Ich bin die Stimme, die stumm bleiben soll. Doch ich rede und rede. Ich bin die Stimme, die keiner lesen will im Familienbuch. Weil ich ungnädig bin, mit mir selbst und mit ihnen allen. Undankbar. Ungehorsam. Kein Zweifel, dass mir früher wirkmächtig der Mund verboten worden wäre. Unter Zuhilfenahme von groben Händen, Gürtelschnallen, von Seife. Mein Großvater Dr. Oskar Estor schlug seine Kinder. Oma Mine Estor vertraute auf schwarze Pädagogik. Wäre ich bei ihnen aufgewachsen, in den Fünfzigern, sie hätten mich zerstört. So wie meine Tante Erika. Sie hätten mich zerstört oder ich hätte gelernt, mich selbst zu verleugnen. Wie mein Vater Klaus, der lernte zu lügen, stets und immer, der sich selbst belog und alle um ihn herum, um in Ruhe gelassen zu werden. (Die Selbstgerechtigkeit, mit der ich Urteile fälle, sollte mich misstrauisch machen. Begebe ich mich schon wieder in unverantwortliche Höhen, aus denen ich fallen und fallen muss? Ist es den kurzen Genuss wert? Oh, ja!)
Ich komme ein letztes Mal nach Bad Dornen, in das Elternhaus meines Vaters. Den einzigen Ort meiner Kindheit, an den ich zurückkehren kann. Der noch nicht überlebt wurde.
Mich interessiert nicht, was Gene können. Mich interessiert, wie Geschichten wirken. (Und alle sind sie konstruiert.)
Ich hebe das kleine Törchen, ein kniehohes Jägerzaunelement mit schwarzem Lackgriff über rostigem Metall. Einmal reichte es mir bis unters Kinn. Ich sehe Bilder von früher vor meinem inneren Auge. Es sind die Fotografien Oskar Estors, die mir zu Kindheitserinnerungen verschwimmen. Er war ein leidenschaftlicher Hobbyfotograf. (Ein pedantischer, sagt Iris.) Oskar hielt jede Ankunft und Abreise fest. Jedes Lachen. Und entsorgte die traurigen Gesichter.
Der Weg zum Haus war einst gesäumt von blühenden Rabatten. (Erst heute weiß ich, dass Oskar heimlich spritzte, um Mine zu erfreuen.) Jetzt liegen die umgegrabenen Schollen darin dunkelbraun.
Ich betrete das Haus durch die Garageneinfahrt. Hier stand all die Jahre sein cremefarbener Mercedes. Er trug beim Fahren perforierte Lederhandschuhe. (Wenn es nach Iris gegangen wäre, hätte man ihm im Alter den Führerschein weggenommen.)
In der Waschküche eine Mangel. Im Vorratskeller Weckgläser. Ein Verschlag, der mal ein Schwein behaust hat. Schwarze Drehlichtschalter aus Bakelit. Irgendwo hier zischte Mine dem aufrechten Peter zu: »Wer bist du schon! Mit deinem Volksschulabschluss …« (Auch sie hatte bloß die Volksschule besucht.)
Mein Vater kam aus dieser Arztfamilie (komisches Wort: eine Familie, die sich darüber identifiziert, dass der Vater Arzt ist, der Herr Doktor). Eine Familie, die von sich sagt, den Schwachen helfen zu wollen, die hilft und sorgt und kümmert, doch etwas ist faul daran. Warum werden die Kinder immerzu gewaltsam gezwungen? (Im Innern ist keine Hilfsbereitschaft, sondern Gewalt.)
In meiner Familie wurde ich für meine kindliche Hypochondrie ausgelacht. Ich glaubte, an Prostatakrebs, Aneurysmen, Angina Pectoris zu leiden. Elke schob alles auf die Gespräche am Estorschen Mittagstisch.
Bad Dornen ist ein winziges Dorf im Fränkischen, wo sie das R dunkel in die Kehle drücken. Ein paar Weinberge, Äcker und das psychiatrische Krankenhaus mit 800 Betten. Die größte Forensik weit und breit. Jeder Dorfbewohner könnte mit einem Patienten zum Tanz gehen. Mein Großvater leitete in den 1970er-Jahren die Station für Suchtkranke. Heute heißt ein romantischer Weg zum Schwarzberg nach ihm. Dr.-Oskar-Estor-Steig.
»Villa Mine«, benannt nach meiner Oma, zentral an der Hauptstraße des Dorfes gelegen, groß und weiß, überragt alle anderen Wohnhäuser im Sichtkreis um mindestens ein halbes Stockwerk. Die Zimmermänner hätten beim Bau im Jahr 1950 eigenmächtig Breite und Höhe um ein selbstbestimmtes Maß erweitert. Das schreibt zumindest mein Großvater im Familienbuch der Estors. (Kann ich seinen Erzählungen trauen?)
Als Kind näherte ich mich diesem Haus auf der Rückbank unseres bananengelben Peugeots. Ich saß zwischen meiner Schwester Iris und meinem Bruder Aki. Vor meinem Bauch ein oranges Bänkchen, im Gurt fixiert. Zwischen Klaus’ Füßen ein leerer geflochtener Korb. Elke fuhr, nicht selten rauchend, und bis kurz vor Würzburg meist blendend gelaunt. Sobald die ersten Weinberge in den Blick kamen, kippte die Stimmung wie ein See im Spätsommer. Die Strecke Spießloch – Bad Dornen konnte man in zwei Stunden schaffen. Sofern man sich nicht verfuhr. Eigentlich eine Unmöglichkeit, aber Elke gelang es immer wieder. Ihre »Abkürzungen« waren legendär. (Sie muss die Feste im Hause Estor gehasst haben.)
Hinter der Kuppe des Schwarzbergs schob es sich zum ersten Mal ins Bild, also hinter die Windschutzscheibe. Gerahmt vom wippenden Rotschopf meines schweigenden Vaters und dem kantigen Profil meiner rauchenden Mutter, ein viel zu großes Haus, allein zwölf Fenster an der Front. Die Fassade zu weiß. (Noch heute verstehe ich nicht, wie sie so weiß sein konnte. Wo sammelte sich der Dreck?)
Heute fahre ich selbst. Ich bin keine gute Autofahrerin. Die Verkehrstoten gehen mir nicht aus dem Kopf, und der tote Winkel. Ich habe eine gewisse Affinität zum Tod, zu allem Kranken. (Die Familie Estor teilt sich in Ärzte und Patienten.)
Wann immer wir ankamen, trafen wir zuerst auf den schiefen Karl, der die Straße vor dem Haus kehrte. Ein dünner, gutmütiger, zahnloser, schief lächelnder älterer Mann, der sich unverständlich artikulierte. Ein Dauerpatient der Psychiatrie. Er kehrte täglich viele Stunden vor dem Haus der Estors. Später erfuhr ich, dass er seiner Frau mit einem Spaten den Schädel gespalten hatte.
Auf dem alten Filmmaterial meines Großvaters entdecke ich weitere Patienten. Sie helfen bei der Kartoffelernte oder in der Küche, bei Familienfeiern. Elke fluchte einmal darüber, dass Oskar Estor die Patienten der Psychiatrie behandelt habe wie ein Gutsherr seine Leibeigenen. Natürlich seien sie nicht bezahlt worden. Auch die Möbel aus den Werkstätten gingen ganz selbstverständlich ins Estorsche Mobiliar über. (Ein Hocker aus der Arbeitstherapie steht noch heute bei mir. Und ich liebe ihn.)
Der Hintereingang zum Haus führte einen direkt in die riesige Küche. Dort herrschte Mine. Sie stand in der Küche und kochte. Immer in der Schürze, am Schneiden, Kneten, Braten. Eine Schüssel unterm Arm, ein Messerchen zur Hand, in den Garten, in den Keller.
Von gewaltfreier Kommunikation hatte Oma Mine nie gehört. Für mich als Kind waren ihre Boshaft- und Gehässigkeiten immer auch ein wenig unterhaltsam. (Nein. Erinnerungsfehler.) Mich trafen sie ja kaum. Die Kleine. Die Streifschüsse, die ich abkriegte, waren dann weniger schmerzhaft als irritierend in ihrem Nachhall, wie das Dröhnen der Standuhr im Estorschen Treppenhaus, um die es bei Mines einzigem erwähnenswerten Angriff auf mich im Kleinkindalter auch ging.
Was ich immer so garstig gucken würde. Sie spielte auf meinen Gesichtsausdruck beim Nachdenken an. Hässlich sehe das aus, wo ich doch sonst im Grunde hübsch sei. (Noch hübscher übrigens, wenn ich mir mal ein Spängchen ins Haar machen ließe von ihr.) Sie warnte mich: Wenn jetzt die Uhr schlage, blieben diese Züge ewig in meinem Gesicht stehen und ich sei für immer entstellt.
Im Flur hing ein großer Spiegel. Oskar fotografierte den Ausdruck, den Mine meinte, und zog ihn groß. (Heute schaue ich mir dieses Bild gerne an. Es ist das einzige Foto im Hause Estor, auf dem nicht gelacht wird.)
Schon vorher war bestimmt, dass mir dieser Zug eingeschrieben bleiben sollte. Nicht im Gesicht, aber auf der Seele. Es ist der Abdruck von was? Einer Gewalt im Raum, die keinen Namen tragen darf und so nie ihre Kraft verliert.
Elke brachte die Aggression an den sonntäglichen Mittagstisch der Estors, die Klaus permanent weglächeln musste, um nicht vernichtet zu werden. (Klingt dramatisch: Vernichtung. War es aber auch. Immerhin deckte Dr. Estor sein gesamtes Leben lang Mörder.)
Klaus hatte mitbekommen, wie seine ältere Schwester Erika leiden musste. Wie die Eltern sie entmündigten, ihr das Kind wegnahmen und sie drängten, sich sterilisieren zu lassen. (Die Familiengeschichtsschreibung machte Erika zu einer »schwierigen Person« und schob ihr die Schuld an aller durch die Eltern erlittenen Gewalt zu sowie die alleinige Verantwortung für diese.) Erika hatte sich schließlich dem Diktat der Eltern gebeugt und in die Sterilisation eingewilligt.
»Aber warum? Die Frage ist: Wa-rum? Sie war erwachsen! Und ist das nicht seltsam: den Eltern bis ins Alter Vorwürfe zu machen? Für letztlich: die eigene Unfähigkeit, mündig geworden zu sein?!« Das war Iris’ scharfer Ton, fünfunddreißig Jahre nach dem gewaltsamen Übergriff auf Erikas Selbstbestimmung. (In meinen Augen schrieb auch Iris eine dunkle Tradition fort, ohne den Hauch einer Ahnung davon zu haben: Sie schob die Schuld dem Opfer zu.)
Ich sage: »Der Geist des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wirkte in der Familie Estor fort.«
Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht werden.
»Sie wollten Erika schützen! Sie wollten ihr helfen! Sie war psychisch krank! Sie meinten es gut! « (Klaus’ Worte.)
Tante Erika ist das schwarze Schaf der Familie. Wobei das Konzept des schwarzen Schafs nicht sonderlich gut auf die Familie Estor passt. Denn Oskar Estor suchte alle Mitglieder zu integrieren, notfalls mit Gewalt, die Figur des Verstoßens war ihm fremd. Diese Form der Unterdrückung war subtiler und schmerzhafter, weil sie die Wahrnehmung korrumpierte. Die Ketten nahmen unterschiedliche Gestalten an: internalisierte Kontrolle, Gehirnwäsche, Entmündigung. Autonomiestreben wurde hart bestraft. Aus der Familie Estor gab es kein Entkommen, außer im Tod.
Onkel Richard war ein Kind des Sieges, Tante Erika ein Kind der sich abzeichnenden Niederlage. (Nach dem Krieg wird Oskar Estor Tante Erika immer wieder verdreschen. Die Kleine ist drei, vier, fünf Jahre alt und versteckt sich vor dem Vater unter dessen Schreibtisch. Mit aller Wucht und von der Ernsthaftigkeit seiner Aufgabe erfüllt, schlägt mein Opa mit dem Gürtel auf Erika ein. Wenn sie frech ist oder ungehorsam oder lustvoll.) Richard war blond, Erika hatte schwarzes Haar. Mine und Oskar zeugten sie während der Schlacht um Stalingrad, auf Heimaturlaub. Erika war ein Kind der Verzweiflung, die niemand wahrhaben wollte, der niemand ins Gesicht schauen wollte.
Ich meine, mich erinnern zu können, dass Oma Mine sogar mir gegenüber behauptet, ja Erika vorgeworfen hatte, ihr im Wochenbett als Säugling die Brüste wund gesaugt zu haben. Also muss ich da mindestens drei gewesen sein, also muss Mine mindestens sechzig gewesen sein und Erika mindesten dreißig. Ist das nicht schrecklich? Und gleichzeitig erschreckend aufschlussreich. Bis ins reife Alter, ja wahrscheinlich bis zu ihrem Tod kam Mine nicht auf die Idee, dass ihre furchtbare Lage, die hoffnungslose Situation 1943, die Ahnung, dass alles, woran sie glaubten, einstürzen und nichts mehr wert sein würde, dazu vermutlich auch eine diffuse Schuld, eine nicht eingestandene Trauer, viel, viel Angst und sicher auch Wut – dass all dies für die arme Erika schon in ihrem Bauch spürbar gewesen sein muss und dass sie ihr vermutlich eine abwesende und schlechte Mutter war und sie nicht lieben konnte, weil sie auf das Kind projizierte, was sie bei sich selbst nicht wahrhaben wollte.
Der dreijährige Richard daneben, gezeugt im Blitzkriegsrausch, geboren als blondes Kind der Hoffnung, hielt sich tapfer. Schaffte es irgendwie, weitestgehend brav zu sein und die traurige Mutter zu trösten mit seinem Lächeln. Und blieb im Grunde sein ganzes Leben lang als Pfand an die Eltern gebunden, als Glückspfand, es ihnen gut und recht zu machen, die Treue zu halten, den Bund nicht zu sprengen und brav zu sein. (Erika trug die Symptome für Richard aus, davon bin ich überzeugt.)
Klaus war ein blasser Jüngling. Er sah toll aus in seinen Samtwesten. Sein Blick so tief und er schien über schwere Dinge zu grübeln. (Ich darf nicht unterschlagen, dass er belesen war und klug.)
Er las, was er in die Finger bekam. Den ganzen Karl May. Später gab er heimlich Bestellungen in der großelterlichen Buchhandlung auf. Gegen die Klassiker war nichts einzuwenden gewesen, aber bei Hesse und Böll zog mein Uropa Julius Estor schon ein wenig die Augenbrauen zusammen.
Als Klaus sich die Werkausgabe Bertolt Brechts zu Weihnachten wünschte, trat Oskar Estor auf den Plan. Warum er die Lust an den schönen deutschen Klassikern verloren habe? Schiller. Das sei doch genug Nahrung für seinen Sturm und Drang. Oskar Estor verbot das Geschenk und so besorgte sich Klaus seinen Brecht heimlich in einer von Studenten geführten Buchhandlung in Würzburg.
Er lernte nie zu sagen »Ich will« oder »Ich will nicht«, sondern schob für alles seine Wehwehchen vor. (Ich übernahm seine Strategie bis ins junge Erwachsenenalter.)
Als Arzt akzeptierte Klaus’ Vater Krankheiten und diese nahm er auch ernst. Müßiggang hingegen verurteilte er scharf. Klaus konnte seine Rolle als Sohn nur im Patientendasein erfüllen. Sein ominöses Hüftleiden begann bereits im Kleinkindalter. Eine organische Ursache wurde nie gefunden. Die Schmerzen kamen und gingen, meist zeitgleich mit privaten Herausforderungen.
War Klaus ein echter Patient oder ein eingebildeter Kranker?
Er war kein Simulant! Ich schätzte das falsch ein, als ich zum ersten Mal Generalabrechnung mit ihm machte. Er wusste bloß nicht, dass er gesund war. Er profitierte von der Pflege, der Zuwendung, die er bekam, ja. Er entzog sich lästigen Aufgaben, denen er sich nicht gewachsen fühlte oder die ihm schlicht zu blöde waren. Doch im Grunde war er nie selbständig geworden, hatte sich nicht emanzipiert.
(Die Frage, wer das wahre Opfer ist. Für Iris ist es mein armer Vater Klaus, dem ich grundlos die Hölle heißgemacht habe. Und bis heute tue ich das! Ich reite so lange auf der Frage herum, warum die wahren Täter nicht benannt werden dürfen, bis der Gaul erschöpft zusammenbricht und elendig verreckt. Ich lasse ihm den Opfermythos nicht durchgehen, denn genau wie seine Eltern hält er sich für ein Opfer.)
Erika fehlt auf den meisten Filmaufnahmen, die Oskar Estor von der Familie in den Sechzigerjahren gemacht hat. Manchmal steht sie am Rand und sieht unglücklich und gequält aus, scheint hin und wieder patzige Widerworte zu geben. (Es gab noch keine Tonspur an der Kamera.) Und dann, als sie Anfang zwanzig ist, taucht da plötzlich diese fesche, hochattraktive Frau auf, die richtig gut tanzt, figurbetonte Anzüge trägt und verführerisch ihre Augenbraue hochzieht. Die Haare in Form, wirkt sie immer gut gelaunt und lacht dabei.
Tante Erika war ein schwieriger Mensch. (Habe ich das früher selbst einmal gesagt?) Es ist ein klassischer Befund in der Familie Estor. Mindestens einer in jeder Generation ist »schwierig« und dadurch lassen sich alle Probleme erklären. Mein Status ist auch »schwierig«. Damit machen es sich alle anderen leichter. Solange sich die Familie weigert, Tante Erika und mich als Symptomträger der Konflikte im Familiensystem offiziell und wertschätzend anzuerkennen, bleiben wir das Problem, das es zu vernichten gilt. Schlimmstenfalls identifizieren Tante Erika und ich uns auch weiterhin mit dieser familiären Zuschreibung, unterwerfen uns dem Rest der Familie, lassen diesen Rest sich über uns erheben, um ihn vor Scham und Schmerzen zu beschützen.
Meine Tante Erika arbeitet heute als Buchhändlerin in München. Ihre Lebenspartnerin hält ihr den Rücken frei, auch wenn Erika nicht offen zu ihr steht. Letztes Jahr fuhr ich zu ihr, um über die Vergangenheit zu reden. Tante Erika hatte drei Nächte vor Aufregung nicht geschlafen, umarmte mich zu fest und lief fahrig zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her. Nachdem wir uns endlich hingesetzt hatten, warf sie die Vase mit meinen Blumen um, schnitt sich ungeschickt an den Scherben und blutete stark. Sie verschwand lange im Bad und kehrte schließlich mit geschrumpften Pupillen zurück. Dann erst ging es. Sie bestätigte alle Geschichten, gab sich jedoch ebenfalls selbst die Schuld daran: »Ich war ein dickes und widerborstiges Kind. Wie hätte man mich lieben können?« Die Sterilisation bagatellisierte sie. Meine Anteilnahme wollte sie nicht haben. Auf meine Frage nach sexualisierter Gewalt in der Familie wiegelte sie ab: »Nein! So etwas überhaupt nicht. Normale Grapscherei: Ja. Sexuellen Missbrauch: Nein.« Deprimiert fuhr ich wieder ab.
Und einem weiteren Estorschen Mythos ging ich auf den Leim. Die Erzählung geht so: Mein Großvater amputierte Beine in Russland. Er hatte Zugang zu Morphium. (Unerklärlicher Zusatz.) Auf einem Schiff abgeschossen, rettete er sich in der Unterhose an Land. Er war ein Opfer des Krieges.
Dazu noch: Oma Mine reichte Juden Suppe über den Zaun.
Der Brieföffner meines Opas hatte mich schon als Kind stutzig gemacht. Er lag offen sichtbar in einer Schale voller Stifte und Kleinkrams im Balkonzimmer. Silbern, mit gelbem Griff steckte er wie ein kleines Schwert in einer Scheide. Mittig zierte ihn ein Hakenkreuz. Die Sprache muss darauf gekommen sein, aber ich erinnere mich an keine Antwort.
Lange nach der Scheidung erwähnte Elke einmal beiläufig und frei von Hohn, dass Oskar Estor »ein ganz normaler Nazi« gewesen sei. Ich reagierte empört. Was ihr einfiele, meinen Opa zu diffamieren? Ganz ruhig führte sie aus, dass er wirklich ein Nazi gewesen sei, Offizier in der Wehrmacht und angesehener Arzt, in Rang und Würden, absolut kein Zweifel, er habe ihr gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht und sie hätten sich angeblich trotzdem gut verstanden. Für die Mao-Bibel habe er sich übrigens auch interessiert, sich das kleine rote Büchlein ausgeliehen, gelesen und im Nachgang zu ihr gesagt, dass es ihnen mit Hitler damals so ähnlich gegangen sei. Da wurde mir schlecht. Besonders, weil Elke bloß darüber lachte und in diesem Lachen alles wegwarf, was ich ihr einmal geglaubt hatte – nämlich, dass es ihr um etwas gegangen sei in der KPM. Bald fügte sie streng hinzu, ich sei dumm, wenn ich glaubte, irgendwer sei kein Nazi gewesen damals. (Sie hatte meine innere Abwertung gegen sie wohl gerochen und musste sie mir sofort heimzahlen.)
Ein einziges Mal hatte ich einen lautstarken Disput mit meinem Großvater geführt. Ich war stinksauer gewesen über eine abfällige Bemerkung, die er über meine Mutter Elke gemacht hatte, kurze Zeit, nachdem sie und Klaus sich getrennt hatten. Wütend und unversöhnlich verteidigte ich die Ehre meiner Mutter, bis in sein Arbeitszimmer hinein. Es lag im ersten Stock, mein Opa ging damals schon recht schwerfällig, aber er war sehr bemüht, mir zu folgen und seine Bemerkung zu erklären und seine Sicht darzulegen. Ich erinnere mich nicht daran, dass er mich überzeugt hätte, aber ein wenig besänftigt vielleicht schon. Auf jeden Fall rührte es mich, dass ihm so sehr daran gelegen war, mit mir zu sprechen. Das kannte ich nicht. Ich hielt ihn für einen guten Menschen.
Später entdeckte ich das NSDAP-Parteiprogramm neben einem Exemplar von Der Sinn des Schmerzes in einem der vielen Bücherregale meiner Großeltern. Ich steckte beide Broschüren heimlich ein und fühlte mich wie eine Diebin. Auch ein zugeklebtes Buch hatte ich im Arbeitszimmer meines Opas entdeckt. Es handelte von Wehrmachtsverbrechen in Russland. Oft schnüffelte ich nach Verbotenem im Hause Estor.
Elke rettete mich mehrfach in jenem Haus. Als ich etwa meinen Cousin in den Teich geschubst hatte und alle auf mich einkeiften, ich sei ein garstiges Kind. Elke schien es egal zu sein, zumindest schien sie mich trotzdem zu mögen. (Las ich in ihrem Gesicht Genugtuung?) Sie zündete sich eine an, nahm mich bei der Hand und wir gingen spazieren. Es machte ihr nichts aus, gesellschaftlich geächtet zu sein.
Die Rückfahrten aus Bad Dornen in unserem bananengelben Peugeot waren eine große Entwertungsbewegung. Der geflochtene Korb quoll über vor Gaben aus dem Garten meiner Großmutter. Eier, Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln, Kirschen, Blumen, Salat. (Meine Eltern wollten die Geschenke nie annehmen, doch Mine siegte immer über sie.)
Sobald wir um die Ecke gebogen waren, hatten Klaus und Elke begonnen, über Mine zu schimpfen. Ich hasste es, wie alle Kinder es hassen, wenn Eltern schlecht über Menschen reden, die sie lieben. Elke und Klaus aber brauchten es wohl. Dieses Gift, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Um sich zu versichern: Wir sind gut. Unser Leben ist ein gutes. Wir sind nicht schlechter als die anderen, auch wenn sie uns vermutlich vernichten wollen. Wir dürfen leben und bringen die anderen vorsichtshalber in Gedanken um, bevor sie uns als unwert demaskieren können. (Heute denke ich, Elke versuchte, Klaus zu trösten, indem sie gemeinsam mit ihm verächtlich über seine Mutter sprach.)