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Fäulnisgeruch weht vom Kompost her. Onkel Richard gießt aus Leihgießkannen Bad Dornener Wasser auf die verrottenden Körper seiner Eltern. Mine Estor hätte beim Anblick ihrer immergrünen Grabbepflanzung verächtlich ausgespuckt. »Pflegeleicht.« Richard kommt mittlerweile nur mehr alle vierzehn Tage auf den Friedhof, nicht wie früher jeden zweiten Tag. Er fährt 45 Minuten von Roseneck hierher, von Schuldgefühlen begleitet.

Ich erinnere mich an das Waschbetonbecken unter dem langhalsigen, freistehenden Hahn. Als Kind hatte ich die Fläche aus runden, kühlen Steinen gerne berührt, während meine Oma schleppte, grub und schwätzte. Der Anblick des Komposts faszinierte mich damals schon. Verblühte Sträuße und welke Grabgestecke lagen achtlos geworfen auf Grasschnitt und Gehäckseltem. Stadien der Verwesung.

Die kleinen Steine der Patientengräber am Wiesenhang waren mir früher nicht aufgefallen. Auch nicht das Denkmal. »Zur Erinnerung an die hilflosen Kranken, die hier starben.« Onkel Richard weiß nichts Näheres, als ich ihn darauf anspreche, will sich mir zuliebe aber schlaumachen.

So wenig ich über die politische Vergangenheit meiner Großeltern und Eltern wusste, so wenig wusste ich auch über die Geschichte des psychiatrischen Krankenhauses Bad Dornens. Zwar merkte ich schon früh, dass meine Witze über Irre und Irrenhäuser meine Eltern zu drohenden Blicken herausforderten, doch den Grund dafür suchte ich allein in ihrer Humorlosigkeit.

Mein Großvater arbeitete nach seinem Herzinfarkt zwanzig Jahre lang in dieser psychiatrischen Einrichtung. Obwohl er kein Facharzt der Psychiatrie war, leitete er die Station der Alkoholkranken. Er veröffentlichte Aufsätze über die Perspektiven der Behandlung von Suchtkranken in geschlossenen Einrichtungen. In seinen Memoiren bekennt er stolz, die Reformen innerhalb der Psychiatrie mit auf den Weg gebracht zu haben. Gleichzeitig half er, die Beteiligung der Pflegekräfte an den Patientenmorden zu vertuschen. Er stand der Aufarbeitung im Weg. Er setzte sich nicht für das Denkmal ein. Dass er den Streit um das Denkmal dokumentierte, einen Handapparat anlegte, in dem er alle kritischen Texte zur Psychiatrie Bad Dornens sammelte – wie passt es zusammen? (Warum lagerte Onkel Richard diesen Teil des Archivs aus und übergab ihn dem Landeswohlfahrtverband? Gibt es weitere retuschierte Flecken in unserem Familienbuch?)

Vierhundert Patienten aus Bad Dornen wurden nach Hadamar verlegt und dort durch Ersticken ermordet. Im Anschluss an die Aktion T4 begann das Hungersterben, die sogenannte Wilde Euthanasie.

Ich zuckte zusammen, als ich Onkel Richard auf dem Bahnsteig erkannte. Er war geschrumpft und uralt. Am Telefon hatte seine Stimme so jung wie früher geklungen. »Gibt’s dich noch, Karolina«, hatte er da gefrotzelt, gleich ganz vertraut. Und auf mein »Mich hat’s nie aufgehört zu geben« den trockenen Dreiklang auf ä gelacht, Mines Dreiklang war das, Richard führte ihn als Erbe im Mund, die Melodie eine Art monotones Putt-putt-putt mit verächtlichem Abklang, ihre legendäre Technik, um sich die Gefühle anderer vom Leib zu stoßen.

Aber dann war er gleich auf Sachlichkeit umgeschwenkt. (Richard kommt immer schnell zu den Sachfragen und das mag ich an ihm, weil man sich bei ihm darauf verlassen kann, dass er aufgeräumt genug ist, einen nicht grundlos zu quälen.) »Was brauchst du, Kind?«

Er lud mich ein in sein Haus nach Roseneck und bot an, mir zu helfen. »Meine Erinnerung ist ein Sieb, war sie immer, aber frag ruhig, frag.«

*

Erinnerung ist in der Familie Estor ein Kampfbegriff. Onkel Richard und mein Vater Klaus bestehen darauf, eine schlechte Erinnerung zu besitzen. Als ihr »Gedächtnis« benennen beide die ältere Cousine Walli Landmann.

Walli hat kein Problem damit, Familientabus zu benennen. Etwa den Antisemitismus meines Großvaters. Auch über sexualisierte Übergriffe meines Großonkels Eugen hat sie offen gesprochen. (Warum rufe ich sie nicht an und frage direkt nach weiterem sexuellem Missbrauch in meiner Familie? Will ich es nicht wissen? Was steckt wirklich hinter meinem Gefühl, sie nicht stören zu wollen?)

Gleichzeitig und obwohl (oder weil) mein Vater sich als schlecht Erinnernden bezeichnet, führt er chronisch reflexartig den Vorwurf im Mund: »Da irrst du dich! Deine Erinnerung spielt dir einen Streich!« Er unterstellte mir oft, dass ich mich falsch erinnere, dass etwas, woran ich mich erinnerte, nicht sein könne.

Auch über Tante Erika heißt es oft, sie erinnere sich falsch. Etwa als sie in großer Runde davon erzählte, dass Oma Mine meinem Bruder Aki eine geknallt habe, nachdem er als kleines Kind die Treppe hinuntergefallen sei. Hektische und schnelle Abwehr: Das kann nicht sein. Tante Erika irrt sich. (Um das Bild der Mutter zu schützen, wird die Schwester verraten. Schuldabwehr um den Preis der Pathologisierung einer Unschuldigen. Estors teilen sich in Ärzte und Patienten.)

Onkel Richard Estor erzählt: Seine Schwester Erika habe sich unter dem Schreibtisch verkrochen, um den Schlägen des Vaters zu entkommen. Dieser habe sie nicht bloß »geschlagen«, sondern »verdroschen«. Mit einem Gürtel. Auf meine Nachfrage, wie alt Erika war: »Ungefähr drei Jahre.«

Aussage beziehungsweise Erzählung Tante Erikas dazu: Onkel Richard erinnere sich falsch. Er baue die Szene falsch zusammen, vermische zwei unterschiedliche Sachverhalte miteinander. Der Schreibtisch, unter den sie sich während einer Züchtigung vor dem Vater verkrochen habe, stand im Haus, nicht in der Wohnung. Sie seien von der Wohnung ins Haus gezogen, als Erika acht Jahre alt gewesen sei. Sie sei bereits auf die weiterführende Schule gegangen. Sie erinnere sich genau an sie Situation. Sie erzählt mir, dass es Zuschauer während dieser Züchtigung gegeben habe. Ein Cousin und eine Cousine, die gerade aus Roseneck zu Besuch gewesen seien, hätten als Zeugen auf dem Sofa gesessen. Opa Oskar habe Erika so stark geschlagen, dass sie durch den Raum und bis zum Schreibtisch geschleudert worden sei.

*

Richard ist der erstgeborene Sohn Mines und Oskars, ihr »Stammhalter«, Schlüsselhüter und Totenwächter. Sie zeugten ihn in der Nacht vom 1. auf den 2. September 1939. Für Führer, Volk und Vaterland, ja, aber auch für Mine persönlich, damit ihr ein Abdruck Oskars blieb, falls dieser im Krieg sterben sollte.

Richards Haus gleicht einer Burg und er lebt seit dem Tod seiner Frau Ingrid allein darin. Im siebzehnten Jahr treu unterstützt von einer Haushälterin namens Fräulein Bode, die zweimal täglich aufschlägt und sich diktieren lässt, was zu tun ist. Seine Arztpraxis im Erdgeschoss hat er im Alter aufgegeben und nie an einen Nachfolger weitervermietet. Jeden Morgen zieht er seinen Bademantel an, steigt die Kellertreppe hinab und schwimmt fünfzig Bahnen im eigenen Schwimmbad. Fünfzig Augenpaare des Rosenecker Knabenchores schauen dabei von einem Wandbild auf ihn herab. Tante Ingrid hatte diesen Chor bis zu ihrem plötzlichen Tod vor vielen Jahren geleitet. Die Aufnahme entstand während ihres vierzigsten Geburtstages, zu dem sie in das Freibad der Kreisstadt geladen hatte. Die Jungen tragen einheitliche Badehosen, stramm stehen sie in drei Reihen und singen mit braven Mündern und klaren Augen.

Richard bewohnt sechs Zimmer im ersten Stock. Mir weist er die Etage darüber zu. Das Archiv meines Großvaters nimmt darin zwei Räume ein. Aus meinem Schlafzimmer schaue ich auf Roseneck und sein Kriegerdenkmal hinab. (Ich muss gestehen, dass ich mich sehr wohl bei ihm fühle.)

Roseneck ist im Grunde eine malerische fränkische Kleinstadt. Restaurierte Fachwerkhäuschen schmiegen sich an den Hang, obenauf thront die Schlossruine, ein paar Weinberge erheben sich auf der anderen Seite des Tals, durch das die Leide munter fließt. Das alte Kurhaus und eine gepflegte Parkanlage zeugen von Rosenecks kurzer Glanzzeit als Luftkurort Ende des neunzehnten Jahrhunderts. (Angeblich hat Fjodor Dostojewski hier an seinem Roman Die Brüder Karamasow gearbeitet und mit meiner Ururgroßmutter Tee getrunken.) Die Hässlichkeit der Autostraßen und Nutzbauten hält sich in Grenzen.

Mit Roseneck verbindet mich die Geschichte meiner Vorfahren. Mein Ururgroßvater Julius Estor (Senior) siedelte 1871 hier an und gründete den Rosenecker Boten. Im Deutsch-Französischen Krieg waren Nachrichten offenbar eine wertvolle Ware. Er besaß eine Druckerausbildung, eine Presse und den nötigen Unternehmergeist. Die Zeitung hielt sich bis 1990. Mein Großvater Oskar wurde drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs geboren, stieg als Zweitgeborener aber nicht in den Betrieb ein. Er wurde Arzt.

An den penibel geführten Stammbüchern lässt sich unschwer erkennen, dass Ahnenforschung in dieser »Sippe« mit Stolz betrieben wurde.

Meine Großmutter Mine Estor, geborene Landmann, entstammte einer Rosenecker Kleinbauernfamilie. Ihre Großeltern besaßen einige Bleche Land. Noch ihr Großvater verdiente sich mit Mistfahrten für Rosenecker Bürger Geld dazu.

Oskar wuchs in der Oberstadt auf, Mine in der Unterstadt.

Dass ich ein Tabu berühre, wenn ich über den Milieuunterschied der großelterlichen Elternhäuser zu sprechen beginne, merke ich in den Gesprächen mit Onkel Richard bald.

Mine Landmann wäre zweifellos Bäuerin geworden, wenn Oskar sich nicht in sie verliebt hätte und sie zu einer Frau Doktor aufgestiegen wäre. Warum hat er sie erwählt? Weil sie ein einfaches Mädchen vom Lande war und er sich über sie erheben konnte? Weil er der nationalsozialistischen Ideologie folgte in der Überzeugung, die Handarbeit müsse gegenüber der Kopfarbeit aufgewertet werden? Weil er sich an die anderen Bürgertöchter nicht herantraute? Schon Oskars Vater hatte Angst davor gehabt, sich eine ebenbürtige Frau zu suchen. »Schau dir die Fotos an, Richard! Deine Oma ist kaum siebzehn, als er sie erwählt. Die ›Germania auf dem Wagen‹.« (Noch so eine heitere Familienanekdote.) Schüchtern, hübsch und schmal thront sie auf dem Erntedankwagen als Germania. Das Schwert reicht ihr bis zum Schlüsselbein, die Haare umkränzen ihr Gesicht, ein weißes Gewand wallt herab. Um sie her sitzen die neidischen Nachbarinnen. Vorne zieht das Brauereipferd, die Feuerwehrmänner stehen vereinzelt um den Wagen herum und »sichern« ihn. Ihre Uniformen sind zu groß und wirken fast komisch. Die Schnauzbärte sitzen schief im Gesicht. Haben sie sich mit Ruß beschmiert? (Kein Einziger von ihnen hätte »Blackfacing« buchstabieren können. Im Übrigen ist mein Urgroßvater oft nach Hamburg gefahren, um in Hagenbecks Tierpark zu gehen. Ganz gewiss hat er dort auch Menschen begafft.)

Richard wird wütend, wenn ich so spreche. Ihm gefällt meine respektlose Art nicht. Gleichzeitig gerät er in Konflikt mit seiner Rolle der gütigen Hilfsbereitschaft. Deshalb brüllt er mich nicht zusammen, sperrt mich nicht ein, lässt mich nicht sterilisieren, sondern redet mir beschwörend ins Gewissen. »Aber, Karolina! Du musst das doch historisch einordnen! Alle haben damals so gedacht! Deine Großeltern waren keine schlechten Menschen!«

Ich beobachte Richard, der in höchster Anspannung vor mir steht und sich aufregt, und entscheide mich, schweigend zu lächeln. Ich habe in Schnücke gelernt, meine Gefühle ziehen zu lassen wie die Wolken am Himmel. Ich grinse nicht wie früher triumphierend und boshaft. Ich lächele und höre auf, etwas zu wollen. Nur langsam ebbt Richards Wortschwall ab. Schließlich beruhigt er sich.

»Ich will niemand anklagen. Es geht mir nur um die Wahrheit. Vor allem will ich meine Eltern verstehen. Warum sie sind, wie sie sind, und warum ich so bin.«

Ehemalige Straßenhunde neigen schnell dazu, ihre Kehle als Geste der Unterwürfigkeit anzubieten, wenn sie ein neues Zuhause gefunden haben. (Die Ärzte auf der Geschlossenen hätten mir wieder manipulatives Verhalten unterstellt.)

Die unvoreingenommene Hilfsbereitschaft meines Onkels überrascht mich. Ich bin davon ausgegangen, dass er sofort alles abbügelt, was auch nur entfernt mit der nationalsozialistischen Vergangenheit meiner Großeltern zu tun haben könnte. Ich hielt den Nazismus meines Opas für ein manifestes Familiengeheimnis. Laut meinem Vater Klaus sprachen Oskar und Mine niemals über den Krieg oder die Zeit davor. Kein Familienmitglied dürfe darüber sprechen, so dachte ich.

»Es war Krieg und die Großeltern hatten es schwer. Nach dem Krieg beschlossen sie, all das Leid in sich zu begraben und nie wieder davon zu sprechen. Über den Schmerz sprechen, hieße, ihn zu vergrößern. Sie schwiegen, um nicht von der Erinnerung heimgesucht zu werden«, erklärt mir Onkel Richard. »Um den Schmerz zu vergessen.« Ich wundere mich. Zumal es ja wenig genützt haben dürfte. (Dass sie durch ihr Schweigen, das Imdunkelnlassen und Unterdenteppichkehren genau das Gegenteil erreichten, nämlich keinen Schlussstrich und kein Ende, sondern ein Fortleben dieses Unsagbaren und die Weitergabe des Verschwiegenen an ihre Kinder und deren Kinder, bis eben einer den Mut finden würde, es aufzudecken und auszusprechen, das hatten sie wohl weder gewusst noch gewollt. Unterstelle ich ihnen reflexhaft doch nur wieder das schmeichelhafteste Motiv?)

Richard und ich spazieren durch Roseneck. Vor Oskars Elternhaus bleiben wir stehen, der ehemaligen Druckerei und dem Laden. Im Archiv befinden sich Fotografien von genau hier vorbeimarschierender SA. Der an der Hauswand befestigten Hakenkreuzfahne. Vor jedem Haus Rosenecks gehisste Hakenkreuzfahnen. Überall marschierende SA und SS. Richard und ich stehen vor der alten Buchhandlung Estor und ich sage nichts dazu und lächle blöde.

Dann laufen wir Arm in Arm (Richards Rheuma) von der Ober- in die Unterstadt zum Geburtshaus seiner Mutter Mine. Ein dreistöckiges, gedrungenes Bauernhaus. (Ich bin ehrlich verwundert. Klaus hatte mir mal gestanden, dass er sich im Bauerhaus der Landmanns nie wohlfühlte. Ärmlich sei es gewesen. Auch Erikas Mundwinkel hatten mir ihren Ekel verraten, oder eher Dünkel? Dreckig sei es gewesen.) Richard scheint mir untypisch nachdenklich. »Es kam mir immer kleiner vor …« (Ein Estorsches Narrativ?)

Dann führt er mich auf verschlungenem Weg zu einem anderen Haus, das ein dunkler Winkel umgibt. Richard erklärt, dass man hier ungesehen herankommen und Essen hineinreichen konnte. Er deutet eine helfende Geste an. Juden hätten hier gewohnt, flüstert er.

Schweigend und sehr langsam steigen wir nach dem Essen (Rouladen mit Rotkohl und Klößen auf gestärkter Tischdecke) und einem feinen Marillen-Obstler den Weg zur Ruine hinauf. Mir brennt eine Frage unter den Nägeln, doch ich befürchte, damit alles Vertrauen mit dem Arsch wieder einzureißen. (Hast du Angst, deinen Nachmittagskaffee zu riskieren? Warum hast du Richard überhaupt geschworen, die Familienehre durch deine Arbeit nicht zu beschmutzen? Wie kommst du auf so eine Scheiße. Wer bist du?) Oben angekommen, setzten wir uns auf eine Bank und lassen den Ausblick auf uns wirken. Die Höhe trägt den Abgrund in sich, sie zeigt ihn erst auf.

»Hatten Landmanns einen polnischen Zwangsarbeiter?«

Ja, sie hätten einen »Fremdarbeiter« gehabt. Übrigens sei das auf allen Höfen in Roseneck die Norm gewesen. Da die Männer schließlich eingezogen worden und im Krieg gewesen wären, nicht wenige seien ja nie wieder zurückgekommen, unter anderem Mines Bruder. Der Pole habe es sehr gut bei Landmanns gehabt. Vermutlich besser als in seiner Heimat. Das Verhältnis wie zu einem Sohn. Auch habe er mit am Tisch gesessen während den Mahlzeiten. Gesetzlich sei das streng verboten gewesen. Und einmal habe es Ärger mit der Polizei gegeben. Als der junge Pole den Kinderwagen vom Feld nach Hause geschoben habe. Die Kinder eines Deutschen Offiziers darin. (Ich erinnere mich, dass Klaus mir die Geschichte schon einmal erzählt hatte. Bei »Offizier« auch bei ihm die Empörung in der Stimme am höchsten.) Nach dem Ende des Kriegs sei er in Deutschland geblieben, habe eine Deutsche geheiratet. Keine Kinder. Der Kontakt sei bis zu seinem Tod nicht abgebrochen.

Einen Namen weiß Richard aber nicht.

Wir steigen wieder hinab. Richard gerät immer wieder ins Rutschen. Kurz schraubt er dann seine Hände um meinen Arm.

Später werde ich das Gefühl nicht los, dass Richards Geschichten aus zweiter Hand, aus zweitem Mund stammen. Aus dem seiner Cousine Walli, seiner »Erinnerung«, seiner Zeugin für alles. Sie spricht authentisch, wenn sie erzählt. Sie kennt den Namen des Zwangsarbeiters: Jurek. Sie kennt auch den Namen der jüdischen Familie, um die meine arme Uroma weinte: Katz.

Richards Geschichten sind klassische Deckgeschichten.

Richard präsentiert mir Walli stolz auf seinem Sofa, verschweigt aber, dass Walli Landmann als Kind anders als er die Estorschen Privilegien nicht genoss. Einmal bloß durfte Walli mit ihm und Mine zu Oskars Eltern, zu Estors. Dort hatten sie Eis gegessen. Oskar war im Krieg, Wallis Vater auch. Aber für Walli blieb es ein einmaliger Besuch, sie durfte nicht wiederkommen. (Ihr Vater würde auch nicht wiederkommen.) Oskars Mutter, meine reiche Uroma, verbot es, sie wollte keine Landmanns in der Wohnung. (Daran will sich Richard nicht erinnern. Und er hört es nicht oder vergisst es gleich wieder, noch während Walli neben ihm auf dem Sofa sitzt und es ihm und mir erzählt.) »Sofie Estor duldete meine Anwesenheit nicht.« (Als müsse Richard beweisen, dass sein Erinnerungsvermögen wirklich nicht existiert.)

Richard schließt das Tor zum alten Garten meines Urgroßvaters auf. Auch über dieses Grundstück wurde verfügt, dass es im Originalzustand zu erhalten sei. Rosenstöcke und Obstbäume. Ein morsches Gartenhaus. An der Stirnseite: Holzverschläge wie übereinandergestapelte Würfel.

Julius Estor züchtete Rosen und versuchte, wilde Tiere zu zähmen. Er glaubte auch, dass die Nazis zähmbar seien. Seine Naturbeobachtungen aus dem Ersten Weltkrieg sind erstaunlich. Er beschreibt das Leben in der Erde rund um seinen Schützengraben bei Verdun. Er erzählt von den Reaktionen der Würmer, Käfer und Asseln auf den Lärm der Schusswaffen. Ich frage mich, woher Julius die überlebenspraktischen Fähigkeiten nahm, wo er doch immer an den Menschen vorbei auf die Tiere schaute. Er brachte eine Kiste voll toter Insekten aus dem Kampfgebiet heim nach Roseneck, zeigte sie aber nie seinen beiden Söhnen. Im Gas gestorbene Käfer und Libellen waren darin. Verfärbt und verformt. (Eduard Landmann brachte nur Alpträume mit heim.)

Julius Estor fing eine Elster. Er fütterte sie mit Fleischbrocken und eines Tages hackte sie ihm durch den Käfig in den Ringfinger. Sie konnte »O, du lieber Augustin« singen und das Miauen der Katze perfekt imitieren.

Auch einen Dachs fing er ein. Der fraß ganze Eimer voll Erbsensuppe und ließ es sich gut gehen, solange es ihm gefiel. Dann brach er aus und verschwand ohne ein Ade.

Der Fuchs zerbrach an der Gefangenschaft, verlor den Stolz des wilden Tieres und Julius kam sich bei den Fütterungen schäbig vor.

Der Hirsch wurde zu einer echten Gefahr. Er brüllte zum Kampf und drohte, alles einzustampfen. Julius schoss ihn nieder und das Dienstmädchen drapierte sein Fleisch auf einer Platte mit dem Geweih am Wacholder.

Seinen Schnurrbart zähmte Julius mithilfe eines Binders, um ihn in dieselbe Form wie Kaiser Wilhelms zu bekommen.

Richard präsentiert mir das Bild meines Urgroßvaters als rührenden Mann und so vorschnell wie ungefragt nicke ich es ab. Dass er seinen geliebten Hund totgeprügelt hatte, weil dieser ungehorsam war: geschenkt. Dass er die englischen Feministinnen für ihre dummen Emanzipationsbewegungen verurteilt hatte: geschenkt. Dass er in Hagenbecks Tierpark die Hottentotten begafft hatte: geschenkt. (Oder doch nicht? Die Geschichte schreiben die Sieger. Und die Dummen zitieren die Geschichtsfälschung und tragen sie in die Welt.)

Oskar Estor will seinen Vater entschulden, wenn er schreibt: Er weigerte sich, die Hakenkreuzfahne zu flaggen. (Was Julius tat, war Folgendes: Er nähte ein Hakenkreuz auf seine geliebte schwarz-rot-weiße Fahne und hängte diese auf. Und darunter marschierten SA und SS.)

Julius Estor wählte DNVP und war ein strammer Antisemit. Als Redakteur der Rosenecker Zeitung trug er die nationalsozialistische Ideologie und alle Gesetze treu mit (auch wenn diese Texte im Familienbuch nicht auftauchen). Es stimmt also nicht, dass die Rosenecker Zeitung gleichgeschaltet wurde. Und es ist unwahr, dass Julius Estor den Nationalsozialismus »gewiss nicht befürwortete«. Er mag ihn anfänglich abgelehnt haben, aber nicht etwa wegen seines Rassismus, seiner Unmenschlichkeit oder Radikalität, sondern einzig, weil ihm das »sozialistische« daran verhasst blieb.

Die Rosenecker Zeitung hetzte anlässlich einer Besprechung der Filme Jud Süß und Der ewige Jude vernichtend über alle jüdischen Menschen. Sie seien eine »Krankheit und Plage« und gehörten »ausgemerzt«. (Damals hatte Oskars älterer Bruder Heinrich Julius zwar bereits als Chefredakteur abgelöst, aber mitnichten war Letzterer aus politischem Widerstand zurückgetreten. Es ist ein Mythos, dass Julius Estor ein Regimegegner war.)

Rosenecker Zeitung

Donnerstag den 26. September 1935

Die Motor-Staffel des III/M xx des Nat. Soz. Kraftfahrer-Korps auf dem Parteitag der Freiheit

Von NSKK-Mann Oskar Estor

Stolz fliegt ein Geschwader deutscher Flugzeuge über deutsche Erde, und dort noch eins. Wie viel Vertrauen machen sie in ihrem stolzen, ruhigen Flug. Wir fahren ja zum Parteitag der Freiheit und so erscheinen sie uns als stolzer, symbolhafter Gruß der neuen Freiheit und Ehre Deutschlands.

Wir rücken in unsere Reihe ein. Kommando: »Sturzhelm auf!« Fanfaren! Der Führer kommt. Es wird gemeldet. »Heil Kameraden!« Wie laut wollte dann jeder antworten »Heil mein Führer!« Und wie manchem die Worte in der Kehle stecken blieben vor der Größe des Augenblicks. Die Gefallenen der Bewegung ehrt der Führer, mit ihm das ganze Volk. Manch einer hatte einen Kameraden, dessen Name jetzt unter den Toten steht, und manch ein Junge der Bewegung wird sich innerlich gelobt haben, ihnen nachzueifern. In ihrem Geist zu leben und sich, genau wie sie, dem Führer zur Verfügung zu stellen.

Fahnen Aufmarsch! Wie leuchtet das Rot der Standarten und Fahnen in der Morgensonne. Und genauso leuchtend und erhebend sind die Worte des Führers. Wir konnten ihn sehen und spürten die Kraft und das Vertrauen, das von ihm ausströmte und das in unsere Herzen einzog.

Immer dichter drängen sich die Menschen, je weiter wir in die Stadt kommen. Stürmische Zurufe, reicher Beifall für die schneidige Kapelle hinter uns, Blumen und Liebesgaben spenden begeisterte Zuschauer. Ja, man muss selbst dabei gewesen sein, um es recht zu erleben. Vorbei geht’s am Hotel, in dem der Führer wohnt, vorbei am Kulturvereinshaus und hinein in die romantischen Straßen der alten Reichsstadt. An der Pegnitzbrücke biegen wir um die Ecke und kommen ins Blickfeld des Führers. Wie reißt sich da jeder zusammen und gibt auch das Letzte her, das in ihm steckt. Und dann ist der große Augenblick. Mit erhobenem Arm und gleichem Schritt und Tritt an dem Führer vorbei. »Ja, Kamerad, der du mit dabei warst, der Führer hat dich gesehen und den Kameraden neben dir und mich, alle hat er uns gesehen, jedem hat er in die Augen geschaut und an ihrem Leuchten hat er gemerkt, wie es in deinem Herzen aussieht. Und du hast in seine Augen sehen dürfen. Du sahst seine Strenge und spürtest das Vertrauen, das von ihm ausgeht. Kamerad, schwörtest du da nicht unverbrüchliche Treue? Wirst du den Augenblick je vergessen, Kamerad?« Und die Größe und Spannung des Augenblicks löste sich in einem plötzlichen befreienden Gesang. Und laut schallt es von den Mauern der alten Burg zurück: »Fest steht und treu, die Wacht, die Wacht am Rhein!« Niemand wusste, wer das Lied angestimmt hatte, mit einem Mal war es da.

Die Technik der perfiden Geschichtsfälschung hat mein Großvater Oskar vorgemacht und Richard imitiert ihn perfekt. Er ist ein würdiger gebundener Delegierter, wie Gabriele Rosenthal diesen in dem von ihr herausgegebenen Buch Der Holocaust im Leben von drei Generationen. – Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern beschreibt.

Nein, meine Großeltern waren keine Opfer des Zweiten Weltkriegs. Ihre Überbetonung des eigenen Opferstatus ist grotesk angesichts ihres Totschweigens der wahren Opfer. Es ist falsch, dass sie ihr Leid hochhalten, während sie über das Leid der Juden, der Ausgestoßenen aus dem Volkskörper, der überfallen Polen und Russen, der Zivilisten und Kriegsgefangenen schweigen.

Die traute Einigkeit, in der ich die Abende mit Richard vor dem Kamin verbringe, ist eine Lüge. So sehr ich die Höflichkeit meines Onkels genieße, die Garantie warmer Distanz in der ich mich so sicher und geborgen fühle – so deutlich hämmert sich mir, lauter werdend, ein Begriff ins Bewusstsein: Verrat.

Ich verrate Erika, wenn ich hier sitze, und mit ihr alle Opfer, die nicht zum Thema werden. Nicht zuletzt mich selbst verrate ich, wenn ich weiter schweige.

Es ist eine rührende Geschichte, die Richard mir auftischen will. Eine Geschichte von moralischer Integrität bis in den Tod, von edlen Motiven, von Zwangsläufigkeit und der Macht des Schicksals. Es gebe nichts zu bereuen. Keine Schuld. (Und ich selbst stecke bis unter die Nase mit drin in diesem Teppich, der alles verdecken soll. Ich spiele treu meine Rolle, langsam bereitet er mich darauf vor. Wie brav habe ich immer wieder eingelenkt. Ein kurzes Aufflammen seiner Wut hat stets gereicht und ich bin versöhnlich eingeknickt. Ich lebe schließlich nicht in den Siebzigerjahren und will mit unnützer Konfrontationsgebärde jedes Gespräch kaputtmachen wie meine linkischen Eltern, links und linkisch sind die gewesen, ohne jedes Talent zur Einfühlung in das Gegenüber (natürlich aus gutem Grund, wie ich heute weiß, die Kaltherzigkeit geht zurück auf Ablehnung im frühen Kindesalter, ja, die 68er waren inhaltsgetrieben und zwischenmenschlich unbeholfen, ja, aber ich weiß das ja nun alles, ich habe jahrelang Therapie gemacht, die emotionalen Strategien meiner Eltern reflektiert und meine eigenen dazu, da muss ich doch in der Lage sein, die Wahrheit auszusprechen, nicht klein beizugeben und zu kuschen, wenn mein Onkel Richard droht, und nichts anderes tut er doch schließlich, wenn er laut wird, wild wird, wenn auch nur für seine Verhältnisse, er bleibt ja auch der unterdrückte Mann, aber zur Gewalt hat er eben doch den unverkrampfteren Zugang als ich und er nutzt die Drohgebärde, um mich zum Schweigen zu bringen, und ich danke es ihm mit einem Lächeln, ist mir denn noch zu helfen?).)

Dr. Oskar Estor war natürlich ganz nah dran an der Vernichtung. Er hat an der Universität Medizin studiert und gesehen, dass jüdische Professoren aus ihren Berufen gedrängt wurden, ebenso jüdische Ärzte, er kannte sie ja. Und die jüdischen Studenten, die die Uni verlassen mussten, hat er auch gesehen. Er wurde von Professoren unterrichtet, die stramme Nazis waren. Einige trugen die SS-Uniform unter dem Kittel. Sie lehrten ihm Erbhygiene. Die Rassenlehre hatte ihn selbst schon in der Jugend interessiert und er zitierte seinen »Günther« das ganze Leben lang, empfiehlt ihn uns bis heute zur Lektüre und verteidigt die Rassenlehre gegenüber dem Antisemitismus. Er ist in diesem Punkt unbelehrbar geblieben. Und natürlich kam er bei alldem auch mit den Anträgen auf Sterilisierung in Berührung, es war ja genau seine Zeit und er war in vielen Krankenhäusern unterwegs. Vermutlich nahm er auch an Sterilisierungen teil oder schrieb selbst Anträge zur Begutachtung.

Die Gewalt in unserer Familienkultur zu benennen, sie offenzulegen, ist tröstlich für mich. Weil es ehrlich ist, weil es meiner Wahrnehmung entspricht, statt sie in Zweifel zu ziehen.

Ich nehme allen Mut zusammen und sage, dass es mir wichtig sei, die Schuld meiner Großeltern zu benennen. Um sie zu überwinden. Ich halte den Opfermythos für ein gefährliches Familiennarrativ. Sofort wird Richard böse. (Der Begriff Schuld darf nicht fallen!) Ich kann riechen, dass er kurz davor ist, mir Undankbarkeit vorzuwerfen. Garstigkeit. Sind das Mines Wörter, an die ich mich unbewusst erinnere? Hat Klaus sie mir gegenüber wiederholt? Da brechen sie Richard auch schon aus dem Mund. Kurz hat er noch gezögert, welche Abzweigung er nehmen soll. (Den verächtlichen Dreiklang zu lachen, wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Wegschieben, verlachen, zum Patienten machen. Aber dazu ist er zu sauer.) Hauen darf er mich ja nicht. (Ob er Alexander und Xenia wohl früher gehauen hat?) Tja. Warum werde eigentlich nicht ich selbst böse? Anstatt in Schockstarre wie das Kaninchen auf den Wutausbruch der Schlange zu warten. Es ist doch eine riesengroße Scheiße, dass sie der Erika das angetan haben! Und nicht, dass ich es ausspreche, ist die Scheiße!

Alles brennt und dreht sich. Die Weihnachtspyramiden aus dem Erzgebirge.

Aber alles auszusprechen, dazu bin ich zu feige. Ich frage nicht, warum Richard und Ingrid dieses Haus zu so günstigen Konditionen von Onkel Eugen kaufen durften. Ich frage nicht, wie es sich in dem alten Haus eines SS-Mannes und Vergewaltigers lebt. Ich frage nicht, was es mit der Verbindung zwischen Ingrids SS-Vater und Onkel Eugen auf sich hatte. Ich frage nicht, was Richard von den sexualisierten Übergriffen seiner Frau Ingrid auf meinen Vater weiß. Erzähle ihm nichts von meiner These, dass das Decken von Nazi-Tätern direkt in das Decken von Vergewaltigern und Missbrauchern übergehe. Dass in der Familie Estor eine Kultur der Grenzüberschreitungen herrschte, die Missbrauch massiv begünstigte. Dass auch die vielen medizinischen Übergriffe ein Klima schufen, das Missbrauch als normal erscheinen ließ.

Ich habe Angst, dass Onkel Richard mich in die Psychiatrie einweist, wenn ich all dies ausspreche. Dass er mich als Borderlinerin pathologisiert und ich ihm glaube. Ich bin feige und schweige.

Als ich ins Bett gehen will, drückt er mir ein Blatt in die Hand. Es gehört ins Stammbuch der Estors. Darauf das Geburtsdatum eines namenlosen weiblichen Kindes. »Litt an traumatischer Epilepsie. Gestorben im Rahmen der Euthanasie in einem Heim der Hephata.«

»Wie hieß sie?«

So traurig wie nie schaut er mich mit seinen blauen Augen an.