Idee vom Gewinn durch die Situation. Mein Gefühl war ganz unwichtig. Ich ging früh ins Training der Gefühlsverdrehung.

Das Gefühl der Lähmung. Mich nicht wehren zu können. Gegen Berührungen, die ich nicht will. Gegen Situationen, in denen ich feststecke wie in einer Felsspalte. Die Lähmung hat viele Gesichter. Auch im Lachen kann sie sich zeigen. Auch im Sprechen. Sie richtet sich gegen das Gefühl. Die Lähmung ist immer ein Zurückhalten des Gefühls. Eine Verkleidung des Gefühls.

Ich erzähle Klaus, was die Dame der Beratungsstelle mir gesagt hat: »Warum hat Sie niemand geschützt?« (Aus meiner Antwort ging hervor, dass ich bereit war, ihn bis heute zu schützen, sein Verhalten zu entschuldigen.) »Mein Vater war nach der Scheidung schwer depressiv.« »Sie wissen, dass wir Kinder in solchen Fällen aus der Familie nehmen?« Ich verstand den Satz der Beraterin falsch, bezog ihn sofort auf mich, übernahm eine vermutete Schuld und interpretierte ihre eigentlich mitfühlende Bemerkung als Drohung: Mein Kind könne mir weggenommen werden. Als sich das Missverständnis aufklärte, brach ich weinend zusammen. Verstört. Erleichtert. Ungläubig.

War vielleicht doch nicht ich selbst an allem schuld, was ich erlebt hatte? War ich mit vierzehn vielleicht doch nicht so schrecklich frühreif gewesen, wie mein Vater stets behauptet und damit suggeriert hatte, ich hätte mich jeder Erziehung durch ihn entzogen?

Auch Elke hatte an dem Mythos mitgestrickt: Wir seien stark und selbstständig und gingen unserer Wege.

Das Hochbett in der ausgefrästen Deckenverkleidung. Darauf Henry Millers Opus Pistorum, in dem ich las, wenn er sonntags nach dem Club zum Fußballspielen ging. Falls seine Mutter klopfte, bewegte ich mich nicht. Ein Funkwecker stand da. Den starrte er an, wenn er nackt seine Liegestütze machte. Dünn und kurz war sein Zeigefinger. Meine Potenz frustrierte ihn. »Eines Tages wirst du eine umwerfende Frau sein.« (Habe ich mich deshalb all die Jahre selbst sabotiert: um seine Prophezeiung nicht wahr werden zu lassen?) Stolz führte ich sein Foto im Portemonnaie und erzählte allen Schwimmkameradinnen, dass er einundzwanzig sei.

Ich war missbraucht worden, ich hatte keine Worte dafür und niemanden, der es glaubte. Ich hielt den Missbrauch für Liebe. Den Makel, der darin bestand, dass ich die Sexualität mit einem erwachsenen Mann nicht genießen konnte, den Makel suchte ich in mir, ich hielt mich für den Makel, ich war mir ein Makel.

Scham über mich selbst. Mir fehlte das Wort dafür. Erst als ich meine alte, meine beste Freundin wiederfand, nach über zwanzig Jahren, konnte sie es mir erklären. Sie sprach von ihrer Scham, die verhindert hatte, eine ähnliche Gewalt auszusprechen. Die Scham hatte ihr eingeflüstert, sie müsse es ertragen.

Nackt neben ihm im Bett stellte ich mich manchmal tot, um zu prüfen, ob er es bemerkte. Ich atmete nicht mehr, zitterte, lag deckenlos, bis ich ausgekühlt war.

Ich habe mehrfach versucht, mit Klaus über seine Sexualität zu reden. Nicht, weil ich es wollte, aber weil ich es für notwendig hielt. Es gab doch keine Alternative für uns, als dass wir unsere schreckliche Beziehung an einen Punkt brachten, in der wir uns in Frieden gehen lassen konnten. Doch jeder neue Versöhnungsversuch scheiterte schlimmer als der vorangegangene.

Wir besuchten gemeinsam eine Teufelsaustreibung. Um die Dämonen zwischen uns zu besänftigen. (Ich bin nicht stolz drauf.) Klaus hatte seine esoterischen Phasen und ich auch. Die »Behandlung« kostete einen Haufen Geld und bewirkte zumindest, dass wir wieder einmal herzlich miteinander lachten. Vielleicht war für den kurzen Moment wirklich alles in Ordnung, als wir nackt und schwitzend in dieser kleinen Erdsauna saßen und uns gegenseitig mit gewürztem Wasser überschütteten.

Klaus erwähnt irgendwann ganz nebenbei, dass Tante Ingrid ihn als Vierzehnjährigen »mit ins Bett« genommen habe. In den Familienfilmen war mir längst aufgefallen, dass sie ein besonderes Interesse an ihm hatte. Ständig überfällt sie ihn von hinten, umarmt ihn und flüstert ihm etwas ins Ohr. Ob das Übergriffe auf ihn gewesen seien, frage ich. Sein Gesicht wird zur bockigen Maske. Die Arme verschränkt er zum Bollwerk vor der Brust. In diesem Panzer erzählt er mir dann wieder das alte Märchen seiner revolutionären Sexualität. Seine These von befreiter Sexualität als Impfung gegen den autoritären Charakter hat er mir schon oft vorgetanzt. Ich schalte dabei wie immer schnell ab.

Ich hatte Klaus damals erzählt, dass Saras deutscher Stiefvater sie missbrauchte. Klaus wusste sofort: »Das denkt sie sich aus. Ich habe mir auch mal eine erwachsene Freundin ausgedacht.«

Sara, warum habe ich mich dir nicht anvertraut? Du wusstest doch, was es heißt, missbraucht zu werden. Hätten wir uns nicht zusammentun können? Warum zog ich mich stattdessen vor dir zurück?

In unserer Familie werden Geheimnisse gut gehütet. Als könnten sie dadurch reifen, wie in Fässern vor dem Tageslicht geschützt. Natürlich faulen sie bloß. Die Hoffnung, sie könnten verrotten zu nährstoffreichem Humus und Düngekraft entwickeln, muss enttäuscht werden: Sie düngen allein die vererbten Traumen.

Warum sprichst du erst jetzt? Wer diese Frage stellt, kann sich in eine missbrauchte Seele nicht einfühlen. Versteht nicht den Nutzen von Verdrängung: imstande sein, weiterzumachen. Weitermachen. Aufstehen. (Statt liegen zu bleiben. Reglos. Kommentarlos. Bleischwer. Als stimmiger Ausdruck des Innendrucks, als authentische Geste.) Sprechen. (Statt zu verstummen. Die Sätze verstümmeln, die Worte. Weil intakte Sprache die Zerstörung nicht übermitteln kann.) Arbeiten. (Statt anzuerkennen: Nichts macht irgendeinen Sinn.)

Ich brauchte über zwanzig Jahre, um Sara wiederbegegnen zu können. Bis die Scham in mir, die Scham über mich selbst, die Erinnerung an die Scham keine Macht mehr über mich hatte. Einmal näherte sich Sara dem Wohnhaus meines Vaters, in dem auch ein Bekannter von ihr wohnte. (Klaus erzählte mir oft von Sara. Seltsam prahlend. Wusste er doch, dass ich keinen Kontakt mehr zu ihr hatte.) Ich sah sie kommen und sprang ins Gebüsch. Mit zitterndem Herzen. Und sie ging an mir vorbei.

Warum sprichst du jetzt? Diese Frage enthält den Subtext: Warum schweigst du nicht für immer?

Weil ich es damals nicht wusste und nicht glauben konnte. Ich wollte die Beziehung zu Heiko um jeden Preis. Ich hielt es für eine Auszeichnung, dass er mich WOLLTE. (Fear-Fact: Mein Vater beschrieb mit denselben Worten, was er empfand, als meine Mutter IHN wählte.)

Mein Vater ist nicht das Objekt meiner Begierde. Ich empfand ihn als drohenden Berg, dabei ist er ein Sumpf. Ich brauche mich nicht vor ihm zu ducken, ich muss mit Brettern an den Füßen über ihn waten. Ich muss Sicherheitsvorkehrungen treffen. Ich muss mich ihm stellen. Solange ich mich vor ihm verstecke, ist die Macht ungebrochen. Nicht seine Macht über mich. Meine Fantasie seiner Macht in mir. Ich stellte mich später meinen Erinnerungen an Heiko, um nicht länger von ihnen bestimmt zu sein. Um mein Vermeidungsverhalten ablegen zu können und nicht länger von Heiko bestimmt zu sein. Vorsätzlich triggerte ich meine Erinnerung täglich fünf Minuten lang. Über mehrere Wochen. Roch an der Creme, die er benutzt hatte. Spielte die Kassette, die er mir aufgenommen hatte. Starrte auf sein Bild, das ich allen so stolz präsentiert hatte. Der Prozess der Desensibilisierung war schmerzhaft und therapeutisch vermutlich verantwortungslos. (Ich arbeitete mich durch ein Selbsthilfebuch.) Der Effekt war befreiend.

Ich bin unsicher. Ob ich gehen oder bleiben, sprechen oder schweigen soll oder muss oder darf. Was will ich? Ich weiß es nicht. Was ist richtig? Welche Instanz gilt für mich? Unsicher bis tief in die Syntax.