17

Ich lag bei Spielvogel und weinte. Klaus hatte mir beim letzten Besuch von seiner Kindheit in Dornen erzählt. »Ich war ein vernachlässigtes Kind, Kissi.« Er formulierte es als Vorwurf, um meine Vorwürfe zu unterbinden.

Wir versuchen wieder einmal, eine Beziehung zueinander aufzubauen. Sofort übertreibt er es mit der Nähe. »Ich wurde ständig abgeschoben, Kissi. Ich war meiner Mutter lästig. Sie hätte sich nie zu mir gesetzt und mir zugehört.«

Ich lächle, schweige. Klaus plappert. Spricht von Iris, ihren Erfolgen, ihrer Darstellung von Richard Drei. Spricht von den Enkelkindern einer Nachbarin. Wie gut sie sich alle verstehen. Wie er die Zeit als »großer Vater« genieße. Nimmt dann abrupt eine Verteidigungshaltung ein: »Was willst du eigentlich? Machst du dich über mich lustig?«

»Ich will mich mit dir versöhnen.«

»Ach so.«

Stille.

Das beruhigende Summen-Brummen aus vergangenen Zeiten stößt mir nun sauer auf. Weiß und dick. Die rötlichen Bartstoppeln. Weich in seinen Armen. Elke verließ morgens das Haus und kam abends heim. Klaus war immer da. Er saß im Morgenmantel am Schreibtisch. Natürlich versteckte ich mich nur zum Spaß vor Elke. Damit sie nicht brüllte, weil ich wieder nicht in den Kindergarten gehen wollte.

»Toll, dass du dir vorgenommen hast, deine nahen Beziehungen wieder zu intensivieren. Das wird dir guttun.« (Warum fallen ihm immer bloß falsche Sätze ein?)

Seine Stimme dröhnt.

»War dir die Landkommune doch zu autoritär? Ich hab’s dir doch gleich gesagt.«

Ich habe mir fest vorgenommen, ehrlich zu sein. Offen und ehrlich. Doch mein Vater wird jede Information, die ich ihm anvertraue, spazierentragen. Wie eine Trophäe vor anderen in die Luft recken. Weil er unfähig ist, sie still in sich zu bewahren und die leise Wärme wahrer Nähe zu empfinden.

»Ich weiß nicht, was ich dir erzählen kann.«

Für mich bleibt es unmöglich, eine Distanz in der Nähe zu Klaus zu finden. Ich will mich für sein Bekenntnis eines frühen Traumas nicht mit einem intimen Bekenntnis revanchieren müssen. Diese Tyrannei der Intimität. (Noch bevor ich damals das Buch von Sennett gelesen hatte, war mir diese Figur schon allzu bekannt: Zug um Zug sich nackig machen vor dem anderen. Bis auf die Seele sich auszuziehen, um nur ein klein wenig Wärme zu bekommen. Doch immer bekam ich nur Aufregung und Leere im Nachgang. Es war die Verhinderung einer echten Verbindung. Es war Konkurrenz und Erpressung.)

Gewalt, die aus Nähe entsteht. Gewalt, die sich tarnt. Verleugnete Gewalt. Nicht geglaubte Gewalt. Ungesehen. Nicht anerkannt. Kleingeredet. Umgedeutet. Was hast du denn? Du übertreibst. Du irrst dich. Das stimmt nicht. Das hast du dir ausgedacht. Dies ist der schlimmste Satz: Das hast du dir ausgedacht. Um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Es sind Mines Sätze. Mines Angst davor, als Bauerntrampel verstoßen zu werden in der besseren Gesellschaft. Es sind Klaus’ Sätze geworden.

Auch ich war Klaus als Kind lästig gewesen. Stets zu laut, zu viel, zu anstrengend. (Ich will keine Mutter sein.)

Ich habe meine Fähigkeit, mich zu verändern, immer überschätzt. Ich entkomme meiner Haut nicht. (Wie meine Mutter in ihrem Voluntarismus stets felsenfest behauptet hatte, man könne frei wählen, was und wer man sei, es gebe für alles eine Lösung, so glaubte ich auch lange, dass nicht wahr sein müsse, was ich nicht wahrhaben wolle.)

Ich bleibe im Estor-Schneiderschen Teppich gebunden, gefangen.

Warum bekam meine Mutter Kinder? Alles Weiche, Schwache, Bedürftige lehnte sie ab. Hielt sie nicht aus. Machte sie aggressiv. Hatte es doch einmal die Sehnsucht gegeben, aufzubrechen und zart zu werden? Dreimal muss es sie gegeben haben. (Meine Existenz ist noch unwahrscheinlicher als die meiner älteren Geschwister.)

Ich habe mich immer gefragt, wie es sich für Elke angefühlt haben muss, schwanger zu sein, uns zu gebären und zu stillen. Aus Klaus bekam ich nichts raus, da er sich immer darauf berief, alles vergessen zu haben. »Das war alles ganz normal …«

Elke leugnete mir gegenüber, je irgendwelche hormonellen Schwankungen oder Stimmungen gehabt zu haben. Sie verfiel dann schlagartig in erbauliche Argumentationen: »Ich bereue nichts! Natürlich liebe ich euch! Es war die beste Entscheidung meines Lebens, Kinder zu kriegen!«

Kurz vor der Scheidung hatte sie eine Abtreibung. Kurz danach ließ sie sich die Gebärmutter rausnehmen. »Man muss wissen, wann es reicht.«

Als Elke mich in Schnücke besuchte, wollte ich sie mit meinem Glück provozieren. Mit meinem Hausfrauenglück, fernab vom Streben nach Anerkennung und Glanz durch Leistung. Demonstrativ ließ ich den ganzen Tag die Schürze an. Ich wusste, dass sie die handgestickte Aussteuer ihrer Mutter zur Hochzeit auf einem kleinen Scheiterhaufen verbrannt hatte. (Auf ihrer Verlobungstruhe stand: Heimat ist Segen und Bestand. Richtig müsste es heißen: Heimat ist Fluch und Verderben.) Mein langes Haar unökonomisch in allen Aspekten und eine zopfhafte Weiblichkeit zitierend, gegen die sie ihr ganzes Leben gekämpft hatte. Summend bürstete ich mich am Abend neben dem Korb voll Flickwäsche, während sie ihre Bierhumpen stürzte.

Ich kümmerte mich hingebungsvoll um den kleinen Dominic, den Sohn meines Mitkommunarden Torben. Er war ein ganz normaler Fünfjähriger, aber sein Verhalten war für Elke schlicht inakzeptabel. Dass er »permanent stört, überhaupt nicht hört«. Ich roch, wie gerne sie mir die Meinung gegeigt hätte und Dominic seine Grenzen aufgezeigt. Meine Sanftmut brachte sie zum Schnauben. Schließlich ignorierte sie ihn einfach. (Auch als er in die Brennnesseln fiel, während sie kurz nach ihm schauen sollte. Er weinte und weinte, sie stand unberührt neben ihm und grinste.)

Ich kochte, bediente sie am Tisch und garnierte alles mit einem Lächeln. Ich wartete auf ihren Zorn. So eine Mutter war sie nie gewesen. Sie hatte bei jedem kleinen Anlass, den sie nicht unter Kontrolle bekam, geflucht. Was sie kochte, war ungenießbar. Wenn sie einmal den Boden wischte, dann unter lautem Fluchen. Hausarbeit war ihr zuwider. Sie hielt Putzen für spießig, ja faschistisch. (Es waren die späten Siebziger, stupid.) Ihren Teller leckte sie nach dem Essen sauber, aß Spargel mit den Fingern und am Stück. An Sonntagen steckte sie sich zum Nachtisch eine an und benutzte ihr Glas als Aschenbecher. »Proletarische Kultur« nannte sie das. Eine postpubertäre Anti-Haltung gegenüber ihrem Elternhaus. (Der Reinlichkeitsfimmel ihrer Mutter Ilse war allerdings wirklich fanatisch gewesen, das gebe ich zu.)

Jetzt stand ich in Schürze vor ihr, den Wascheimer in der Hand, lächelnd, und hielt ihr einen Vortrag über die heilsbringende Wirkung intensiver Raumpflege. Doch es ging ihr am Arsch vorbei. (Und als sie endlich abgereist war, wusste ich nicht, worüber ich mich mehr ärgerte: über ihr Empathiedefizit oder mein ewiges Aufsiebezogensein.)

Ich hatte mich diebisch auf ihre Reaktion auf mein neues Ich gefreut. Doch auch sie hatte sich verändert. Seit sie nicht mehr arbeitete, war sie nicht mehr so angespannt. Es schien ihr in Schnücke sogar zu gefallen. Die Ruhe, die Landschaft. Und sie wirkte müde und abgekämpft. Auf das gewöhnliche Gesprächsfeuerwerk zur Begrüßung verzichtete sie. Kein Pumpen zur Erzeugung von Nähe. Ob sie sich irgendwo hinlegen könne? Eine Decke brauche sie nicht. Sie schien ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen. »Geht’s dir nicht gut, Mama?« (Ich hatte mir vorgenommen, sie nur noch mit »Mama« anzureden. Falls sie deshalb explodierte, wollte ich sie mit zurechtgelegten Stichworten erschlagen.) »Darf man als Rentnerin keinen Mittagsschlaf mehr machen, verdammt?« (Das war sie wieder, ihre normale Betriebstemperatur.)

Noch mehr als die katholische Kirche verachtete sie alle Esoterik. Dass ich nun Anthroposophin sein wollte, Rosenkranz-Meditationen nach Rudolf Steiner übte und das I Ging warf, musste sie zur Weißglut bringen. (Ich machte all dies nicht allein, um Elke zu provozieren. Auch – das will ich gar nicht leugnen –, doch sobald sie wieder abwesend war, spielte sie keine große Rolle innerhalb meiner praxisbezogenen Versuche, im Leben klarzukommen.)