Auf einem Autorenkongress in Düsseldorf erlebte ich meine schwärzeste Nacht. Ich hatte dieses Stück über die Sprache der raf in Gefangenschaft geschrieben. Es war damals bereits drei Jahre alt und ich schämte mich brennend für jeden Satz darin. Dr. Wildenbach hatte mich und die Arbeit intensiv betreut. Es waren alles ihre Gedanken, die ich wenig originell unter Zuhilfenahme von viel, viel gestrecktem Speed ausformuliert hatte. Eine perverse Machtkonstellation verband uns. Sie sah anfänglich ein Potenzial in mir, ich nutzte ihre Unterstützung aus, hob beim ersten Erfolg bald ab und ließ sie gekränkt sitzen. Ich hatte nicht den Mut, ehrlich zu ihr zu sein. Sie war mächtig wie meine Mutter, aber im Grunde humorlos.
Ich war zu dem Kongress nach Düsseldorf gefahren, um meine Felle vor dem Davonschwimmen zu bewahren, mich in der Öffentlichkeit zu rehabilitieren, meine Karriere weiterzubauen. Ein Fehler. Meine Sprache verließ mich. Ich saß auf dem Podium und begriff nicht, was man mich fragte. Ich wunderte mich bloß über die Höflichkeit meiner Kolleginnen. Sie taten, als ergäben meine gutturalen Laute einen tieferen Sinn. Mild lächelten sie mich an und fragten im Anschluss, ob ich noch mit auf einen Wein wolle. Ich brauchte nicht zu sprechen, um gemocht zu werden. Verachtenswerte Kreaturen.
Ich lag in meinem Düsseldorfer Hotelbett. Das Fenster war nicht zu öffnen. Die Heizung nicht zu regulieren. Es war heiß. Ich brauchte Luft und ging auf die Straße, obwohl es zwei Uhr in der Nacht war. Das gelbe Licht brachte mich richtig mies drauf. Was würde aus mir werden in dieser Welt? Vielleicht würde ich kriminell werden, eine Mörderin und im Gefängnis landen. Ich war unfähig, eine andere Perspektive einzunehmen.
Irgendwann begab ich mich auf die Suche nach einer Psychoanalytikerin. Die erste skizzierte nach zwei Probestunden eine frühkindliche Erklärung für meine Todesängste. Ich hätte die mutmaßliche Abtreibung eines kleinen Geschwisterkindes intensiv empfunden und daraus geschlossen, dass auch ich getötet werden könne, wenn ich die Wut meiner Mutter errege. Diese Theorie fand ich hanebüchen. Sie machte mich aggressiv, welche Anmaßung! Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte die Treppe hinab und raus, bis mich die Friedhofsmauer stoppte. NIE würde ich mich solchen spekulativen Thesen ausliefern. Diese blasse Person in deren Umgebung jeden Menschen Beklemmungen anfallen mussten! (Von Übertragung hatte ich damals noch nichts gehört.)
Eine andere Analytikerin schmiss mich hochkant raus, nachdem sie Mischgemüses Arztbrief gelesen hatte. Ob ich nicht endlich arbeiten gehen wolle, was ich mir eigentlich denke? Sie fühlte sich von meinem Auftritt wohl provoziert …
Zum Glück fand ich schließlich eine stabile Analytikerin. Die Spielvogel. Sie lachte mich fröhlich an und trug einen wehenden Rock. Lustvolle Lebensfreude, schoss es mir hoffnungsfroh durch den Kopf, durften Therapeutinnen ausstrahlen? (Idealisierung ist die Kehrseite der Abwertung, theoretisch wusste ich das, trotzdem gestaltete ich meine Beziehungen immer wieder nach diesem Muster. Meine allererste Therapeutin, die mir verhaltenstherapeutisch begegnete, hatte ich, nachdem meine erste kurze depressive Episode abgeklungen war, etwa derart in den Himmel gelobt, dass ich mich zu der Aussage verstieg, Sylvia Plath hätte sich nicht umgebracht, wenn sie ebenfalls bei ihr in Kurzzeittherapie gegangen wäre.)
Spielvogels Reaktion auf mich war so tröstlich, weil sie durch keine meiner Emotionen unglücklich wurde. Es ging ihr immer gut, sie war so fest. Also innerlich, im Kern. Sie brauchte keinen Panzer gegen die Gefahr, die Angst, das dunkle, unbekannte Loch in ihrem Innern.
Es kamen alte Gefühle wieder hoch, wie Geister stiegen sie zwischen mir und Spielvogel auf. Sie machte nicht viel, sie sagte nicht viel, aber sie war doch eine Magierin. Sie seufzte verständnisvoll. Nicht das dämliche Psychologen-»Hmhmm«, das mittlerweile jeder draufhat und einem anbietet wie ein billiges Kaugummi, das gleich keinen Geschmack mehr abgibt. (Ich hoffe, das darf ich sagen, ohne Gefahr zu laufen, Spielvogel zu idealisieren.)
Ich schwieg und weinte. Ich weinte und weinte und sie hörte zu. Vor allem ihr Schweigen war wohltuend. Bei mir zu Hause wurde jedes Gefühl durch falsche Sätze übertönt. Ideologische Phrasen hingen wie Wimpelketten quer durch alle Räume, Innen und Außen.
Alle in meiner Familie machten Therapie. Außer Elke. Die war überzeugt, dass Psychotherapeuten korrupt seien und einem bloß einredeten, man brauche Hilfe, damit ihr Einkommen gesichert bliebe. (Verschwörung, Verschwörung. Immer wieder Verschwörung. Im Alter sah sie es vielleicht anders.)
Klaus war schon immer ein Therapie-Junkie. Er machte selbst verschiedene Therapeuten-Ausbildungen.
Spielvogel entzauberte Elke und benannte den emotionalen Missbrauch durch Klaus.
Ob ich keine Kinder haben wolle? »Nein. Wir schaffen den Sprung nicht.« »Welchen Sprung?« Ich schwieg. Dann weinte ich. Ich weinte und weinte. »Es ist schön, Kinder zu haben. Man muss die Vergangenheit nicht wiederholen.« »Wissen Sie. Mein Kinderhaus damals … ich meine … mein … mein … Elternhaus – «
Im Herbst 1956 zog es uns wieder in die Berge. Ein Privatquartier – eine Stube und ein kleines, schräges Dachkämmerchen – bekamen wir bei Frau Rennert auf dem Hof Seidenlehm in Mariagern bei Berchtesgaden. Bergtouren auf dem Untersberg, Spaziergänge, Wanderungen, Salzbergwerk und natürlich der Königssee. Die Kinder können ihre Eltern auf Reisen ja manchmal ganz schön nerven. Am Königssee gab es viele Buden mit den üblichen kitschigen Souvenirs, Eisbuden, Süßigkeiten, Getränken usw. Klaus hatte einen schlechten Tag, er schikanierte uns bis zur Grenze. Dieses haben, jenes haben, das wollen, wieder nicht wollen usw., erzwingen, versuchen, auch mit Tränen und Bockigkeit. Schließlich platzte mir der Kragen, über das Knie gelegt und ein paar deutliche Klapse auf den Po, keine Tränen mehr, und vom Augenblick an hatten wir einen lieben und braven Jungen.
Ich war ungerecht gegenüber meinem Vater gewesen. Ich hatte ihn mir nie als Kind seiner Eltern vorgestellt. Nie war ich misstrauisch gegenüber der Erzählung geworden.