Ich trat mit dem Kopf voran durch die Glastür der Rettungsstelle. Kopfwunde. Schleudertrauma. Selbsteinweisung.
Die Patientin kam eigeninitiativ zur Vorstellung in unsere Klinik.
Der Bettenturm am Urbanhafen öffnete mir seine Arme. Sie legten mir eine Krawatte um und ich versprach, brav zu sein.
Glaubhaft paktfähig. Gefährdungsaspekte ergaben sich nicht.
Man führte mich auf verschlungenen Wegen durch den südöstlichen Ausgang zu einem zweistöckigen Backstein-Pavillon aus der Kaiserzeit. Das Krisen-Interventionszentrum umwob eine Ästhetik der Geborgenheit. Ich fühlte mich missverstanden.
Wach, bewusstseinsklar, geordnet, voll orientiert, erhebliche Selbstzweifel und Selbstanklage, die Kriterien des Wahns noch nicht erfüllend, Insuffizienzerleben, keine Halluzinationen, keine Ich-Störung, die Stimmung zwar gefasst, aber im Affekt kaum moduliert, fast starr, verzweifelt, angespannt und unruhig.
Der Geruch der Handseife aus den Spendern neben der Tür würde bis in die Hölle an mir kleben bleiben.
Hintergrund sei, dass sie erhebliche Zweifel an der Eigenständigkeit und vor allen Dingen an der Berechtigung ihres Erfolges im Rahmen ihrer Autorenschaft hege.
Meine Schwester Iris nannte mich pathetisch, als es damals mit meinen Depressionen losging. Kichernd erinnerte sie daran, wie ich als Kind geglaubt hatte, einen Hirntumor zu haben und bald sterben zu müssen. »Du warst schon immer paranoid«, tröstete sie mich.
Mein Vater Klaus verwies mich an seinen Leinenkleider-Therapeuten. Der warnte: »Geh nicht in die Akut-Psychiatrie! Nimm eine andere Tür. Such dir eine gute psychosomatische Klinik.« (Aber wieder einmal entschied ich mich lieber für eine selbstschädigende Handlungsoption.)
Meine Mutter Elke schlug vor, ich könne den Kontakt zu ihr abbrechen. »Vielleicht hilft das?«
Mein Bruder Aki schwieg.
In der Klinik gab es eine nette Ärztin. Frau Mohnkuchen oder Himbeerschnitte oder Donauwelle hieß die. Sie war Anfang dreißig und ich beneidete sie um ihr festes Gehalt und ihre abgeschlossene Berufsausbildung. Ihre Frisur und ihren Kleidungsstil fand ich absolut lächerlich. (Wie ich später lernte, hatte die reflexartige Abwertung aller Menschen die Funktion, mich nicht von ihnen bedroht fühlen zu müssen.) Ich verachtete sie für ihre Naivität und Gutherzigkeit, wie ich es daheim gelernt hatte. Ich hegte starke Aggressionen gegen sie und sagte ihr das auch. Aber Frau Mohnkuchen war nur noch freundlicher und legte sich noch mehr ins Zeug, um mich zu retten. Ich stand ja ganz am Anfang. (Im Frühling war ich ihre Patientin.) Sie legte sich auf den Bauch und langte in den Abgrund hinein, um mich herauszuziehen. Natürlich wollte ich sie bei mir unten haben. Diese Klinik musste der Ort des Verderbens werden, den meine Mutter in ihm sah. Frau Himbeerschnitte gab alles, um mich von meiner Liebenswürdigkeit zu überzeugen. »Sie leiden unter einer schweren Depression.« Ich bestand darauf, dass ich der Teufel sei. Ich konnte das Spiel nicht stoppen. Sie entschuldigte alles, was ich tat. In unserer letzten gemeinsamen Sitzung weinte sie und beichtete mir, dass wir uns ähnlicher seien, als ich für möglich hielt. Sie sei auch einmal depressiv gewesen. Ich lachte sie aus. Danach ließ sie sich an ein anderes Krankenhaus versetzen. Oder beging Selbstmord. Oder bekam ein Kind. Was weiß ich.
Mein eigenes Sprechen das grausamste von allen. (Narzissmus! Oh, berausche dich an deiner Schlechtheit. Das grausamste Monster von allen bin ich! Die Hunde bellen mich an, so hässlich bin ich!)
Ich hielt es mit Groucho Marx. Wer mir zu helfen versuchte, den verachtete ich. (Manche nennen es Tragik. Andere Doublebind. Ich versuchte einfach, meine Mutter nachzuahmen.)
In den Monaten vor meiner Einweisung gab ich alles, um Elkes Schmerz herauszupressen. Hätte sie zugegeben, ein einziges Mal in ihrem Leben der Verzweiflung nah gewesen zu sein, dann hätte ich mich mit meiner Schwäche versöhnen können. Aber sie stritt immer wieder und immer vehementer ab, jemals tiefen Schmerz empfunden zu haben. Nicht, als sie vierjährig isoliert worden war für mehrere Wochen in einem Krankenhauszimmer. Nicht, als sie in Haft gesessen hatte. Nicht, als sie sich von ihren Kindern trennte. Nie und nie. Jede Erzählung ein Lehrstück.
Sie forderte von mir, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper zu sein. Und ich versuchte es, oh, ja. Es gelang mir über Jahre. Bis zum Zusammenbruch. Ich war nicht lebenswert.
Dann kam der Kontaktabbruch. Sie schlug sich mich aus dem Herzen.
Noch im Spätsommer änderte sich der Wind in der Klinik. Ich hatte mich bereits zweimal entlassen. Klaus kam nach Berlin, um mich zu »unterstützen«. Wir klammerten uns aneinander wie Versinkende.
Im Winter fuhr ich wieder ein. Diesmal teilstationär. Die psychiatrische Tagesklinik war in der stilvollen ehemaligen Kapelle untergebracht. Morgenkreis und Mittagessen spielten in der weitläufigen Eingangshalle. Hier hatten sie früher die Leichen aufgebahrt. Ich und meine Mitpatient*innen aber lebten noch. Wir erholten uns von Manien, Psychosen, depressiven Episoden und waren ein komischer Randgruppen-Haufen.
Da weder die Medikamente noch die Therapie wirkten, verlegte ich mich darauf, Kunst zu machen und neue Freunde zu gewinnen. Die Psychotiker waren für beides offen.
Bei Millie nahm ich Klavierstunden. Fridolin zeigte mir die Ölmalerei. Thomas und Geraldine erzählten von ihren Psychosen, ihren Eltern und ihrem Lebensweg. Klara schwieg, aber es war offensichtlich, worüber.
Im Verlauf der Behandlung änderte sich das psychopathologische Bild dahingehend, dass die Patientin in den therapeutischen Beziehungen agierte, in der Stimmungslage häufig wechselte, affektiv zunehmend angespannt erschien, teilweise parathym. So sahen wir eine mitunter fahrige, chaotische Patientin, in Beziehungen teilweise Halt suchend, dann wieder erheblich ablehnend, destruktiv. Insgesamt verhielt sie sich auch Mitpatienten gegenüber distanzgemindert, teilweise in der Stimmungslage hypoman gehoben.
Der Oberarzt hieß Doktor Blumenkohl oder Mischgemüse oder Soljanka. Er diagnostizierte mir eine kombinierte Persönlichkeitsstörung. (Ich ihm eine narzisstische.) Auf eine konkrete wollte er sich nicht festlegen und ich denke, damit tat er gut. Wenn es mir in der Vergangenheit »gut« ging, wenn ich also nicht depressiv, krank, ängstlich war, dominierten die Aspekte der narzisstischen Störung. Mit arschlochhaftem Auftreten stopfte ich das Loch meiner inneren Leere. In Gesprächen stand ich ständig unter Druck, etwas Originelles zu sagen. Ich haute auf die Kacke, so gut ich konnte, um mein Gegenüber bloß zu beeindrucken. Um gemocht zu werden. Gerne wusch ich Schmutzwäsche. Prahlte mit Geheimnissen anderer Leute, die sie mir anvertraut hatten. Damit wollte ich für mich werben als ein Mensch, den andere als vertrauenswürdig einschätzten. Ich wollte Eindruck schinden. Nach jedem Treffen ging ich alle Repliken im Kopf noch einmal durch. Was hatte ich gesagt? War es gut gewesen? Wie hatte der andere es aufgenommen? Und immer, immer überfiel mich im Nachklang der Verdacht, es versaut zu haben. Ein unmögliches, peinliches Bild abgeliefert zu haben. Nicht gut genug gewesen zu sein. Nicht liebenswert im Grunde. (Doch eigentlich war das damals keine Kategorie von Wert.)
Als Schneider läuft man mitunter Gefahr, sich sprechend zu versteigen. In Höhen ohne Geländer. Um dann nachts im Bett zu wiederholen, was man gesagt hat, und sich dafür zu schämen.
Nach dem Kater trat ein anderer Aspekt der kombinierten Persönlichkeitsstörung ins Licht: der histrionische. Einzelne Vertraute, Familienangehörige, enge Freunde oder aktuelle Partner kannten mich auch so: die Bedürftigkeit in Person. Panische Angst vor Krankheit, Tod und Versagen, Zweifel an meinem Wert an sich. Panikattacken mit melodramatischen Auftritten. Hyperventilation. Anrufe mitten in der Nacht. Eine versagende Stimme. Emotionale Erpressung.
Als mein Vater mich besuchte, um mir zu helfen, legte ich mich auf dem Rückweg vom Supermarkt auf den Boden und beschwor ihn, ich könne keinen Schritt weitergehen.
In einem holländischen Coffeeshop glaubte ich einmal, sterben zu müssen, und legte eine große Szene hin. Mein liebsorgender Freund spielte mit und hielt meinen Kopf in seinen Armen, Tränen in den Augen.
Auf einer griechischen Insel war ich einst überzeugt, Diabetes im Endstadium zu haben und vor Ort an akutem Nierenversagen sterben zu müssen. Meine liebe Freundin war sehr empathisch.
Warum ließ ich die Kifferei nicht einfach sein, wenn sie mir doch nicht guttat? (Für Himbeerschnitte war es der Versuch einer Selbstmedikation.)
In der Tagesklinik bäumte sich mein großkotziges Selbst zum (vielleicht) letzten Mal in alter Größe auf: Ich wollte an Weihnachten ein Theaterstück präsentieren. Peter Weiss’ Marat/Sade. Natürlich.
Der Pfleger und die Ergotherapeutinnen fanden die Idee gar nicht soo schlecht. Es müsse aber ein etwas überschaubareres Projekt sein und ich dürfe die Psychotiker nicht einbeziehen.
Ein paar Tage blieb ich im Gespräch und arbeitete an einem braven Konzept. Es langweilte mich aber bald und ich flüchtete in große Fantasien und berauschte mich daran. (Die Niederungen des Klinikalltags, die sedierte Atmosphäre und vor allem der Geruch der Seifenspender deprimierten mich nach wie vor zu Tode. Schwänzte ich einen Tag, bekam ich daheim Panikattacken.)
Mischgemüse brauchte Zuhörer. Visite war sein Genre, der Halbkreis an rangniederen Kollegen passte zu Sprechhaltung und Gestus. Im Zweiergespräch Patient–Arzt versagte er. Zu laut, zu viel Pathos, zu hohles Tönen. Zweiersitzungen waren in seiner Position auch nicht vorgesehen, doch ich hatte es darauf angelegt. Ich hoffte darauf, er könnte mir helfen. (Meine Idealisierung schmeichelte ihm, nehme ich an.)
»Glauben Sie an die Wahrheit? Dann werden Sie diese Krise überwinden.« An dem Satz arbeitete ich mich ab. Zigarette für Zigarette saugte ich ein und führte ein lebhaftes inneres Streitgespräch: Natürlich glaube ich an die Wahrheit. Ich glaube schließlich auch an Gott. Glaubte. Ja. Früher. Es war einmal. Heute glaube ich an Nichts. Und es liegt nicht in meiner Kraft, mir auszusuchen, woran ich glaube. Ich wünschte, ich könnte wieder an die Wahrheit glauben. An Moral und Gewissen und das Gute in der Welt. Nein, ich glaube nicht mal an das Böse. – Hier musste ich ein wenig weinen, was mich rührte und für einen kurzen, winzigen Moment sogar tröstete. Wie einer zerplatzten Seifenblase schaute ich diesem Gefühl hinterher und die Leere danach brachte mich fast um.
Bald fand ich seine Sprüche nicht mehr vielversprechend. Aber ich hätte Mischgemüse nicht dermaßen angreifen dürfen. Ich hätte meine verdammte Fresse halten müssen. (Natürlich hätte ich das. Heute ist mir das klar.) Aber ich hielt es mit der guten Oma Ilse: »Steck sie alle in einen Sack und hau druff. Es wird immer den Richtigen treffen.«
»Er geht in den Puff und diagnostiziert jeder seiner Ex-Nutten eine frühe Störung. Ist bekannt. Mischgemüse und sein kleiner Schwanz. Im Kit-Kat-Club nennt man mich Kissi und Herr Mischgemüse ist mir wohlbekannt.«
Ich hatte ihn verleumdet, seine Kompetenz kritisiert und die Therapie nicht ernst genommen. Ich war bekifft gekommen, hatte eine sexuelle Beziehung mit einem schwer kranken Patienten (Schizophrenie, post-psychotisch) begonnen und meine Medikamente eigenhändig abgesetzt. Ich hatte das getan, was ich immer tat, damit es mir gut ging. Und kurzfristig wirkte es.
Ging es inhaltlich in den Einzelgesprächen zu Beginn der Behandlung noch um differentialdiagnostische Erörterungen im Sinne einer Rationalisierung, erhielt bei zunehmender Regredierung der Patientin der Beziehungsaspekt in vielfältigster Art und Weise besondere Bedeutung.
Es war absurd und es war falsch und es war dumm, aber ich verliebte mich in Ilya, mit Pauken und Trompeten, in der Psychiatrie, und die Verliebtheit gab mir meinen Lebenswillen wieder.
Ilya war blass und grobporig wie ein Blatt Recyclingpapier, als er unsere gute alte Leichenhalle betrat. Seine schwarzen Locken, die blassblauen Augen. Niemals hatte ich einen so traurigen Menschen gesehen. Ich fühlte mich soghaft angezogen.
Er ließ sich auf mich ein. Dass ich mal eine Autorin gewesen war, fand er vitalisierend. Wir fuhren zu meiner Schwester. Ich verstand ihr Entsetzen nicht. Ich verstand nicht, was sie in ihm sah, was ich nicht sah.
Nachdem die Patientin einen sexuellen Kontakt zu einem psychotisch erkrankten Mitpatienten benannte, schließlich eine Wochenendreise mit dem genannten Patienten einräumte, bei der der unter hoch neuroleptischer Medikation stehende Patient am Steuer saß, führten wir ein striktes und eingrenzendes Gespräch bezüglich Distanzminderung und eigen- und fremdverantwortlichen Verhaltens. Hierauf reagierte die Patientin wiederum chaotisch, wenig organisiert, erschien schließlich wiederholt verspätet in der Tagesklinik, erklärte die Behandlung zuletzt als erfolgreich beendet.
Sie warfen mir vor, parathym zu agieren. Zu lachen, obwohl ich verzweifelt war. (Ist übertriebene Härte und Stärke nicht immer Ausdruck von Angst? Wie tief diese auch verborgen sein mag, verschüttet, vergraben oder zugedeckt? Meine Großmutter Ilse Schneider zum Beispiel. Die ihre frivolverächtlichen Sätze durch den Hochzeitssaal peitscht, in der Blüte ihres Lebens, auf dem Zenit ihrer Beziehungsmacht. Deren Lachen schmerzt. Jeden, der ein Herz hat. Aber auch ihr eigenes?
Was geschieht, wenn der Ausdruck dem gleicht, was innen ist. Kongruenz von Gefühl und Selbstäußerung?
Morgens schließt sie Tag für Tag den Salon auf. Ihre Maske sitzt perfekt. Kein Riss im Putz. Im Mauerwerk. Die Kaffeemaschine sprotzt. Ilse schweigt. Ihr Schweigen ist vernichtend, erstickend. Ihre Kundinnen kennen sie so. Leicht entzündlich. Im Grunde völlig ungeeignet für den täglichen Kundenverkehr. Die Verachtung ist vom Mund in den Blick gerutscht, aber im Blick geht der Witz verloren, den man vorher noch versöhnlich finden konnte. Ilse ist unbeliebt. Eine schwierige Person. Zu Hause wird sie wieder weinen und das einzige Mitleid empfinden, das sie für einen Menschen aufbringen kann. Das für sich selbst.)
Medikamentös behandelten wir die Patientin zunächst weiter wie schon zuvor verordnet mit Remergil 30 mg zur Nacht, setzten das Medikament jedoch ab, nachdem die Patientin gestand, es schon zuvor lange nicht mehr eingenommen zu haben. Auch hierin sahen wir eine Bestätigung der eher persönlichkeitsgestörten als neurotisch strukturierten Persönlichkeitsstruktur.
Persönlichkeitsstörungen sind eine sehr unbeliebte Diagnose und gelten als schwer therapierbar. Unangenehme Menschen, die bloß Probleme machen. Ichbezogen, anstrengend, kalt und ohne Einfühlungsvermögen.
Dass ich depressiv sein könnte, schloss ich kategorisch aus. Ich wusste nichts über Depressionen. Mit Elke hielt ich es für eine Alibi-Diagnose der Willensschwachen und Leistungsverweigerer.
Bis zum Frühjahr schlug ich mich in Freiheit durch. Ich warf das Literatur-Preisgeld aus dem Fenster und plünderte die Sparkonten meines Großvaters Oskar Estor, kaufte mir ein Auto, mietete eine teure Zweitwohnung im Stalinbau, deckte mich mit Möbeln, Designerklamotten und Büchern ein. Fridolin und ich hatten als Kalamata und Gurke zwei Ausstellungen. (»Aquarium« ist bis heute verschollen. Gouache mit Flossen auf Leinwand. Vielleicht habe ich es in den Müll geworfen.)
Meine Freundschaften zerbrachen. Die Beziehung zu meiner Schwester lag auf Eis. Der Kontakt zu Elke blieb abgeschnitten. Aki hatte ich vergessen.
Der liebe Ilya hielt meiner Liebe nicht stand. Ich verstand, dass wir nicht nach Argentinien auswandern und eine Familie gründen würden. Ich schämte mich für meine Existenz, aber wusste es nicht.
17. 11. 1908
Heute ist Buß- und Bettag und noch dazu das passende Wetter, grau und neblig. Recht stimmungsvoll, um mit den alten Sünden und Gewohnheiten kräftig abzurechnen. Wie häufig las ich in letzter Zeit Bücher der Lebensführung und Selbsterziehung. Theoretisch liest sich dies alles sehr schön, aber zur Durchführung in der Praxis gehört mehr als der bloße Wille. Da gehört eine eiserne Energie zu und viel Mut und Geduld, um bei Rückfällen immer wieder von vorn anzufangen. Des Morgens nehme ich mir vor, streng diesen oder jenen Fehler zu unterdrücken. Mittags gelobe ich mir, meinem Vorsatz treu zu bleiben, und abends im Bett prüfe ich, ob ich mich in Gewalt hatte und treu meine Vorsätze befolgte oder wie viel Mal am Tage ich sie über den Haufen warf. Trotz der sogenannten Jugenderziehung drängen einem der Beruf oder auch die Umstände Charakterfehler auf, die wir bei unserer inneren Selbstreinigung unangenehm bemerken und die uns unseren inneren Frieden mit uns selbst nicht recht aufkommen lassen.
Es mag ja sehr viele Menschen geben, die sich selten oder niemals über ihr Leben eine Rechenschaft ablegen; zu denen gehöre ich glücklicherweise nicht. Ich rechne genau mit mir und meinen Taten ab, was war gut oder schlecht, was war pflichtgetreu, was tadelnswert, heißt es da. Mein Beruf als Kaufmann schreibt mir schon eine solche Bilanz vor. Wie die dann jedes Mal ausfällt, mache ich mit mir allein aus. Das ganze Leben soll bis zu unserem Lebensende eine strenge Selbsterziehung sein, damit wir an unserem Lebensabend uns ehrlich sagen können: Ich habe aus mir gemacht, was in meinen Kräften stand, und wenn ich auch mein Ziel in dem Maße nicht erreichte, wie ich es mir vorgenommen, so habe ich mir doch die redlichste Mühe gegeben. Wenn meine Nachkommen später diese Zeilen lesen, so mögen sie die Konsequenzen aus dem Gesagten ziehen.
Der Versuch, mal eine andere Berliner Akut-Psychiatrie auszuprobieren, scheiterte. Von der Charité wurde ich wieder ins Urban geliefert. Offene Station, Bettenturm. Fast war ich ins Herz der Finsternis vorgedrungen.
Station 31 roch nach Kräutertee und Tabletten. Der Linoleumboden gelb, die Wände gelb-orange. Ich bezog ein Zweibettzimmer. Die Bettwäsche gelb. Der Blick aus dem Fenster trotz allem unverwüstlich wunderschön.
Im Raucherraum dieser offenen Station traf ich den wandelnden Tod. Er oder sie trug Windeln und hinterließ Pfützen, wo er oder sie stand. Der Mund zahnlos, eingefallen. Die Finger gelb verfärbt, war es immer auf der Suche nach Tabak, zündete sich die ausgedrückten Stummel der Mitpatienten wieder an und saugte sie aus bis in den Filter. Jemand meinte, er oder sie sei hier falsch. Nach wenigen Tagen verschwand es.
Es kam Klaus. Der letzte Mensch auf meiner Erde. Er wollte mir helfen. Die Todessymbiose entfaltete ihre Kraft. Zwanghaft überfiel mich die Vision, mein Vater werde mich zu Tode pflegen. (Estors teilen sich in Ärzte und Patienten.)
Mischgemüse freute sich, mich wiederzusehen. Er saß hinter seinem Tisch und erzählte Klaus, wie manipulativ ich mich ihm zufolge in der Tagesklinik verhalten hatte. Seine eitle Fratze glänzte im gelben Licht. Ich fragte mich, wann er mir die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht abgerungen hatte.
Ich hoffte, zu verschwinden. Ich wollte meine Gedanken nicht länger denken. Ich legte mir eine Schablone in den Kopf und buchstabierte darin immer wieder dasselbe Wort: V-E-R-G-E-S-S-E-N.
Meine erste Zimmernachbarin hatte runde braune Augen, Lisa oder Anita, hielt sich an ihrer Tabakdose fest und erzählte mit hoher, naiver Stimme, sie komme oft her. Besonders im Winter. Sie trug Hausschuhe mit Bommeln auf der Spitze, hängte ihr gelbes Nachthemd erst auf einen Bügel und dann in den Schrank. Ich verglich mich mit ihr und kam zu dem Schluss, dass sie in der Lage war, Selbstfürsorge zu betreiben, und ich nicht.
Klaus brachte bald die Idee auf, ich könnte am Borderline-Syndrom erkrankt sein. Die passende Broschüre drückte er mir in die Hand. Mit meiner WG-Mitbewohnerin hatte er bereits darüber gesprochen. (Sie schloss später die Zimmertür vor mir ab, wenn sie schlafen ging.)
Josi und Gordi und ich hockten auf dem Flachdach der Klinik und wir sonnten uns. Josi und Gordi hatten sich T-Shirts und BHs ausgezogen. Die beiden waren Drehtürpatientinnen, ungefähr so alt wie ich. Ihre Freunde kannten sich aus dem H-Entzug, sie schickten ihre Mädels hin und wieder auf den Strich, wenn es nötig war. Wir kifften. Ich spürte seit Langem wieder einmal, dass ich lebendig war, dass Ideen in mir steckten, und ich machte irgendeinen derben Witz, der die beiden zum Lachen brachte. Möglicherweise konnte ich doch noch Beziehungen haben. Die beiden würden meine Freundinnen sein. Es war zwar nicht das Leben, das ich mir ursprünglich vorgestellt hatte, aber immerhin waren das echte Menschen, mit denen ich hier hockte, und ich war imstande, sie zum Lachen zu bringen. Kurz darauf kroch Paranoia in mir hoch. Vom Kiffen wurde es bei mir immer schlimmer. Früher oder später würde ich davon auch eine Psychose kriegen. Scheiße. Ich musste schnell zurück auf Station. »Was isn mit der los?« Sie lachten wie Krähen hinter mir her und ich traute mich nicht, ihnen noch einmal ins Gesicht zu gucken. Auf der Station legte ich eine Szene hin und ergaunerte mir so eine Portion Tavor, das nicht zu meinen Bedarfsmedikamenten gehörte. Josi und Gordi hauten in der Nacht noch ab. Gordi sah ich ein paar Jahre später am Kotti. Voll druff. Ihre heisere Lache zog mir den Stecker.
Ab einem gewissen Punkt wollte ich es sogar in die geschlossen Station »schaffen«. Ich gab mich diesem Sog hin. (Es ist nicht falsch, hier von Selbstverletzung zu sprechen.) Eingeschlossen, umringt von unberechenbaren Mitpatienten. Die Pfleger distanziert, abgegessen und misstrauisch. Therapie findet nicht statt.
Ich wurde zweimal auf die Geschlossene verlegt. Einmal hatte ich aus Verzweiflung Waschpulver oder Paracetamol in mich reingestopft. Nichts wirklich Lebensbedrohliches. Aber die Geste war ausreichend aggressiv. Das andere Mal war ich bloß nicht mehr bereit, die notorische Frage des diensthabenden Arztes planmäßig zu beantworten: »Kann ich mich auf Sie verlassen?« Ich wusste ja, was passiert, wenn ich »Ja« sagte. Schließlich probierte ich es dann eben mal mit »Nein«.
Ich wollte den Abgrund in allen Facetten auskosten. Das mag schwer nachvollziehbar sein. Nennen Sie es manipulativ, wenn Sie müssen. Aber es wäre ein Missverständnis, wenn man mir unterstellen wollte, ich hätte das Geschehen aktiv steuern können. Ich merkte, dass etwas in mir all dies will. (Natürlich wollte ich gleichzeitig nichts lieber als einfach gesund und frei sein, mein Leben gestalten, lieben, arbeiten, Menschen begegnen und wieder lesen können.)
*
In der Nacht bin ich frei von Angst, solange der Mond durchs Fenster scheint und keine Neuzugänge reingeschoben werden. Neuzugänge sind meist große Auftritte und ich ziehe sie mir voll rein. Polizeivorhut. Geschrei, der Aufzug öffnet sich. Pfleger Maik grinst. Schwester Petra guckt betroffen. Psychotiker im Akutzustand landen hier nackt. Vielleicht wegen der Voruntersuchung im Haus, vielleicht weil die Klamotten durch sind oder eklig, vielleicht sieht so Selbst- und Fremdgefährdung aus und führt zur Einlieferung. Nackt, darüber ein Krankenhaushemdchen, hinten geschnürt. Die Pfleger behandeln den Neuzugang verlässlich mit der übertriebenen Gelassenheit, die ansatzlos in Gewaltausübung umschlagen kann, routinemäßige Fixierung und »Runterspritzen«, ernst nimmt die Irren ab der Türschwelle keiner mehr. Es ist auch jegliche Gefahr gebannt, weshalb niemand nervös zu werden braucht. Niemand außer mir. Ich habe Angst vor dem Abgrund, in dessen Nähe ich geraten bin, in dem ich vielleicht schon selbst und vielleicht für immer stecke.
Nicht in jeder Sekunde gelingt es mir, mich davon zu überzeugen, eine Simulantin zu sein. Eine Hamletta. Ich tu ja nur so, um meine Alten zu ärgern, bisschen Aufmerksamkeit zu kriegen, weil ich halt ein manipulatives Miststück bin. (Fand die Aufnahmeärztin gar nicht witzig. In der Psychiatrie ist Humor schwierig. Man macht sich verdächtig, wenn einem noch nach Witzeln zumute ist. Das riecht nach Persönlichkeitsstörung. Kampfdiagnose mit schlechter Prognose. Egal.)
*
Meine große Schwester Iris kam manchmal vorbei. Sie fand die anderen Patienten »sonderbar« und hatte Angst, von ihnen berührt zu werden. Sie tat so, als wollte sie nicht erkannt werden, und machte dabei genau die Gesten, mit denen man markiert, dass man berühmt ist und nicht erkannt werden will.
Klaus, mein Erzeuger, hatte sich ein Zimmerchen gemietet gegenüber von mir und schaute jetzt auf diesen hässlichen Klotz, zählte die Fenster bis zur Etage ohne Gardinen und verging vor Sorge um seine Jüngste, während sich in Frankfurt sein Job in Luft auflöste. Klaus, mein weicher, dicker Vater, dessen Geruch mich ekelte. Ich tat ihm viel Leid an und quälte ihn extra. Absichtlich. Weil ich böse bin. (Schuldgefühl schlägt direkt in Selbsthass um.)
Das Leben auf der Geschlossenen ist maximal deprimierend und von einem strukturellen Doublebind geprägt. Der Umgang mit Mitpatienten und Pflegern verschlechtert die Symptomatik. Die Ärzte suggerieren bei der Visite, es gehe um therapeutische Fortschritte, die den Weg hin zur Entlassung (erst auf die offene Station, danach Tagesklinik, bei Rückfällen kostenminimierte Variante) ebne. Gleichzeit haben sie keine Kapazität, mit einzelnen Patienten Therapie zu machen. Sobald es zu einem Gespräch kommt, klingelt das Telefon. Ein vertrauensvolles Setting kann schlechterdings nicht etabliert werden. Die Berichte strotzen hingegen von Beschreibungen über Ziel und Wirkung des therapeutischen Angebots.
Ich malte vor den Ärzten ein Bild von mir, das mein Selbsthass konstruierte. Immer wieder, panisch, beteuerte ich, nur ein Spiel zu spielen, alles zu inszenieren, alle an der Nase herumzuführen, im Grunde eine Hochstaplerin zu sein. Weil ich es selbst glaubte. Weil ich es mir selbst unterstellte. (Das war kein cooler Spruch, es war Verzweiflung, die aus mir sprach.)
Verschiedene Ärzte bewerteten meine Selbstdarstellung unterschiedlich. Eine fragte mich, noch in der Notaufnahme, warum ich Paracetamol oder Waschpulver gefressen hätte. Ich glaube, ich sagte: »Um Aufmerksamkeit zu kriegen?« (Ich haute mit der Antwort voll daneben.) Sie fand das unmöglich und machte keinen Hehl daraus, dass sie mich jetzt zur Strafe in die Geschlossene verlegen würde. Da würde mir das Lachen schon vergehen, sinngemäß. Ich hatte geglaubt, die Antwort sei zumindest besser als: »Weil ich mich umbringen will.«
Ein weiterer Arzt hatte mich zuvor gewarnt – das war in der Nacht meiner ersten Einweisung auf die Geschlossene, aus irgendeinem Grund saß er auf meinem Bett, durchsuchte meine Tasche oder brachte sie mir hoch oder so –, ich müsse Demut entwickeln. (Ein nicht unsympathischer Glatzkopf. Ich stand natürlich, biografiebedingt, schon immer auf Ärzte. Unbewusst die Familientabus reinszenierend. Deshalb verachtete ich ihn zeitgleich auch.)
Ich sah eine junge Frau auf der Geschlossenen. Bildschön war sie. Dunkel, schmal. Ein ovales, olivgrünes Gesicht, Mandelaugen, stolzer Mund. Theoretisch war sie schön. Jetzt war sie hässlich. Sie brabbelte, ihr stand Schaum vor dem Mund, sie zitterte und wand sich. Ihr Betreuer besuchte sie, ihr Einzelfallhelfer, ein junger Mann. In seinem Blick auf sie entfaltete sich die ganze Tragik ihrer Biografie.
Mir machte die offene Aggression der Psychose-Patienten Angst. Ich befürchtete Gewaltausbrüche. (Oder?) Ich ekelte mich vor ausgestellter Körperlichkeit. Fettigen Haaren. Zahnbelägen.
Psychotiker im Wahn. Menschen mit düsteren Blicken, die rauchten und rauchten. Schlurfende Zombies. Dann einzelne, die ganz normal wirkten und auch beteuerten, ungefährlich zu sein und zu Unrecht hier. Das waren vermutlich die echten Psychopathen.
Andrea kam mit nacktem Bauch zu uns. So lief sie auch die nächsten Tage herum. Sie jagte mir Angst ein. Also, ich jagte mir Angst ein, wenn ich sie sah. (Später war sie sehr nett zu mir und brachte mir ihre Lebensgrundsätze bei, die mir vernünftiger schienen als vieles, was mir meine Eltern mit auf den Weg gegeben hatten.)
Ich durchschritt die sieben Höllenkreise. Ich zerfiel in tausend Teile. Ich verlernte, (zu sprechen und) mich selbst zu repräsentieren. Ich traute mir nicht mehr zu, einen Satz zu beenden, und verstummte daraufhin.
Mein Selbsthass flüsterte mir ein, dass dieser Ort des Grauens wohl die gerechte Strafe für mein Versagen sei.
In der Geschlossenen war niemand zum Spaß und man roch die existenzielle Bedrohung von Knast, Entmündigung, Schuldnerberatung etc.
Glaubte ich mir meine Deckgeschichte selbst, ich wolle für einen späteren Roman recherchieren? Lag wirklich ein Funken Wahrheit in diesem dreisten Satz? Versuchte ich nicht, mein letztes Stück Würde zu behaupten, wenn ich in mir eine, wenn auch gescheiterte, sprachlose Autorin sah? Die fleischgewordene Schreibblockade. (Mein Sarkasmus hielt mich lange zusammen. Immer gefolgt von Scham.)
*
Ich laufe von der U-Bahn-Station-Prinzenstraße zurück zum Urban-Krankenhaus. Ich bin Patientin auf Station 26. Psychiatrie. Station 26 ist eine offene Station. Ich bin in meiner Friedrichshainer Wohnung gewesen, um einen Zettel zu holen. Nun bin ich am Ende meiner Kräfte. Es ist wieder Frühling. Alles steht in voller Blüte. Immer habe ich diese Gegend geliebt. Vom Prinzenbad zum Urbanhafen, über die Brücke am Kanal, vorbei am Restaurantschiff. Immer habe ich mich in Berlin frei gefühlt. Ich soll bald entlassen werden. Mein Leben wird zwangsläufig weitergehen. Nie habe ich Selbstmord wirklich für eine Lösung gehalten. Ich darf mich nicht länger im Krankenhaus verstecken. Ich muss jedes einzelne meiner Probleme lösen. Ich muss Geld verdienen und wieder nett zu den Menschen sein.
Meine Spannungen in diesen Tagen verbinden sich mit Geruchsempfindungen. Könnte ich bloß ins Gebäude rein, ohne den Haupteingang zu nehmen. Die Raucher an ihren Tröpfen, in ihren Rollstühlen, den Nachthemden, mit ihren gelben Gesichtern, ihrer stoischen Weigerung, die eigene Lage zu BEGREIFEN – mich macht das so fertig. Alles Elend springt mich an, kriecht durch die Poren in mir hoch. Der Geruch von Weichspüler, gepaart mit kaltem Zigarettenrauch. Wie meine Handtücher damals zu Schwimmzeiten. Als ich den Zigarettenrauch überdecken wollte. Was ihn bloß immer stärker ausstellte. Das Fatale am überreizten Geruchssinn sind die verknüpften Erinnerungen. Erinnerungen werfen mich jetzt um. Innerlich um. Bleischwere Urteile über meine Vergangenheit. Es schmerzt mich, auf mich zu blicken.
Ein Jahrzehnt lang halfen mir gewisse Stoffe, die schmerzenden Gefühle abzuwehren. Sie waren nicht pharmazeutisch legitim. Dazu die Beschaffungskriminalität. (Ich lag einmal für Stunden mit einem Dealer im Busch und wir versteckten uns unter dem Laub. Razzia in der Hasenheide.) Ich fühlte mich frei in unbewusster Selbstmedikation. Später verstand ich, dass ich tatsächlich selbstbestimmt und frei gewesen war, damals als Abhängige; verstand es durch die Demütigung, einer Psychiaterin gegenüberzusitzen und auf die Verschreibung ihres Benzodiazepins angewiesen zu sein. Dazu das Scheißmirtazapin. Sobald es mir ein wenig besser ging, schmiss ich wiederholt alle Rezepte weg und schlug meinen alten Weg ein. Aber die Paranoia wuchs und die Todesangst. Ich wusste, dass ich eine Psychose riskierte. Ich kannte durch meine Psychiatrieaufenthalte mittlerweile viele Menschen, die Psychosen durchgemacht hatten. Schwere, langwierige, oft chronische Krankheitsverläufe waren das. Zustände, die die eigene Identität, Integrität, das Leben, das Selbst gefährdeten.