Geboren als Bauerstochter, gestorben als Arztgattin. Immer auf Status bedacht, wenn auch subtil. So durften ihre Kleider nicht teuer sein. Kuchen durfte nicht gekauft werden. Sich um die Kranken, Armen und Schwachen zu kümmern, war unverdächtig. Die Hierarchie zwischen Helfendem und Hilfsbedürftigem bewies ja den Statusunterschied. Lediglich in der Begegnung auf Augenhöhe, der Vermischung lag die Gefahr. So mussten besonders die Kinder ferngehalten werden von »unangemessenen« Spielkameraden. (Überkompensierte sie dadurch die Kränkung, die sie selbst im Elternhaus ihres Mannes erfahren hatte?)
Bei ihrer ersten gemeinsamen Reise mit Oskars Beiwagen-Motorrad – ihre Liebe ist jung, auf dem Motorrad prangt ein Fähnchen, darauf das Hakenkreuz, so fahren sie durch Deutschland – entfaltet Oskar vor Mine seine ganze »Weltanschauung«. Sein nordisches Blut verpflichte ihn, blabla … Er wolle für die Schwächeren eintreten. Unverheiratet, so erzählte mir Richard kichernd, seien sie bis zum Bodensee gefahren. Oskar hält die Abfahrt vor dem Haus der Landmanns fest. Mine sitzt bereits im Beiwagen, eine Fliegermütze auf dem Kopf, ein Hündchen auf dem Schoß. Sie scheint die Karte zu studieren. Eine Inszenierung? Meine Uroma, Änneke Landmann, lacht breit über den Zaun. Mines jüngerer Bruder lebt noch. Derbe Stiefel, strenger Scheitel.
Mine kommt aus einer Bauernfamilie, es ist auch ein Liebesbeweis an sie. Sein kühner Geist und ihre Erdverbundenheit sollen ein tugendhaftes und fleißiges neues Geschlecht begründen.
Geschichte der Liebe meiner Großeltern Estor, die im Nachhinein grotesk überbetont wurde, um aus einer politischen Zeit alles politisch Verfängliche zu streichen. Ihre Liebesbriefe zwischen Roseneck und der Ostfront, die nicht unpolitisch waren und deshalb später verbrannt wurden – verklärt als romantischer Akt zur Wahrung ihrer Privatsphäre.
Mine Estor, geborene Landmann, die ihren Oskar drei Tage nach Kriegsausbruch heiratete, die stolz war, die aufstieg zur Offiziersfrau, die ihm ein blondes Kind gebar. Die trotzdem oder gerade deswegen immer und immer zweifelte an ihrer rassischen Wertigkeit und es kompensierte, die ihre Unsicherheit verbarg. Die andere um so aggressiver ausgrenzte, abwertete, als minderwertig verurteilte (auch die eigenen Kinder).
Mine war keine liebevolle Mutter, sondern eine kühle, eine gestrenge, ohne Verständnis für Kindersorgen.
Mine Estor bestand darauf, im Estorschen Garten Landwirtschaft zu betreiben. Oskar hatte nichts dagegen. Er wollte auch ein paar Vögel. Ihr ging es dabei um die bäuerliche Ehre, die Wahrung und den Fortbestand ihrer Identität. Ihm um die Pflege seiner privaten Neigungen, in der Tradition des Vaters.
Mine stand frühmorgens auf und begann zu arbeiten. Wie sie es seit ihrer Kindheit im Hause Landmann kannte. Sie pflanzte, goss und erntete, sie kochte, buk und weckte ein, sie schrubbte und schrappte, schälte und entkernte, pflückte, jätete und verlas. Ihre Finger waren am Ende ihres Lebens krumm wie verdrehte Möhren.
In Schnücke versuchte ich später, etwas von ihrem Erbe in mir aufleben zu lassen. Das Bäuerliche, die Verbundenheit ihrer Hände mit der Erde. Etwas, was unabhängig von ihren miesen Bemerkungen war. (Zwar lehrte meine Mutter mich früh, dialektisch zu denken, doch dass auch jeder Mensch das Gute und das Böse in sich integriert, war ihr unbekannt. Ihr Menschenbild blieb ein eindimensionales, ihr Blick auf die Psyche vulgär und unterkomplex. (Das ist es wohl, was als »wenig differenzierte Objektrepräsentanzen« Eingang in meine Patientenakte gefunden hat.)) Anders als Klaus hatte ich ja genug Abstand und war deshalb vielleicht freier von Ambivalenz. (Im Teppich liegen Eltern und Kinder zu dicht beieinander.)
Klaus hatte die Gartenarbeit unter dem Spaten seiner Mutter gehasst, dabei vor allem: dass sie immer meckerte und unzufrieden war und ihn dabei aufs Gröbste beschimpfte.
In Schnücke (ich hatte damals eine kurze, aber intensive anthroposophische Phase und lebte in einer Art Landkommune) lernte ich, Kartoffeln anzubauen, Tomatenpflanzen zu pikieren, wie man ein Frühbeet mit Mist versorgt, Salat, Karotten, Kohlrabi und Rotkohl pflanzt. Ich erntete Pflaumen und Kirschen und Äpfel und Birnen. Ich lernte, große Töpfe zu kochen für die gesamte Belegschaft. Ich weckte ein und buk. Ich lernte, Rotkohl zu kochen und Klöße zu formen und eine Gans zu braten und zu servieren. Ich trug eine von Mines alten Schürzen. Ich setzte Stauden und sah meinen Rittersporn im Gewitter einknicken. Ich brachte es nie zu Mines Blütenpracht. (Aber ich spritzte auch nicht. Oder verleumdete Elke ihre Schwiegermutter, mit der sie sich immer gut verstanden haben will (»Mine Estor respektierte mich, weil sie wusste, dass sie mir nicht dumm kommen konnte. Ich war vielleicht die Einzige, die ihr nicht ins Gesicht log und das schätzte sie an mir. Und, dass ich anpacken konnte und keine Angst um meine Fingernägel hatte.«), als sie mir sagte, dass Mines Blütenpracht vom Dünger kam? (»ER spritzte. Er war das.«))
Ich spürte tatsächlich eine Verbundenheit. Und ich konnte verstehen, was Mine an ihrem Garten so glücklich gemacht hatte.
Klaus fand es albern, wie ich in der Gartenarbeit aufging. »Deine Oma hätte ihre Freude an dir.«
Ich flocht mein langes Haar zu Zöpfen, als ich unter Anthroposophen lebte. Elke meinte, ich lebte in Schnücke nicht nur in Mines Tradition. »Bis hin zu den Haaren. Machst du dein Landjahr?« Für Elke waren alle Anthros Nazis.
Oma Mine war eine Geschichtenerzählerin, eine Chronistin, ein »Schandmaul«. Sie zog über die Leute her, deklinierte ihre Beziehungen, Arbeitsstellen, Krankheiten. Empörte sich über Unanständiges. Klatschte und tratschte. Vermutlich konkurrierte sie um den inoffiziellen Titel Angesehenste Frau im Dorf. (Mit wem? Mit der Frau Pfarrer?)
Dass Oskar und Mine Estor nicht gerne in die Kirche gegangen waren, wurde darauf zurückgeführt, dass die Kirche sich im Nationalsozialismus »nicht rühmlich« benommen habe. So erzählte es mir Klaus.
Beschreibung eines Missverständnisses: Klaus sagte, seine Eltern hätten die Kirche für ihr »Verhalten nach dem Krieg« kritisiert. Ich verstand darunter: Meine Großeltern prangerten an, dass die Kirche ihre unrühmliche Rolle im Nationalsozialismus nicht kritisch aufarbeitete. Meinte Klaus es so? Nein. Er meinte, dass das Pfarrerpaar nach dem Krieg keine Flüchtlinge aufgenommen habe. (Das wiederum hatten seine Eltern getan und reihten sich damit moralisch oberhalb des Pfarrerehepaares ein.) Die Rolle der Kirche im Nationalsozialismus kritisierten Mine und Oskar nicht, sonst hätten sie ihre eigene Rolle mindestens ebenso stark kritisieren müssen.
Für mich war es selbstverständlich, dass meine Großeltern das Schweigen der Kirche angesichts von Krankenmorden und Judenverfolgung verurteilten. Aber nein: Mein Opa lehnte die Kirche als Institution ab, seine sogenannte Gottgläubigkeit war unter Nationalsozialisten weitverbreitet. (Noch strenger handhabte die SS die Beziehung ihrer Mitglieder zur Kirche: Ein Aufnahmekriterium in die SS war der Kirchenaustritt. Mein Großonkel Eugen Bierstich heuchelte deshalb 1947 in seinem Spruchkammerverfahren, er sei 1936 »aus freien Stücken« aus der Kirche ausgetreten.)
War es Klaus, der seine Eltern durch diese Erzähung entschulden wollte? Oder war es mein Ohr, das die Geschichte erst rund machte, die Großeltern unbedingt reinwaschen wollte?