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28. 7. 1941 Kulagina

Gestern gab es einen plötzlichen Aufbruch. Wir hatten uns auf einen ruhigen Sonntag eingerichtet. In der Mittagsstunde bekam ich den Befehl, in K. ein behelfsmäßiges Lazarett zu erkunden. Dabei traf ich den Divisionsarzt und es zeigte sich, dass dafür keine Notwendigkeit vorlag, sondern dass nur ein Lazarett für Russen eingerichtet werden sollte. Ein geeignetes Haus fand sich und inzwischen habe ich schon 60 Russen versorgt. Die Verwundungen waren schon mehrere Tage alt und sahen böse aus infolge schwerer Infektionen, zum Teil Gangrän und ein Gasbrand. Es gab deswegen mehrere Amputationen. Die ganze Arbeit kostete viel Überwindung – einmal der unangenehme (für unsere Nasen) spezifische Körpergeruch dieser Sibirier und Mongolen, dazu der infektiöse Gestank. Außerdem ist doch immer das Denken da, wie sie es mit unseren Gefangenen gemacht haben. Im Ganzen war es eine absolut unerfreuliche und unbefriedigende Mission. Inzwischen sind die Russen abtransportiert worden nach Duchowschtschina, wo zwei russische Ärzte ein Lazarett aufgemacht haben.

Unter den Sibiriern war einer, der von deutschen Eltern abstammte. Heinrich Wirth heißt er und spricht ein einwandfreies Deutsch. Er machte den Dolmetscher und musste uns unterrichten. Es sei ihnen gesagt worden, sie würden von den Deutschen geblendet, misshandelt und so weiter. Außerdem hätten sie ihnen erzählt, hier sei die deutsche Grenze. Er erzählte uns auch von dem Kollektiv – »Kolchos« heißt es bei ihnen. Tatsächlich gibt es da kein Privateigentum. Er arbeitet im Kolchos als Traktorist und verdient in der Woche 20 Rubel. Ein Paar Schuhe kosten 40 Rubel, ein Anzug 150 Rubel. »Wann geht es uns eigentlich gut in Russland?« »Nur den politischen Kommissaren«, heißt die Antwort.

Die Ausrüstung ist oft mangelhaft. Wir sahen gestern oft Stiefel, deren Schäfte aus Segeltuch waren. Koppel, Kinnriemen des dünnen Stahlhelms sind ebenfalls nur Gurte. Vom »Sowjetparadies« wird nun wohl der letzte Deutsche, der dies erlebt, kuriert sein.

Wie gut ist es doch, dass ihr nicht wisst, wie dieser Krieg, wo es kein Hinten mehr gibt, in Wirklichkeit ist. Er wird einmal ein gutes Ende finden und dann könnt ihr es wissen.

Täglich und stündlich Gegenangriffe der Russen, die immer erst dann zum Stehen kommen, wenn alle Russen tot sind. Es ist furchtbar, mit welcher Rücksichtslosigkeit die Russen in den Kampf gehetzt werden. Es gibt kein Zurück, nur ein Halt durch den Tod. Möglich ist es doch nur durch den ungeheuren Terror – hier die eingeredete Angst vor der deutschen Gefangenschaft und dort die Strafe für den Umkehrenden durch den Truppen-Kommissar. Was sind es doch für arme Menschen.

Das Gelände ist in großer Ausdehnung von einem Busch bewachsen, der doch zu nichts nutze ist. Was ließe sich hier rausholen, wenn das Land richtig aufgeforstet wäre oder zur Feldbestellung gerichtet würde. Der Boden ist sehr gut. Man kommt immer wieder auf den Gedanken, wie ungerecht doch die Welt aufgeteilt ist. Wie plagen wir uns um jedes Äckerchen und hier sind unübersehbare Flächen ohne Nutzung. Und was wäre dieses Land ein Gesegnetes, wenn es richtig geführt würde.

Die Bewohner des dicht bei uns liegenden Dorfes bringen jeden Morgen Milch. Eine Gegengabe lehnen sie meist ab. Warum, ist uns nicht ganz verständlich. Als sie die erste Milch brachten, tranken sie davon vor unseren Augen, um zu zeigen, dass sie nicht vergiftet sei. Sie machten das von sich aus, ohne unsere Aufforderung. Einen netten, kleinen Jungen habe ich behandelt, der einen Armbruch hatte. Sie eignen sich jetzt alle das Kollektivvieh an. Ihre Frage ist oft nach einem »Orts-Kommandanten«, besonders wegen der Einbringung der Ernte. Ihre Initiative scheinen sie durch den Kolchosbetrieb völlig verloren zu haben.

12. 8. 1941 Waldlager an der Straße Duchowschtschina-Smolensk

Gestern Nachmittag brachte ein Russe sein Kind, das von einem LKW angefahren worden war. Es hatte eine sehr schwere Verletzung der Genitale. Der Alte jammerte und weinte furchtbar und es schien ihm ernst zu sein. Als ich ihm bedeutete, dass ich den Jungen operieren wolle, fiel er vor mir auf die Knie, versuchte immer wieder, meine Hand zu küssen, bekreuzigte sich, spasiba (danke) noch und noch. Das Ganze eine erschütternde und beschämende Unterwürfigkeit. Und das ist das Verbrecherischste an dem System – finde ich –, dass es so unfreie, unterwürfige und erbärmliche Menschen möglich macht. Ich habe den Jungen operiert und dann im Dorf untergebracht. Der Alte wohnt an sich woanders. Ich war heute wieder da, will den Jungen täglich besuchen. Hoffentlich bringe ich ihn durch. – Auf die Art komme ich in ein russisches Haus. Eine Stube: Eltern und vier Kinder. Sie schlafen gemeinsam auf einer großen Pritsche neben dem Ofen. Eigentlich ist es sauber. Diese Familie macht überhaupt einen gepflegten Eindruck. Die Kinder machen einen frischen, gesunden Eindruck, sind alle blond wie die Mutter. Einer ist schon mein Patient, er hat den Unterarmbruch. Der Vater ist ein richtiger Russe. Sie sind verhältnismäßig anständig angezogen. Der Vater von dem schwerkranken Jungen ist wieder ein Beweis für das »Sowjetparadies«. Seine Hose besteht nur aus Lumpen.

Die Arbeit auf dem H.V.Pl. nimmt zu. Heute war ich während des ganzen Morgens beschäftigt. Leider habe ich einen Patienten, der durch eine Mine (Pneu und Gelenkschuss) verletzt war, trotz aller Mühen – wohl wegen der Schockwirkung – verloren.

Unser altes Lager haben wir nun verlassen. Vorgestern wurde es bekannt und gestern ging es los. Den Jungen, dessen Befinden ganz leidlich ist, habe ich noch mal verbunden und ihm eine Überweisung an ein Lazarett mitgegeben. Hoffentlich findet er einen verständnisvollen Helfer. Beim Abschied gab es viele Tränen und Dankbarkeitsbeteuerungen. In der letzten Zeit brachten sie täglich irgendetwas: Gurken, Tomaten usw. Die anderen brachten täglich frische Milch und Himbeeren. Ich denke immer, es ist ein gutes Volk und was müsste bei einer guten Erziehung alles mit ihnen zu leisten sein. Es ist mir jetzt auch klar, warum in den Hausgärten keine Blumen sind, denn im Haus sind immer welche, mindestens ein Gummibaum. In den Gärten stehen Kartoffeln. Es ist ihr geringer Privatbesitz, dessen Ertrag ihnen gehört. Alle Äcker gehören in den Kolchos. Da sind Kartoffeln natürlich wichtiger als Blumen. Sie sind jetzt überall beim Einbringen der Ernte, die von deutschen Ortskommandanten beaufsichtigt wird. Sie mähen alles mit Sicheln, selten sieht man mal eine Sense.

Die Organisation Todt ist fleißig am Werk und bringt die Straße in Ordnung. Überall wird an den Wegen gearbeitet. Bau Batl., R.A.D., O.T. – es ist fabelhaft, das alles zu beobachten. Die Brücken sind schon in Ordnung. Eine wunderbare Organisation ist es. Interessant sind immer wieder die Stuka-Krater, direkt neben der Straße, von der sie alles wegfegen und die für den eigenen Vormarsch unbeschädigt bleibt.

20. 8. 1941 Lager bei Gorodok

Witebks ist wohl die uns bekannte Stadt, die am allermeisten zerstört ist, aber auch alles ist kaputt. Viel Leben ist schon wieder: viele Soldaten, aber noch mehr Zivilisten, vor allem Frauen und Mädchen, zum Teil ordentlich angezogen und sichtlich bemüht, den deutschen Landsern zu gefallen. Wie schnell vergisst doch der Mensch. Und mit der Ehre und Würde ist es doch scheinbar recht zweifelhaft. Ein Soldatenkino gab es schon. Dichte Etappe im Übrigen. Schirmmützen, lange Hosen usw. Witebsk muss eine schöne Stadt gewesen sein.

Heute haben wir vom ersten Auftreten von Partisanengruppen gehört. Heute Nacht haben sie bei Newel eine Brücke gesprengt. Versprengte russische Kavallerie ist auch dort beobachtet worden. So unangenehm es für uns ist und so selbstverständlich unsere Gegenmaßnahmen sind, die Russen stellen sich damit ein gutes Zeugnis aus.

25. 8. Auf der Straße zwischen Ilmen- und Peipus-See

Wir sind täglich weitermarschiert, zunächst weiter nach Norden und von Ostrov an in ostwärtige Richtung. Dno war eine der Städte, die wir durchfahren haben, weiter Porchow, Szoltzy, Moschaga (letzter Rastplatz) und jetzt Richtung Minjuschi. Die Städte waren sich alle gleich, d. h. alle zerstört. Es ist immer das gleiche Bild. Die etwas gehobenere Kulturstufe dieses Gebietes sieht man auch an der größeren Zahl von Steinhäusern, aber sie sind jetzt alle Ruinen. Es ist hier schwer gekämpft worden, viele Gräber, zerschossene Wälder, alle Dörfer – oft bis aufs letzte Haus – ausgebrannt. Es stinkt noch immer nach Rauch und Verwesung.

31. 8. 1941 Szablino

Gerade beerdigen wir einen Kameraden, den ich gestern Abend operiert habe (li. Arm und Bein hat er durch Artillerie verloren). Unser Gefreiter Märker hält die Ansprache. Er macht es sehr ordentlich. Wozu das nur alles! Welcher Irrsinn ist doch ein Krieg.

Wenn ihr nur recht gesund bleibt. Wie weit ist alles Gute und Schöne. Wie glücklich wird die Zeit sein, in der wir wieder zusammen sind und alles, was jetzt nur Traum und Wunsch ist, ist wieder Wirklichkeit. Bleibt nur immer tapfer, du Liebstes. Und vergiss mich nicht, sonst ist alles umsonst gewesen. Ich habe euch unendlich viel lieb. Meine guten Wünsche sind immer bei euch.

10. 9. 1941 Mga (südöstlich Schlüsselburg)

Auf dem Rückmarsch von der Newa hatten wir noch einen erschreckenden Eindruck: Dort lagen auf einem engen Raum tote Russen in Mengen, Pferde, Waffen – ein richtiges Bild der Zerstörung. Russische Frauen kamen gerade vorbei, sahen die Toten an und lachten und gingen weiter. Man kommt nicht hinter die Seele dieses Volkes. Wie sorgte sich damals der Vater um sein verunglücktes Kind, wie gefühllos hier und wie gefühllos beerdigten sie in Minsk ihre Toten. Es lässt sich nicht zusammenreimen.

19. 9.

Vor drei Tagen sind wir durch den 2. Zug abgelöst worden. Es war höchste Zeit, denn wir konnten nicht mehr. Zugänge kamen ohne Unterbrechung, fast alle sehr schwer verwundete. Von den über 200 Durchgängen waren 10 gestorben. Es war zum Verzweifeln. Ich war ganz mutlos. Jetzt habe ich ein paar Tage Ruhe, das macht wieder gefasster.

Ob man das Erleben auf dem H. V. P. wohl jemals wieder loswird? Wie schreckliche Verwundungen waren gerade hier, wie furchtbar das viele Sterben! Bei uns geht nur ein Teil der Div. durch. Die 2. Kompanie ist ebenfalls eingesetzt.

Wie glücklich wird die Zeit, in der ich wieder bei euch bin. Und dann hat diese Zeit ihren Sinn gehabt. Vor was für Unmenschlichkeiten und Unvorstellbarem hat sie euch in der Heimat behütet. Denn dass die Russen einmal ihre Welteroberungsidee zu verwirklichen geführt hätten, ist unsere feste Überzeugung. Dafür haben wir zu viele Beweise gesehen, wie sich alles und alles in Russland um Militär und Rüstung gedreht hat. Gott sei Dank, dass wir ihnen zuvorgekommen sind. Vielleicht hätten wir ein paar Jahre später die Dampfwalze nicht mehr aufhalten können. Was das für Deutschland bedeutet hätte, ist nicht auszudenken.

5. 10. 1941 Mga

Gestern Morgen haben wir unseren Zügen den Aufruf des Führers vorgelesen. Wie zuversichtlich klingt er. »Die letzte große Entscheidung vor Einbruch des Winters hat begonnen!« Vielleicht kapituliert der Russe doch noch und sieht die Sinnlosigkeit ein! Es wäre wunderbar, nach Hause zu kommen – bald – und mit dem Bewusstsein, dass dieser Feldzug zu Ende ist.

1. Bauchschuss: 3 Löcher im Magen, 2 im Quer-Kolon, vor 5 Tagen operiert, geht es sehr gut, beim 2.: Leberriss und Oberarmamputation vor 4 Tagen, geht es ebenfalls gut. Von den Seegerschen ist der mit der Kolonperforation gestern gestorben. Den anderen geht es gut. Gestern habe ich einen Brustschuss operiert: zweihandtellergroßes Loch, Herzbeutel völlig frei liegend, Verschluss mit Rippenresektion ließ sich gut ausführen. Es geht ihm heute gut.

Seit gestern Morgen sind wir wieder eingesetzt und haben bis heute Morgen schon über 100 Durchgänge gehabt. Jetzt sind es wohl etwa 130. Von gestern Morgen 11 Uhr bis in die Nacht gegen 5 Uhr haben wir ohne Pause gearbeitet, dabei waren 6 Amputationen und 2 Bauchschüsse, einer mit mäßiger Aussicht und einer, bei dem ich wegen ausgedehnter Zerreißung des Dickdarms wieder zunähen musste. – 6 Tote heute Morgen. – Es ist gut, dass die Zeit fehlt, um sich über die Vorgänge richtig klar zu werden. Aber es ist doch furchtbar. Tote, Siechtum und Krüppel! Ob man es je vergessen kann? Und es kostet Nerven. Dazu kamen noch heute Nacht mehrere Bombenangriffe, wobei wir zwar Glück hatten, trotzdem es nahe war und wir die Bomben rauschen hörten. Dabei dann am Op.-Tisch stehen und ruhige Hand und Nerven zu bewahren.

Heute war die Arbeit nicht so schlimm. Eine sehr schwere Verletzung: Spaltung von Unterlippe bis zum Brustbein bis auf Trachea und Zungengrund durch Unterkiefer hindurch. Die primäre Versorgung nicht schwer, doch wie wird es weitergehen? Wie viele werden überhaupt noch sterben von denen, die bei uns durchlaufen?

Folgender Vorgang: Ich lese das Kriegstagebuch meines Großvaters. Anschließend versuche ich, meine Eindrücke schreibend wiederzugeben. Dabei bemerke ich, dass ich ihn durch die Art meines Sprachgebrauchs entschulde. Allein, dass ich mich in ihn, in das von ihm Erlebte, hineinversetze, lässt mich seine Haltung übernehmen. Doch ich will mir seine Entschuldungsstrategie nicht unbewusst aneignen. Ich will die Information vom Gefühl trennen. Und das Verschwiegene erkennen und benennen.

Etwa dieser Satz: »Es fehlte auch bald an Verbandszeug und sauberem Wasser.« Er scheint mir verdächtig und ich lasse ihn nicht stehen. Das »Es fehlte« suggeriert einen bemitleidenswerten Mangel. Doch was ist traurig daran, dass die deutsche Kriegslogistik mit den Konsequenzen ihres Angriffskrieges überfordert war?

Ich bin auf der Hut. Ich will den Blick meines Opas nicht unkritisch übernehmen. Zu leicht folgt daraus ein Dethematisieren der wahren Opfer.

Zu keinem Zeitpunkt wurde mein Opa zu irgendetwas gezwungen, auch wenn er später einsehen musste, dass er auf Hitler reingefallen* war, dass es ein Angriffskrieg gewesen war, dass sie sich schuldig gemacht hatten – er hatte es gewollt. Er war heiß erfüllt gewesen vom Glauben an Hitler und der Notwendigkeit des Krieges.

*auf Hitler reingefallen – auch hier verbirgt sich ein Entschuldungsversuch. Hitler verbarg ja nichts. Die Propaganda lautete zwar, dass es ein Verteidigungskrieg sei, doch mein Opa schreibt selbst, wie überrascht die sowjetischen Soldaten sich zurückgezogen hätten. »Die Suppe in der Kaserne noch warm auf dem Teller.«

Über die Traumatisierung meines Großvaters zu sprechen, heißt für mich, über seine Schuld zu schweigen. Ich kann nur dann über ein mögliches Trauma nachdenken, wenn ich zunächst über seine Verantwortung nachdenke. Er war kein Opfer. Er wollte diesen Krieg. Er glaubte an die Höherstellung seiner Rasse.

Das Lachen der an einem Massengrab vorbeilaufenden Frauen interpretierte er als verrohten Zug, der die Unmenschlichkeit des Sowjetsystems beweise. (Lagen erschossene Juden darin? Mein Opa war unter anderem in Witebsk mit seiner Einheit. Dort wurden viele Tausend Juden ermordet. (Zahl prüfen.))

Er nahm auch an der Belagerung Leningrads teil. In seinem Tagebuch wundert er sich immer wieder darüber, dass sie den Angriff nicht starten, hinterfragt kurz die militärische Strategie. Aber auf Hitler lässt er nichts kommen. Dessen Worte im Radio findet er »ermutigend« und schöpft daraus »Kraft«.

Litt mein Opa später an einer Posttraumatischen Belastungsstörung? Verfolgten ihn Bilder extremer Gewalt, bedrohlicher Situationen? In welchem Zusammenhang stehen dazu seine eigenen Gewaltausbrüche gegenüber seinen Kindern, insbesondere gegenüber Erika?

Elke meinte einmal, Oskar Estor sei früher »ein jähzorniger Mann« gewesen. Ich konnte es nicht glauben. Für mich war mein Opa vor allem schwach und gutmütig. (Eine Assoziation drängt sich mir dazu auf: sein immer korrekt gezogener Scheitel. Streng gezogen, mit einer Paste fixiert, die in einer grün-orangenen Tube im Bad lag. (Angeblich verwechselte einmal ein Kind diese Tube und drückte sie als Zahnpasta auf die Zahnbürste, begann zu putzen und schrie sogleich verstört durchs Haus. Die Erwachsenen lachten und erzählten auch später lachend immer gerne davon. War ich das ausgelachte Kind? Mein Bruder? Meine Cousins? Wir alle und jeder Einzelne von uns?) Ein penibler Scheitel, die gewichsten Wehrmachtstiefel dazu, die Pfeife im Mundwinkel.)

Nein. Jetzt sehe ich seinen Jähzorn deutlich vor mir.

Die verschwiegene, die geleugnete Gewalt in der Familie Estor ist als Gefühlserbe an die nächsten Generationen weitergereicht worden.

»Der arme Stabsarzt, der so viel Schreckliches in Russland sah.«

Noch am 16. März 1945 schreibt Oskar in einem Feldpostbrief an Mine: Gäbe es doch erst mal ein Anzeichen für eine Wendung. Nach dem Rückzug der Wehrmacht aus der heutigen Ukraine, Belarus, Russland und Estland arbeitete er da als Arzt in einem Lazarett bei Dresden. Und glaubte weiter an die Möglichkeit zu siegen. (Jedoch auch, sehr untypisch für ihn: Ich bin manchmal wie gelähmt.)

Es ist das (sicher übernommene) Narrativ meiner Schwester Iris, dass unser Opa als gebrochener Mann aus Russland heimkehrte. Wie alle Narrative meiner großen Schwester hatte auch dieses für mich lange Wahrheitscharakter. Morphiumsüchtig sei er heimgekehrt. Für mich schien das plausibel. Doch es stimmt nicht. Hoffnungslos und enttäuscht war er, aber nicht gebrochen. Die vorübergehende Morphiumsucht entstand achtzehn Jahre später als Behandlungsfolge seines Herzinfarkts.

Nach außen schien mein Opa liberal, versöhnlich und verständnisvoll. So stellte er sich auch in seinen Reden auf Familienfeiern dar. Demgegenüber stand die Rezeption dieser Darstellung durch meine Eltern. (Warum die starken Affekte meiner Eltern auf den Heimfahrten in unserem gelben Peugeot?) Ich verstand nicht: Was regte meine Eltern so auf? Ich fand meine Eltern gemein. Meine Großeltern waren doch lieb …

Oskar Estor hielt sich im Bund mit seiner Frau Mine für einen Wohltäter. Er schämte sich nicht zu betonen, dass die Estors sich der Schwächeren annähmen.

In der Rückschau beteuert mein Opa immer wieder, die Anfänge des Nationalsozialismus seien harmlos gewesen. Beim besten Willen will er keinen Zusammenhang zwischen der jungen Bewegung und den Leichenbergen sehen. Erst sei alles unverdächtig gewesen, also kein Grund sich zu schämen, dabei gewesen zu sein, und plötzlich habe man nichts mehr dagegen machen können und sowieso sei alles und jeder absolut machtlos gewesen, dem Nationalsozialismus etwas entgegenzusetzen.

Wie entstand der Mythos, Oma Mine habe Juden Suppe über den Zaun gereicht? Wie gelangte er in meine Ohren oder in meinen Kopf? Wer hatte ein Interesse daran, sie zu entschulden?

Iris sagt, Mine habe gesagt, ihr sei spätestens mit der Plünderung der Jüdischen Schule in Roseneck klar gewesen, dass es »kein gutes Ende« nehmen würde. (Natürlich verfälsche ich hier, da ich mich an Iris genauen Wortlaut nicht erinnere. Und auch Iris’ genauer Wortlaut wird keine genaue Wiedergabe Mines genauen Wortlauts gewesen sein.) Sagte sie, dass sie ab da gewusst habe, der Nationalsozialismus sei falsch?

Das Klavier sei aus dem Fenster geworfen worden. Oma Mine war Augenzeugin, als die Jüdische Schule in Roseneck verwüstet wurde.

Zwar steht in Oskar Estors Memoiren, dass Mine den »Nat-Soz.« aus vielerlei Gründen ablehnte, aber ich glaube es nicht. Im Nachhinein sicherlich, währenddessen nicht. Woher hätte sie auch den Mut genommen? Sie wollte hinein in die bessere Gesellschaft. Da hätte sie ihrem Schwiegervater Julius Estor, dem Herausgeber der Zeitung, ihre Kritik am Nationalsozialismus darlegen sollen? (Zudem waren die sonntäglichen Mahlzeiten im Hause Estor bis in meine Jugend gespickt mit rassistischen Bemerkungen.)

Oskar Estor wäre 1963 fast an einem Herzinfarkt gestorben. Er soll zu fett gegessen und zu viel geraucht haben. Der Stress, die Landpraxis, immer in ärztlicher Bereitschaft. Der Infarkt kam auf der Rückreise vom Urlaub. Er versuchte, die aufkommenden Schmerzen mit dick gestopften Pfeifen zu unterdrücken. Es war der Sommer 1963.

Nur zu gerne will ich glauben, die Herzschwäche sei Ausdruck eines sensiblen Wesens gewesen. Dass in meinem Opa doch ein Unrechtsbewusstsein schwelte, dass er mit dem strengen, strikten, schaffenden Leben nicht übereinstimmte.

Dass die Schuld an ihm nagte.

Oskar Estor starb später unter Qualen. Die Medikamente wirkten nicht. Er fand keine Ruhe, wollte immer wieder aufstehen, zu seinem Schreibtisch gehen. Er hatte nicht abgeschlossen. Er hatte das Unaussprechliche zu fest in sich verschlossen. Es war nicht verwest in ihm und wollte auch seinen Tod überleben.

Es war das Jahr des ersten Auschwitzprozesses.

Richard, Erika und Klaus halten das für Quatsch. Mir kommt er auf den kurzen Filmsequenzen aus diesen Jahren so schwach, so unsicher vor.

Oskar ignorierte seine Symptome, bis der Herzinfarkt ihn fast dahinmähte. Dann trat der schlimmstmögliche Besucher und Behandler auf: Eugen Bierstich. (Selbst wenn meine Großeltern im juristischen Sinn unschuldig geblieben sein sollten: Sie deckten Bierstich.)

Eugen Bierstich ist ein Randphänomen in der Betrachtung der Estor-Schneiderschen Unglücksstrukturen (Schuldstrukturen. Wehret dem Opfermythos!) Ja, es wäre schön, ihn als einen Außerhalben zu lesen, diesen SS-Mann und Vergewaltiger. Vielleicht könnte man glaubwürdig behaupten, Mines Hass auf ihn rührte daher, dass er zeitlebens ein Nazi geblieben war. (Was ihn nicht daran hinderte, ein angesehener Bürger Rosenecks und der BRD zu werden. Fast hätte er auch noch das Bundesverdienstkreuz ergattert.) Es hieße aber, sich etwas vorzumachen.

Seine Mutter, meine Urgroßmutter Änneke Landmann, war die Unschuld vom Lande. Bis sie zum Maifest ging und sie dort verlor. Sie war entflammt in Liebe zu einem lustigen Lohgerber. Eugen Bierstich (Senior). Er feierte, trank und reiste viel. Die Eltern klärten sie auf. Nur Heirat konnte ihren Fall stoppen. Der Lohgerber, der in Würzburg weilte, wollte von Konsequenzen nicht viel wissen. Er mochte die hübsche Änneke schon gerne. Nur eine Frucht wollte er mit dieser nicht haben. Bei »Hochzeit« stellte er sich ganz taub.

Die Eltern meiner Urgroßmutter und die Eltern des Mannes, durch den sie fiel, sie wollten keinen Skandal. Sondern einen lieben Enkel und Stammhalter. Ernste Briefe nach Würzburg. Dort scherte Eugen sich nicht drum.

In Roseneck setzten sie eine Verlobungsanzeige in die Zeitung. Änneke war trotz allem ganz guter Hoffnung. Die Ehre fast schon gerettet, der Mann bald ihr, das Kind so lebendig im Bauch. Doch die Heirat platzte. Ob’s auch am Willen fehlte, wird keiner je erfahren. Eugen starb. Plötzlich und unerwartet. Herzmuskelentzündung. Änneke Glück? Änneke Pech? Das Kind wurde nicht in Schande geboren.

Eugen Bierstich ist genau genommen nicht mein Onkel, sondern mein Halbgroßonkel. Er ist der Halbbruder meiner Großmutter Mine. Sie teilten sich dieselbe Mutter, meine Urgroßmutter Änneke Landmann, geborene Wollhose. Änneke Wollhose war vielleicht der einzig couragierte Mensch in meiner Familie. Dass ich Onkel Eugen trotzdem Onkel Eugen nenne, hat zwei Gründe: Zum einen spricht es sich so gut: »Onkel Eugen«. Wenn man dieses »Onkel Eugen« auf eine bestimmte Weise betont – etwas bollerig-berlinerisch, derb wippend, mit komischer Konnotation –, dann charakterisiert der Klang den bezeichneten Menschen, also Onkel Eugen, gleich ein wenig mit.

Zum anderen nenne ich Eugen Bierstich meinen Onkel, weil ich ihn auf mich nehmen will. Ich will ihn näher an mich heranziehen, als ich durch den eigentlichen Abstammungsgrad verpflichtet wäre. Die Distanzierung von Onkel Eugen, von seinen Taten, mache ich nicht mit. Ich will seine Gewalt nicht durch pointierte Stories decken.

Onkel Eugen war ein Säufer und ein Schwätzer, eine Witzfigur und ein Verbrecher. Wenn in meiner Verwandtschaft über »Onkel Eugen« gesprochen wurde, folgte eine Zote, eine Haudegengeschichte oder eine Hasstirade. Kulenkampff soll er eine Ohrfeige verpasst haben, Ferdinand Sauerbruch auf Händen durch den Ballsaal der Berliner Charité getragen …

Onkel Eugen war eigentlich zu klein, um in die SS aufgenommen zu werden. Weil aber Mediziner immer gebraucht wurden, nahmen sie ihn trotzdem. Nichts an ihm sah germanisch aus. Seinen runden Schädel mussten sie im Formular als »ostisch« klassifizieren. Er war von gedrungener, dicklicher Statur. In seinen frühen Studentenjahren war er Mitglied einer schlagenden Verbindung. Drei tiefe Schmisse zogen sich durch sein Gesicht.

Dieses Gesicht konnte man nicht vergessen. Es gab einige, die ihn gern am Galgen gesehen hätten nach 1945. Im Konzentrationslager Sachsenhausen war er seit den Anfängen ein- und ausgegangen. Mit den Männern der Wachmannschaft hatte er gesoffen. In Theodor Eickes Villa war er Gast, nannte ihn »Papa Eicke«. Er kannte die Genickschussanlage, im Krankenbau half er aus. Während seiner militärischen Ausbildung wohnte er in einem der kleinen Häuschen der SS-Siedlung gleich neben dem Lager. Er absolvierte seine militärische Grundausbildung im SS-Totenkopf-Verband Brandenburg. Auch in der Nacht vom 9. auf den 10. 11. 1938 war er im Dienst.

Eugen ging 1931 nach Berlin. Er trat 1933 in die SS ein. Als Mitglied einer SS-Sanitätsstaffel nahm er an Schießübungen und weltanschaulichen Schulungen teil. Er war dabei, als in Berlin Straßenschlachten stattfanden. Sicher hat er an der Bücherverbrennung teilgenommen. Der Reichstagsbrand, die »Machtergreifung« Hitlers, das müssen erhebende Momente für ihn gewesen sein.

Keiner, der die ersten Monate der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 in Berlin beobachtete, konnte das Moment tödlicher Traurigkeit, des halbwissend einem Unheilvollen sich Anvertrauens übersehen, das den angedrehten Rausch, die Fackelzüge und Trommeleien begleitete. Wie hoffnungslos klang nicht das deutsche Lieblingslied jener Monate, »Volk ans Gewehr«, in der Passage Unter den Linden. Die von einem Tag zum andern anberaumte Rettung des Vaterlandes trug den Ausdruck der Katastrophe vom ersten Augenblick an, und diese ward in den Konzentrationslagern eingeübt, während der Triumph in den Straßen die Ahnung davon übertäubte.

Mein besoffen in schwarzer SS-Uniform marschierender Großonkel, 1933 grölend in Berlin, »halbwissend einem Unheilvollen« sich anvertrauend? Vielleicht war er nicht siegessicher, er wollte einfach kämpfen, er hatte Lust am Rausch und am Größenwahn. Vielleicht eine Todessehnsucht, im Zweifel war ihm alles scheißegal, für den Moment des Höllenfahrtkommandos wollte er leben. Unbedingt völlig verantwortungslos gegen sich selbst und alle anderen.

Betr. Ermittlungsverfahren gegen SS-Hstuf. d. R. Dr. Eugen Bierstich wegen Notzucht

Auf Befehl des Brigadekommandeurs wurden bei den Absetzbewegungen zwei estnische Angestellte des SD (Schwestern) vom SS-Feldlazarett mitgeführt, um sie nach Deutschland in Sicherheit zu bringen. Die eine Estin versuchte am 22. 9. 44 in Pernau sich zu ertränken. Der Grund soll der sein, dass SS-Hstuf. Bierstich mit Gewalt den Beischlaf an ihr vollzog, während SS-Hscha Müller sie festhielt. Eine ärztliche Untersuchung der Estin wurde veranlasst. Eine Vernehmung der Beteiligten konnte wegen des Einsatzes noch nicht erfolgen.

Es läuft ein Antrag auf Beförderung des SS-Hstuf. Lottermann zum SS-Sturmbannführer.

*

Beurteilung über den SS Hauptsturmführer Dr. Eugen Bierstich

SS Hauptsturmführer Dr. Bierstich ist als Komp. Chef der SS-Sanitätskompanie seit Januar 1944 eingesetzt.

Er ist eine Persönlichkeit mit Charakterstärken und -schwächen. Seine Charakterstärken äußern sich in Willensstärke und Mut. Seine Schwächen dagegen, dass er bei Alkoholgenuss nicht immer Maß halten kann und dadurch im Übermut Handlungen ausübt, die er später bereuen muss. Eine andere Schwäche besteht darin, dass er als Disziplinarvorgesetzter in vielen Fällen nicht Strafzuweisung und Vergehen in ein Gleichgewicht zu bringen weiß.

Bei guter körperlicher Gesundheit ist seine geistige Veranlagung eine überdurchschnittliche. Seine dienstlichen Kenntnisse und Leistungen sind den Anforderungen voll entsprechend.

Sein Benehmen und Auftreten gegenüber Vorgesetzten ist militärisch korrekt, gegen Untergebene lässt es dagegen zu wünschen übrig.

Weltanschaulich gefestigt, hat er eine sehr überzeugende und gute Vortragsart.

B. hat sich vor dem Feind bewährt und wurde wegen besonderer Tapferkeit mit dem E.K.1. und 2. Klasse und dem Sturmabzeichen ausgezeichnet.

SS Hauptsturmführer Bierstich ist Facharzt der Inneren Medizin, jetzige Dienststellung wird in jeder Weise ausgefüllt.

Eine Verwendung als Facharzt in nächst höherer Dienststellung würde voll ausgefüllt sein.

Strafen: 28. 4. 1944 acht Tage Stubenarrest.

Die in der Beurteilung angeführten Mängel sind verschiedentlich besprochen worden.

*

Spruch:

Der Betroffene wird in die Gruppe 4 »Mitläufer« eingereiht.

Begründung:

Der öffentliche Kläger beantragte in der Klageschrift vom 5. 3. 48 Einreihung des Betr. in die Gruppe 1 der »Hauptschuldigen«.

Mit seinem Beitritt zur NSDAP beschränkte sich seine Mitgliedschaft lediglich nur auf das Zahlen der Beiträge. Infolge seiner Zugehörigkeit zur SS gehörte der Betr. einer Organisation an, die lt. Nürnberger Urteil für verbrecherisch erklärt wurde. Der Betr. trat im Jahre 1933 dem NS-Studentenbund bei, wurde nach Beendigung des Studiums nach dem Sommersemester automatisch der Partei zur Verfügung gestellt. Da für die Aufstellung eines San.-Sturmes der SS geworben wurde, entschloss sich Dr. B., dieser Werbung Folge zu leisten und in die SS einzutreten. Im April 1937 erfolgte die Beförderung zum SS-Uscha., womit gleichzeitig die Wahrung der Geschäfte des Sturmbannarztes verbunden waren.

Sein hohes Amt als SS-Sturmbannführer hebt ihn über den nominellen Nazi hinaus und lässt von diesem Gesichtspunkte aus eine Einreihung in die Gruppe der Mitläufer als ungerechtfertigt erscheinen. Da sich aber seine Tätigkeit für die SS offensichtlich auf das unbedingte Maß der damit verbundenen sachlichen Pflichten beschränkt hat und auch kein brutales und völkerrechtswidriges Verhalten nachgewiesen werden konnte und somit auch die Tatbestände der Art. 5 bis 9 BG nicht erfüllt sind, sah die Kammer von der Einstufung in die Gruppe der Minderbelasteten ab. Zur Anwendung des 2. Änderungsgesetzes hat die Kammer den Standpunkt vertreten, dass der Betr. einer besonderen Bewährung in einer Bewährungsfrist nicht mehr bedarf, da er eine dreijährige Internierungshaft hinter sich hat. Die Kammer sah die Bewährung für erfüllt an. Der öffentliche Kläger hat dementsprechend plädiert.

Im Anbetracht der schlechten wirtschaftlichen Lage und der völligen Mittellosigkeit des Betr. wurde der Sühnebetrag entgegen dem Antrag des öffentlichen Klägers, der DM 100,-- beantragt hatte, von der Kammer mit DM. 50,--festgesetzt.

Die Kosten und Auslagen des Verfahrens hat der Betroffene zu tragen.

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An den Herrn Vorsitzenden der Spruchkammer Roseneck

Der mir auferlegte Sühnebetrag von DM 50,-- wurde am 14. 06. dieses Jahres an die Staatskasse eingezahlt.

Die bei einem Streitwert von DM 4.800 sich ergebenden Kosten von DM 148,50 bitte ich mir aufgrund der geltenden Bestimmungen aus folgenden Gründen zu erlassen:

1. Ich bin Flüchtling im Sinne des Gesetzes und habe mein gesamtes Vermögen einschließlich Praxis- und Wohnungseinrichtung sowie mein Bankkonto im Osten eingebüßt.

2. Ich war während des ganzen Krieges an der Front, wurde dreimal verwundet und gehöre der Versehrtenstufe II an. Rentenverfahren wurde nicht beantragt.

3. Ich wurde erst in diesem Jahr aus Gefangenschaft und Internierung entlassen und habe bisher noch keinerlei Möglichkeit gefunden, meinen Beruf als Facharzt wieder aufzunehmen. Ebenso besteht in absehbarer Zeit voraussichtlich keine Möglichkeit zu einem geregelten Erwerb.

4. Ich besitze zurzeit keinerlei Vermögen oder sonstige Sachwerte und lebe vorläufig von geringen Unterstützungen meiner Angehörigen.

Hochachtungsvoll

E. Bierstich

*

Betr.: Dr. med. Eugen Bierstich

Dem Antrag des Betroffenen auf Niederschlagung der Kosten kann nicht entsprochen werden. Der Betroffene gibt an, Flüchtling zu sein. Nach seinen eigenen Angaben im Meldebogen war er bis 1945 in Berlin ansässig und kann somit nicht die Rechte eines Ostflüchtlings in Anspruch nehmen.

Wenn der Betr. ferner, wie er angibt, kriegsversehrt ist und trotzdem keinen Rentenanspruch erhebt, so kann daraus erkannt werden, dass diese bewusste Unterlassung des Betr. mit dazu beitragen soll, eine Niederschlagung der Verfahrenskosten zu rechtfertigen.

Die Kosten sind auf jeden Fall einzuziehen. Eine evtl. Stundung und Ratenzahlung wird von mir befürwortet.

*

Er war stets ein pflichtbewusster und gewissenhafter Arzt, sodass selbst die Patienten mit Begeisterung und Hochachtung über seine Tätigkeit und Behandlung sprachen. Da wir in einem Hause wohnten, waren wir sehr viel in meiner Wohnung zusammen und haben des Öfteren ausländische Sender abgehört. Mir ist nicht bekannt, dass sich Herr Dr. Bierstich irgendwie politisch hervorgetan hat.

Er war kein Anhänger von Gewaltpolitik; ich habe ihn auch nicht für einen Judenfeind gehalten, zumal er mehrere Jahre Assistent in einem Privatkrankenhaus war, das der Witwe eines Juden gehörte. Über jüdische Patienten hat er keine abfälligen Bemerkungen gemacht.

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Besonders als Stationsarzt nahm er sich aller Patienten in vorbildlicher Weise an und betreute sie alle gleichmäßig, ohne in politischer Hinsicht einen Unterschied zu machen. Herr Dr. B. betreute mit besonders menschlichem Verständnis diejenigen, die teils aus rassischen, teils aus politischen Gründen in einem Lager waren und aufgrund ihres reduzierten Ernährungszustandes um eine Lebensmittelzulage gebeten hatten. Die Kranken waren offiziell vom Lager geschickt.

Aus seiner absolut negativen Einstellung der Partei gegenüber machte Herr Dr. B. kein Hehl. Er hat oft offen, ohne Rücksicht auf seine Umgebung, auf die Partei geschimpft.

Wenn von Assistenten oder Patienten bekannt wurde, dass sie politisch oder auch im Zusammenhang mit der Wehrmacht Schwierigkeiten hatten, zeigte er sich betont von der menschlichen Seite.

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Herr Dr. Bierstich war nicht nur zu jeder Zeit den ihm unterstellten Angehörigen seiner Komp. ein fürsorglicher und gerechter Vorgesetzter, sondern hat sich auch als Arzt und Komp.-Chef in jeder Weise vorbildlich für alle anfallenden Verwundeten eingesetzt. In nie ermüdender Einsatzbereitschaft hat er Tag und Nacht alle in seinem zu betreuenden Kampfabschnitt anfallenden Verwundeten, gleichgültig ob Freund oder Feind, auf seinen Hauptverbandplätzen aufgenommen und für ihre einwandfreie Versorgung und ihren Rücktransport Sorge getragen.

Ich erinnere mich persönlich, dass ich an einem Tage nicht weniger als 320 kriegsgefangene russische Verwundete, die in dem von Dr. Bierstich geleiteten Hauptverbandplatz versorgt worden waren, auf dem Bahnhof Waiwara in einen Lazarettzug verladen habe. Obwohl der Bahnhof Waiwara unter ständigem feindlichen Artilleriebeschuss lag, wurden auch diese verwundeten Kriegsgefangenen von der von Dr. Bierstich geführten San.-Einheit genauso fürsorglich behandelt und verladen wie die deutschen Wehrmachtsangehörigen.

Irgendwelche Verstöße gegen Kriegsrecht oder gegen die Genfer Konvention sind sicherlich niemals bei der von Dr. Bierstich geführten San.-Einheit vorgekommen.

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Dr. Bierstich zeichnete sich aus durch vorbildlichen Charakter, absolutes Pflichtbewusstsein und stets höchste Einsatzbereitschaft sowie beste Haltung und Führung. Seinen Untergebenen gegenüber war er ein kameradschaftlicher und gerechter Vorgesetzter. Im Umgang mit weiblichem Personal war er korrekt und immer höflich. Er hat deren Belange immer in vollem Umfange vertreten.

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Nach der Besetzung meiner Heimat durch die Deutschen wurde ich nach Deutschland zwangsverschleppt. Ich kam zur Arbeit auf dem Bauernhof von Frau Landmann, der Mutter von Dr. med. Bierstich. Ich blieb dort bis zum Ende des Krieges. In der ganzen Zeit wurde ich dort immer sehr gut behandelt und war, entgegen den Vorschriften durch die Partei und die Polizei, völlig als Mitglied in der Familie aufgenommen und wurde wie ein Sohn geachtet. Als Dr. Bierstich während des Krieges in Urlaub kam, war er immer sehr freundlich zu mir und zeigte, dass er mich nicht weniger achtete als einen Deutschen. Für meine schwere Lage zeigte er volles Verständnis. Ich wunderte mich damals, dass Herr Dr. Bierstich, obwohl er Angehöriger der Waffen-SS war, sich so kameradschaftlich zu mir stellte und empfand das in der damaligen Zeit besonders wohltuend. (Übersetzung beglaubigt)

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Fernschreiben

21. 1. 1945

An SS-Erw. Pz. Gren. Div.

über Heeresgruppe Nord

Am 20. 1. 45 wurde das deutsche Kreuz in Gold verliehen an

SS-Hstuf. BIERSTICH, Eugen

Herzlichen Glückwunsch.

Sofort bekanntgeben.

In Roseneck konnte er sich darauf verlassen, dass alle ihn deckten. Viele wussten nichts Genaues. Sein Schwager, Oskar Estor, mein Großvater, schweigt sich in all seinen Schriften über Eugen Bierstich aus. (Schwieg er aus Treue? Aus Feigheit? Um das Bild der Familie nicht zu beschmutzen?) Eugen Bierstich saß bei meinen Großeltern am Tisch. Sein roter, dicker Kopf mit den tiefen Schmissen, sein breites Grinsen, sein aufgeblasener Brustkorb, der affige Gang. So wackelt er auf den Filmaufnahmen meines Opas durch die Jahre. Tonlos, aber immer präsent. Angriffslustig. Die Backen voller Scherze kitzelte er aus allen das Lachen heraus. Schnittig fuhr er vor, immer zu schnell. Immer das neuste Modell, den dicksten Wagen. Und die Frauen flogen auf ihn. Ein gewisser Typ zumindest. (Es gab jedenfalls immer mal wieder eine, die ihm gnadenlos verfiel.) In Berlin: Lulu. Aus erzkonservativem Elternhaus, der Name ein seltsamer Wiederspruch. Sie fing als Laborantin in seiner Praxis an. Seine Wutausbrüche taten ihrer Liebe keinen Abbruch. Seine Sauforgien auch nicht. Wie alle seine Frauen sah sie eine andere Möglichkeit in ihm. Weil er in Momenten zart und verletzlich wirken konnte. Hinter all den Sprüchen und der Grobheit. Es lag an seinen Augen. Den schwarzen, tanzenden Augen, seinem unverfrorenen Blick. Sie hielten ihn für hilfebedürftig, auch wenn alles, was er tat und sagte, dagegensprach.

Lulu war im letzten Kriegsjahr nach Roseneck gezogen. Eugen saß nach der Kapitulation noch zwei Jahre in Sandbostel im Kriegsgefangenenlager für SS-Offiziere. Oskar und Mine unterstützten Lulu ein wenig. Aber niemand konnte Lulu recht leiden. Sie passe nicht hierher, sie sei und bleibe eine »Berlinerin«, und dieses eine Wort sagte alles.

Oskar und Mine waren 1936 bei Eugen und Lulu zu Besuch gewesen. Eine Reise, über die Oskar sein ganzes Leben lang schwieg. Kein Wort über seinen Schwager in spe, den SS-Mann in Berlin. Mine sagte nur einen Satz, aber den immer wieder, sogar zu mir: »Ich habe nicht über diese Witze gelacht.« (Mines Abneigung gegen ihren Halbbruder: weil er ein SS-Mann, Vergewaltiger und Mörder war? Ich sage nein, deshalb nicht. Sondern einzig und allein deshalb, weil er sie persönlich beleidigt hatte. Obwohl. Vermutlich falle ich auch hier wieder auf ein Familiennarrativ herein, das Täterschutz betreibt.)

Dass Mine Eugen für einen »Stinkstiefel« hielt, konnte jeder bald hören, der neben ihr saß. (Sofort eilt Klaus bei diesem Topos ans argumentative Gewehr: »Weil sie wegen ihm keinen Schulabschluss machen konnte.« Immer springt er sofort rein. Nachahmung, nehme ich an. Aber wen ahmt er nach? Seinen großen Bruder Richard? Sobald ich begann, von Schuld und Täterschaft zu sprechen, sprang auch Onkel Richard hektisch auf und warf sich vor die toten Eltern, bevor die noch selbst auf die Idee kommen könnten, etwas zu sagen. (Und auch Iris hat diese Figur von Klaus übernommen: Schnell ein Argument vorschieben wie einen Riegel vor die Tür. Ihr Sprechen mischt sich dabei mit Elkes altem Duktus, als die noch von Wut und Ideologie getrieben war. (Die Schneiders sprechen schnell, zu schnell, um ihren Gefühlen zu entkommen.)) Oder ahmt Klaus seinen Vater nach, der vielleicht doch am schärfsten überwachte, an welchen Stellen der Erzählung es gefährlich wurde?)

Eugen war Klaus’ Patenonkel und holte ihn manchmal in Bad Dornen mit dem Motorrad ab, um eine kleine Spritztour mit ihm zu machen. Klaus mochte den lustigen Onkel, der immer großzügig war und dolle Geschichten erzählte. Die Narben beeindruckten ihn. Er sei früher mal Pirat gewesen und habe gegen Barbaren gekämpft.

Eugen war stolz auf seine schlanken Füße und predigte Klaus, dass er stets Stiefel mit kleinem Absatz tragen müsse, um seine Füße in Form zu halten.

Falls mein Opa wirklich dieser im Grunde normale oder edle oder schuldlose Nazi gewesen ist, wie mir ja alle einreden wollten, wie konnte dann dieser Eugen Bierstich als ganz normales und geachtetes Familienmitglied an allen Festtafeln sitzen und so lange reden, bis er besoffen vom Stuhl kippte?

Und wie konnte meine Uroma Änneke Landmann, die Mutter meiner Oma Mine, die ja laut Zeugenaussage wirklich traurig über die Ermordung ihrer alten jüdischen Nachbarn und vielleicht sogar Freunde gewesen war, wie konnte gerade sie die Mutter dieses Vollnazis und SS-Mannes sein und diesen auch noch verteidigen und lieben bis zu ihrem Tod?

Ihr Tod war leider sehr qualvoll. Eugen kam und kam nicht, obwohl er mehrfach herbeigerufen wurde. Er war schließlich Lungenfacharzt. Doch er blieb in der Kneipe sitzen und soff weiter. Sie hatte schweres Asthma und erstickte schließlich.

Eugens Tod war ebenfalls qualvoll. Er starb an Blutkrebs mit Anfang siebzig. Zeit seines Lebens hatte er nie eine Bleischürze getragen, wenn er den Röntgenapparat bediente. (Maligner Narzissmus.)

(Später erzählt mir mein Onkel Richard vom Sterben. Ich will wissen, wie ein Mensch stirbt, wie es ist, zu ersticken, zu verhungern. Er hat als Arzt viele Sterbende in den Tod begleitet. Er beschreibt es mir so aufrichtig, so gut er kann.) 1968 war ein Filmteam in Roseneck unterwegs. Es wollte eine deutsche Kleinstadt porträtieren. Pars pro Toto fürs ganze Land. Die schönen Fassaden (nur eine einzige Bombe im Krieg!), die prächtigen Weinberge und die traditionsbewussten Einwohner. Den Gesangsverein, den Stammtisch. Ein Hauch von 68 weht durch das Städtchen. Die Schüler beklagen den autoritären Stil der Lehrer. Die Reaktion ist ein strammer Wind. Eng stehen die Erzieher zusammen gegen die Jugend. Der Sportlehrer verurteilt den Wortführer der Protestbewegung, dieser sei eben kein »gesunder Geist in einem gesunden Körper«.

Auftritt Onkel Eugen. Er schimpft: »Wir wollen keine Diskussion mit den Jungen. Wir würden sie einladen, wenn eener was wissen will von uns, soll er kommen. Aber es ist von vorneherein ausgeschlossen, dass sich eener hier hinsetzen wird. Hoch die Klingen, hoch die Tassen.«

Leiser Zwischenruf: »Du wolltest doch auch die Welt verbessern.«

Eugen hält kurz inne. Er ist bullig, ein Ochse, die Berliner Schnauze mischt sich mit einem ans Thüringisch angelehnten Fränkisch. Sein Brustkorb pumpt, die Backen tun mit und es entsteht die hiebfeste, mundvolle Rhetorik: »NEIIIIN! Keineswegs. Wir haben uns damals in ein sehr vernünftiges Staatsgebilde eingefügt. Wir als Studenten haben niemals daran gedacht, zu revolutionieren oder irgendetwas gegen unsere Professoren zu unternehmen.«

Die SS-internen Beurteilungen enthielten von Anfang an ambivalente Spitzen. Sein Charakter sei nicht einwandfrei, er saufe zu viel und rede im Suff jeden schlecht, der ihm nicht passe. Respekt habe er vor keinem und ab einem gewissen Pegel sei ihm alles scheißegal.

Oskar hat Eugen gedeckt, so wie ganz Roseneck Eugen deckte und ganz Deutschland seine Nazi-Schwerverbrecher.

Oskar deckte ihn mit hohlem Blick und schmalen Lippen, während Mine auf den Dreckskerl schimpfte. (War sie couragiert? Oder bloß vom selben Wurm gebissen, der auch Eugen zwickte, wenn er immer wieder öffentlich schimpfte. Bäuerlicher Dickkopf? In der Tradition ihrer gemeinsamen Mutter Änneke Wollhose? Die zur Polizei marschierte, als der Nachbar seinen Polen schlug. (Wer hat mir das erzählt? Habe ich mir das ausgedacht?))

Oskar deckte die Verbrechen. Verleugnete, was er selbst davon in Russland gesehen hatte. Das Massengrab in Witebsk. Wer lag darin? (Warum stellst du keine Archivanfrage? Es wäre möglich, noch mehr herauszufinden, willst du es nicht wissen? Hast du Angst? Dein Ichkannnichtmehr ist auch bloß eine feige Ausrede.)

Bei der Machtübernahme 1933 lag Oskar im Krankenhaus. Ihm wurde ein Nierenstein entfernt. Er sah den Fackelzug als Widerschein auf der Wand seines Krankenzimmers. (Wäre er sonst mitgelaufen? Ging ihm die politische Situation an die »Nieren«? Legte er den Termin extra so, um sich entziehen zu können?)

Die Geschichtsschreibung über Oskars Sterben war schon, während er starb, hart umkämpft. Klaus war es wichtig, zu betonen, dass sein Vater gekämpft habe. Gegen das Ende, wie er gerne glauben wollte. Richard bestand auf dem Gegenteil: Der Vater habe in keiner Sekunde gekämpft. (Das Nichtkämpfen war offenbar eine Chiffre für gutes Sterben. Auch da ging es um das Außenbild. Der Vater war gut gestorben. Er war im Reinen.) Klaus fühlte sich nach den Tagen am Bett seines sterbenden Vaters dem Zusammenbruch nah. Er hatte sich übernommen. Er kotzte. Nie zuvor war er so intensiv in den Sterbeprozess eines Menschen involviert gewesen. Erika war mehrfach abgereist und kurzfristig wieder zurückgekehrt. Sie verlor in Momenten den Kontakt zu sich selbst.

Fünf Tage, bevor mein Opa starb, schrieb er mir einen Brief. Ich kann mich nicht von der Fantasie befreien, dass er darin versteckt einen Auftrag an mich formuliert hat. Er spricht über den schwierigen »Umzug nach Roseneck«. Viele Sorgen verbinde er damit. Tatsächlich zog in diesen Tagen sein Archiv zu Onkel Richard. Bin ich die rechtmäßige Erbin des Familienbuches?