Oma Ilse Schneider sperrte Elke als Kleinkind weg, wenn sie abends ausgehen wollte. Regelmäßig. Einmal befreite Elke sich, indem sie im Schlafanzug aus dem Fenster kletterte und die Mutter in der Stadt suchen ging. Wo sie sein sollte, war sie nicht.
Opa Fritz Schneider wurde Schließer in der JVA Runkel. Elke selbst saß zwölf Monate in Haft.
Ich sperrte meine Erinnerungen weg. Zunächst behelfsmäßig in einen schmalen Wandschrank, gegen dessen Tür ich meinen Rücken drückte. Das Schloss schloss aber nicht recht, es blieb im Schrank nicht ruhig, es schrie heraus und stresste mir in den Nacken. Mithilfe professioneller Unterstützung schaffte ich mir bessere Gefäße an, um die Erinnerungen zu verschließen.
Heute dürfen sie manchmal heraus, sich zeigen und strecken, zum Bild werden und ihren Anspruch auf Teilhabe äußern, am Ganzen. (Schließlich ist ständige Auflösung kein Zustand. Auch ich habe das Recht auf einen roten Faden, auf ein zuverlässiges Erscheinungsbild.) Oft drängen sie sich jedoch feist und ungefragt ins Leben und kratzen das Unverdächtige kaputt.
Ich will nichts wegsperren, wenn ich ehrlich bin. Doch die existenziellen Spannungszustände, in die mich alte Traumen bis heute versetzen können, beanspruchen mich zu sehr. Wenn sie nach mir greifen, muss ich sie ernst nehmen und aushalten, sie durcharbeiten und ganz verstehen. Das ist eine raumgreifende, schmerzhafte Aufgabe. Jedes Mal, wenn es mir gelungen ist, sie zu überstehen, tröste ich mich mit der Fantasie, in Zukunft ganz sicher nie wieder von den Abgründen der Vergangenheit eingeholt zu werden.
Aber auch die Traurigkeit, diese harmlose kleine Schwester, kann ich nicht immer gebrauchen. Vor Kindern will ich nicht zerfließen. Vor den Nachbarn nicht. Nicht auf der Post. Nicht im Zug. Manchmal geschieht es mir doch und immer weine ich gerne, weil es ein Gefühl ist, und zwar ein selbstbestimmtes, eins, in dem ich führe und mit mir bin und in mir. Weinend kann ich immer lachen.
Wer das nicht kapiert, hat vielleicht nie Gefühlslosigkeit empfinden müssen, das Abgetrenntsein von sich und jedem Menschen und allen Gefühlen. Diese Einsamkeit ist besonders schlimm, weil sie absolut ist und das Ich keinen Standpunkt einnehmen kann, der diese Einsamkeit spiegelt oder relativiert. Die Einsamkeit hat keinen Namen und keine Gestalt. Es gibt keine Bilder, die diesen Zustand in Relation setzen, es gibt keine Farben, keine Totale. Sie ist unerkannt und ein Betrauern oder Bedauern unmöglich. Alles fehlt. Die Gefühlsregungen anderer scheinen fremd und falsch. Ein Tor liegt zwischen mir und der Welt, aber ich weiß nicht, dass mich das Tor von der Welt trennt. Für dieses Ich ist der enge Raum seiner Haft die Welt.
Nach der Vergewaltigung durch X. kam mir alles Reden nur noch sinnlos vor. (Da war ich achtzehn. Las gerade Nietzsche und wir waren auf Interrail in Osteuropa unterwegs.) Wir saßen auf dem Deck der Fähre nach Brindisi. Das Geplapper meiner besten Freundin ging mir einfach nur noch auf die Nerven. Ich hörte auf zu reden. Stattdessen kommentierte ich in meinem Kopf jeden Satz, den ich hörte, mit sarkastischer, rußiger Stimme.
Ich bin heute in Sicherheit und kann frei darüber sprechen. Das erste Sprechen darüber jedoch war eine folgenschwere Tat. Erst durch das Aussprechen wurde die erlebte Gewalt zur Wirklichkeit, dann erst spürte ich den Schmerz. Ein zweischneidiges Schwert. (Schreckliche Metapher.)