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Meine Großmutter Ilse Schneider, geborene Dietrich, kam aus einfachen Verhältnissen, wie man so sagt. (Dann sag’s halt nicht.) Ihr Vater hatte während Wirtschaftskrise und Inflation nach dem Ersten Weltkrieg seine Existenz verloren. Und durch Hitler kam er wieder in Arbeit. »Natürlich wählte er die NSDAP.« (So weit Elkes Geschichtsschreibung. Der kleine Mann und das Primat der Ökonomie. Interpretation nationalsozialistischer Gesinnung als Nebenwiderspruch. Faschismusanalyse von Kommunisten und Sozialisten nach 1945. Für Elke war das Private nie politisch: Gefühle sind immer Überbau und haben keinen Wert.)

Ilse wuchs in einer Baracke auf, klammerte sich jedoch daran, aufgrund ihrer Intelligenz etwas Besonderes zu sein. (Diese Zuschreibung hat zwei Genrationen unbeschadet überlebt. »Wir Schneiders sind aufgeweckter als die anderen.« Vielleicht war meine Oma bloß leistungsbereiter als die Mädchen aus besserem Hause.) 1933 wurde sie eingeschult. Der Nationalsozialismus half ihr, aufzusteigen und sich für ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu halten. (Einen Dünkel gegen arme Familien hatten die Nazis ja nun wirklich nicht.) Die weißen Blusen im BdM machten was her. Anpacken konnte sie, verwöhnt oder verzärtelt war sie nicht, der Vorwurf bürgerlicher Entartung traf bei ihr ins Leere. Aber das propagierte Menschenbild war eben rassistisch, autoritär und hierarchisch und auch als blondes und blauäugiges schlankes, fleißiges Mädel war sie durch die Hetz-, Hass-, und Verachtungskultur ständig bedroht zu fallen. Sie internalisierte die Härte gegen sich und alle anderen. In Ilse ging der Samen der »Bewegung« voll auf.

Natürlich sah sie Gewalt und Ausgrenzung. Gegen »rassisch Minderwertige«, »Arbeitsscheue«, »Asoziale« und Juden. Sie sah Demütigungen und demütigte sicher auch selbst. (Kinder sind eifrig und grausam. Ich selbst war ein eifriges, grausames Kind.)

Nach der Volksschule absolvierte sie eine Ausbildung zur Säuglingspflegerin in Frankfurt am Main. Das Gebäude befand sich im Grüneburgweg 36, das zuvor jüdischen Mitbürgern gehört hatte. (Laut Iris sagte Ilse einmal beiläufig, sie habe dort die schönste Zeit ihres Lebens verbracht.)

Im Juli 1944, gerade achtzehn Jahre alt geworden, wurde sie als Wehrmachthelferin eingezogen. Sie landete in der 5. Ausbildungsabteilung für Luftnachrichten-Helferinnen im Luftgau-Nachrichten-Regiment 7 in Augsburg-Pfersee. Sie erhielt monatlich 153,56 Reichsmark (inklusive Wohnungsgeldzuschuss). Sie war gemeinsam mit den anderen Funkpeilern und den Kampfpiloten untergebracht. Ab dem 1. 5. 1945 wurden die Zahlungen eingestellt.

Nürnberg 4. 5. 1946

Liebe Peilerkameradin!

Meine Antwort heute hat schon etwas lang auf sich warten lassen, ich weiß es. Ich will weiter nicht viel Entschuldigungen schreiben. Die Hauptsache ist: dass sie nun heute doch noch kommt. –

An unsere liebe Tante Anna No. 263 denke ich natürlich auch oft und natürlich auch an das holde Dreigestirn, das sich mehr für Schwalbe 23 und Kolibri 76 als für die ganze Kringelei interessierte. Als Ihr beiden an jenem Kardienstag fehltet, wusste ich Bescheid. G., der sich in München verduftete, raufte sich die letzten Haare heraus und schrieb sich die Finger wund mit Fahndungsbefehlen und Steckbriefen in 10-facher Ausfertigung. In der Osternacht ging dann der –– in die Luft. Ich rührte keinen Finger. Nach »heldenhafter« Verteidigung fand sich die La. –– in ihren Posten einige Tage später in A.

L. mit L. suchten von dort das Weite. Schreiber, D. und ich, wir drei hielten als Letzte durch, als vorgeschobene Beobachter bei der Artillerie, bis wir am 2. Mai unten am –– in amerikanische Hand fielen. Alle drei sind wir bald und gut dann nach Hause gekommen. Wenn uns G. nur gefolgt hätte, im Juni wäre er schon daheim gewesen!

Ilse und Fritz hatten den Krieg überlebt. Viel mehr stand damals nicht auf ihrer Habenseite. (Kein Entschuldungsversuch.)

Fritz war zweiundzwanzig, als er vom Elsass mit seiner Infanterieeinheit per Bahn zurück nach Deutschland transportiert wurde. Nun saß er in Runkel in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und half bei der Demontage. Ilse war neunzehn und hatte sich aus Würzburg allein nach Hause geschlagen. Sie lebte wieder bei ihren Eltern. Gemeinsam mit ihren zwei Schwestern. Die Lage: gespannt.

Fritz hatte davon geträumt, als dekorierter Offizier der Luftwaffe heimzukehren. Aufs Dorf in Schroff. Und davon, seinem Stiefvater eine Ohrfeige zu geben. Aber er sah seine Grenzmark Posen-Westpreußen nicht wieder. Nicht den See und nicht den Wind darauf. Nicht die Kiefernwälder, die sandige Erde.

Elke entschuldete die Familie ihres Vaters auf folgende Weise: Katholische Bauern seien grundsätzlich keine Nazis gewesen. Die hätten besonders im Osten eher Zentrum gewählt als NSDAP. Der Katholizismus habe sie gefeit. (Aber das lässt sich nicht halten. Die Schulchroniken schreiben von hundert Prozent der Schüler in der Hitlerjugend. Die Inhalte befassten sich streng mit der Nazi-Ideologie.)

Fritz sprach nie über seine Kriegserlebnisse und die Abdrücke seiner Erfahrungen waren für mich nicht weiter sichtbar. Elke stellte sich vor, er habe bei der Besetzung Paris’ »eine ruhige Kugel geschoben«.

Ilse war innerlich schwer verwundet und setzte alles daran, sich nichts anmerken zu lassen. Sie zeigte sich stolz und angriffslustig und eckte in ihrer Familie nur an. Aber sie war auch findig und mutig und legte sich ins Zeug, um Essen für die ganze Bande zu »organisieren«. (Dietrichs wussten, was Hunger ist. Noch viele Jahrzehnte später gehörte es zur Familienkultur, ständig und ausführlich über Essen zu reden. Auch Elke muss als Kind gehungert haben. »Hat mir aber nicht geschadet« und so weiter.)

Meine Mutter wurde am 24. Dezember 1947 in die Arme ihrer knapp sechs Monate verheirateten Eltern hineingeboren. »Eine schreckliche Geburt! Sechsunddreißig Stunden Wehen! Sechsunddreißig Stunden Schmerzen!« – So wurde die kleine Elke von ihrer Mutter Ilse begrüßt. »Ist gut jetzt, Ilse.« – Und so von ihrem Vater Fritz. Elke war gesund und kräftig, schrie mit starken Stimmbändern und saugte engagiert an Ilses Brüsten. »Als wär ich ne Kuh …«

Ilse wird durch die Geburt retraumatisiert, die Schreie triggern sie, die Erinnerungen kommen wieder, Ilse ist völlig fertig, keiner versteht sie oder hilft ihr, sie selbst versteht nicht, was sie hat. Sie ist doch darauf geeicht, nicht zimperlich zu sein. Ein deutsches Mädel flennt nicht und hat Angst vor nichts. Für Führer, Volk und Vaterland hat sie sich jahrelang zusammengerissen, den Arsch aufgerissen, Trümmer, Leichenteile weggeräumt, ihren ersten Verlobten verloren, Erschießungen gesehen, Explosionen. Um dann zu hören, dass Hitler sich erschossen hat. Die feige Sau.

Anfangs lebten sie in einem einzigen Raum ohne Waschbecken. Wasser musste aus dem Keller geholt werden, ebenso wie Holz und Kohlen. (Deine Konzentration auf das Armutsmotiv ist ein bisschen monokausal, nein? Opferisierst du hier nicht auch?)

Ilse hatte Schlafstörungen. Abends fand sie nicht in den Schlaf und morgens blieb sie nicht darin. Eine diffuse Angst saß ihr im Bauch und trieb sie aus dem Bett. Gedanken und Zweifeln wollte sie sich »ums Verrecken« nicht hingeben. Kraft der Tat. Fritz murrte und drehte sich auf die andere Seite. Um nicht alleine zu sein, weckte Ilse Elke.

Elkes Körper glich dem ihrer Mutter. Und auch Ilses Schlafstörungen und die morgendliche Unruhe hatte Elkes Körper bald in sich aufgenommen. Nur die Hände und die Augen hatte sie eindeutig von Fritz geerbt.

Immer wieder schob Ilse Elke ab (wochenlang zu Fritz’ Eltern aufs Land, dann zu ihren Eltern) und Mal für Mal habe es ihr nicht geschadet. (So Elke.)

Das Kind wird gefüttert, gebadet und trockengelegt, im Übrigen aber vollkommen in Ruhe gelassen. Von vornherein mache sich die ganze Familie zum Grundsatz, sich nie ohne Anlass mit dem Kinde abzugeben.

Versagt auch der Schnuller, dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoss zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch, dass es nur zu schreien braucht, um eine mitleidige Seele herbeizurufen […]. Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht […] – und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig.

Nicht entschieden genug kann […] vor falscher Nachgiebigkeit gewarnt werden. Sie ist ganz unnütz, verzieht das Kind und raubt der Mutter Zeit und Kraft. Das Kind wird nach Möglichkeit an einen stillen Ort abgeschoben, wo es allein bleibt, und erst zur nächsten Mahlzeit wieder vorgenommen.

Bei großen kräftigen Kindern sei […] abermals der Rat gegeben: Schreien lassen! Nach wenigen Nächten […] hat das Kind begriffen, dass ihm sein Schreien nichts nützt, und es ist still.

Auch das schreiende und widerstrebende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen »kaltgestellt«, in einen Raum verbracht, wo es alleine sein kann, und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind ein solches Vorgehen begreift.

Bis ins hohe Alter »hielt« Oma Ilse ihre Figur. Sie war als BdM-Mädel Turnerin gewesen und hatte an mehreren Gau-Turnfesten teilgenommen. (»Eine herrliche, wunderbare Zeit.«) Später kam sie nicht mehr zum Turnen, begann stattdessen früh damit, Telegymnastik zu betreiben.

Durch die Schwangerschaft sei ihre Figur versaut worden, wie sie meinte. (Zu sehen war nichts.) Immer wieder warf sie Elke vor, aus ihr einen »Hefeklops« gemacht zu haben. Alle Beteuerungen Elkes, sie sei die schönste Mami der ganzen Schule, machten es bloß schlimmer. (»Der Schule? Kunststück … Mich mit den fetten Schabracken zu vergleichen.«)

Ilses Körper war permanent unter Spannung. Sie stand morgens pünktlich eine Minute vor dem Weckerklingeln mit einem Ruck senkrecht im Bett und riss die Fenster auf, begann, in der winzigen Wohnung hin und her zu rennen, hochkomplexe Choreografien rund um ihre wenigen Besitztümer auszuführen. (Ihr Tatendrang wirkte auf mich aggressiv. Wie sie Flecken herausrieb, auch Körperpflege, die sie an mir vollzog. Immer etwas zu ruppig, um als Zärtlichkeit durchzugehen. Ihr Verhalten eine chronische Abwehr von Nähe. Mit ihren groben Sätzen stieß sie mich permanent von sich. Dann klagte sie am Telefon wieder, dass ich mich so selten bei ihr meldete.) Fritz hingegen konnte stundenlang bewegungslos dasitzen.

Ilses große Szenen habe ich nicht erlebt, aber es muss sie gegeben haben. Elke sollte ihr als Kind oft starke Medikamente aus der Apotheke holen. Gegen ihre Migräne. Oder gegen die Gefühle. Für ihre Symptome hatte sie selbst kein Verständnis. (»Ich habe mich in meinem ganzen Leben nie gelangweilt«, prahlte sie triumphierend, als ich meine Depression erwähnte. Nach ihrem Tod konnte ich es sehen. Das riesige Haus war bis in den letzten Winkel frei von Staub. Kleiderschränke an allen Wänden waren so gut strukturiert, dass ihre gesamte Garderobe seit 1975 darin Platz gefunden hatte. Einige der Plastikkleider zerfielen beim Herausholen. Zig Handtaschen, nach Farben sortiert. In jeder einzelnen davon: ein Kugelschreiber, ein Notizblock, Taschentücher, hier und da ein Seidenstrumpf. Bis heute trage ich ihre alten Satinschlafanzüge auf.)

Ilse putzte sich gerne heraus und liebte es, ihre Reize an jungen Männern zu erproben. Deren erschrockene Gesichter feuerten sie zu immer größerem Wagemut an. (»Ich bin eine Dietrich: Quer verwandt mit der Marlene. Das alte Ami-Flittchen. Hätte die sich mal um unsere Männer gekümmert, damals!«) Sie trank dann schnell und viel, ließ sich hier und dort auf einen »jungfräulichen Schoß« fallen, bis Fritz sie aus dem Gefecht zog, sie über seine Schulter warf und nach Hause trug, ihre Schreie, Schläge, Beleidigungen unbeweglich ertragend. Er war kein pommerischer Bauernkopp. Und falls doch, dann war er mehr als das. Er hatte Abitur, auch wenn ihm das dank Weltkrieg und Vertreibung nichts genützt hatte. Ein »Scheiß-Flüchtling« unterschied sich nicht wirklich vom »Scheiß-Flüchtling« mit Abitur.

Elke flog über die Schulzeit hinweg, übersprang zwei Klassen und engagierte sich in der Schülerverwaltung, der Schülerzeitung, der Handball-AG und dem Demokratie-Komitee. Sie war anpassungsfähig und durchsetzungsstark.

Siebzehnjährig erhielt sie ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes für die Fächer Mathematik und Volkswirtschaftslehre. Ihre Mutter Ilse hielt nichts davon, dass sie zum Studieren in die Großstadt nach Frankfurt ging. Mit einer Mischung aus Sorge (vor unehelichen Enkeln, Lustmorden, Abnabelung) und Missgunst (»Durfte ich etwa leben, wie ich wollte? Warum soll sie es schöner haben? Schneider bleibt Schneider.« Ilse war Meisterin darin, Elke Schuldgefühle zu bereiten.) stellte sie sich ihrer Tochter in den Weg.

Ilse hatte gerade ihren »Schönheitssalon« eröffnet und war sich selbst eine wandelnde Schaufensterpuppe. Die Haare aggressiv toupiert und das Makeup raufasertapentenartig aufgetragen, stand sie vor ihrer Tochter und hyperventilierte: »Wie soll isch misch uff meine Arbeit konzentrieren, wenn du am anderen Ende der Republik durch die Betten springst?« (Vorwürfe, Beschämung und Demütigung gehörten zu ihrem ständigen Repertoire und auch ins Gesicht hatte Ilse Elke oft geschlagen, stets im Affekt, aber stets auch zielgerichtet und hart.) Doch diesmal schlug Ilse nicht mehr zu. (Hatte sie gespürt, dass Elke mit dem Gedanken spielte, sie beim nächsten Mal zurückzuschlagen? Elke war eine ausgezeichnete Leichtathletin. Norddeutsche Meisterin im 7-Kampf. Sie warf den Speer wie eine Amazone. Sie nahm die Hürden ganz leicht. (Vater Fritz missfiel es, wenn Elke in kurzen Turnhöschen auftrat. Er murrte, sagte aber nichts. Verschränkte seine »pommerischen Bauernarme«, wie Ilse immer sagte, und »schaute beleidigt aus der Wäsche«.)) Stattdessen heulte, zeterte, flehte und drohte sie, drückte ein paar Tränchen heraus, die sie mit vorwurfsvoller Geste unter »Zerstörung meines teuren Make-ups« abwischte, doch Elke wartete alles bloß lächelnd ab. Sie winkte, klopfte ihrer Mutter halbgar auf die Schulter und ging in die Freiheit.

Ilse Schneider weinte fast täglich, doch ihre Tränen waren reiner Bühnenzauber. Tatsächlich konnte sie aus dem Stand heraus weinen, sie brauchte nur einen gewissen Ton anklingen lassen. Vermutlich hätte sie eine Bühne gebraucht, um in diesem Leben glücklich zu werden. Exzentrisch und kaputt wie sie war, angriffslustig und gemein, rauschhaft, dann wieder selbstmitleidig, heulend, voller Vorwürfe – ihre Talente kamen nicht zur Geltung.

Was, wenn sich Ilse nackt auf eine Bühne gestellt und geschrien hätte: »Alles, was ich will, ist mit Liebe überschüttet werden, wenn es mir schlecht geht und ich um Hilfe schreie.« So fies und gehässig wie sie auftrat, schien sie keinerlei Mitgefühl zu besitzen. Und doch war sie die Unglücklichste von uns allen. (Oder halt einfach bloß böse.)

Ilse arbeitete ihre Traumen nie auf. Nie brachte jemand ihre Gewalterfahrungen in Zusammenhang mit ihrem extremen Verhalten. Sie war viele Jahre lang medikamentenabhängig, gebärdete sich sexuell aggressiv, sprach gewaltvoll und ertrug keine gesunden Beziehungen. Nähe und Distanz waren ein nervenaufreibendes Spannungsfeld in ihrer Umgebung. (Ilses Unglück war wohl zu tief vergraben und viele kamen überhaupt nicht auf die Idee, dass in ihr ein Abgrund wohnte.)

Elke würgte Oma Ilse im Handumdrehen ab, begann diese über den Krieg zu sprechen. Einmal beim Brunch erhaschte ich den Zipfel einer Erzählung über ihre Fahnenflucht durch den Wald, Ostern vor Kriegsende. »Warum gibt es in einer Kaserne keine Jungfrauen? Ja. Warum wohl.« Die Erhängten in den Bäumen, die Erschossenen am Weg. Ich stellte hastig Fragen, doch Elke wurde gleich scharf, Ilse solle mit ihren egozentrischen Nazi-Geschichten aufhören. (Lag es an meinen Fragen?) Meine Oma fing an zu weinen, allerdings derart künstlich, dass mir gleich schlecht davon wurde, zudem zog sie mich an ihren riesigen, gestärkten, spitzen Busenhalter, hielt mich als Schutzschild vor sich und behauptete greinend, ich sei ihre einzige Verbündete in der Familie.

Das Verhältnis zwischen Elke und Ilse war toxisch. Elke ähnelte ihrer Mutter in vielem, obwohl sie lange darum kämpfte, das genaue Gegenteil von ihr zu werden. (Und ich bin auch eine klassische Schneider.)

Ilse starb einsam, unter zwei jungen Pflegern, die reanimierten. (Vielleicht waren sie hübsch und sie visionierte es sich schön? Ich glaube daran, dass ein Mensch so stirbt, wie er gelebt hat. Bezogen auf seine Mitmenschen. Wie sollte sein Leben auch plötzlich eine andere Ausdrucksform finden?)

Als ich kam, hatte Elke nahezu alle persönlichen Unterlagen von Ilse bereits weggeschmissen. Damit wollte sie nichts zu tun haben.

Natürlich litt Elke als Kind unter dem Trauma ihrer Mutter und natürlich traumatisierte sie Ilses unzuverlässiges, brutales Verhalten. (Je öfter ich Trauma sage, umso stärker verblasst die dahinterstehende Bedeutung.)

Meine Mutter entschied sich für die Beziehungslosigkeit, die sie als Freiheit auffasste, totale Einsamkeit, radikale Isolierung. Sie war gefangen in ihrem Eisenofen. (Rührte es daher, dass sie vierjährig isoliert im Krankenhaus lag? Was empfand sie dort? Wo finde ich diese Information, die sie mir verweigerte? Holte Oma Ilse sie unter Vorwürfen ab? Gemeinen Sprüchen? »Was glaubst du, was ich durchgemacht hab, wegen dir?« »Haben sie dich verwöhnt im Krankenhaus?« »Hat das Essen dir da besser geschmeckt?« »Willst du zurück zu deiner Schwester Beate?« Fiktion. Reine Fiktion. Ich agiere in Fantasien aus, was meine Mutter leugnete.)

In gewisser Weise war ihre Poliomyelitis-Erkrankung 1951 sicherlich initial für ihr ganzes späteres Leben. Sie war fast fünf, als sie erkrankte. Den Gesichtsausdruck ihrer Mutter Ilse, als diese zu ihr hinab ins Kinderbett schaute, sollte sie ihr ganzes Leben lang nicht vergessen. (»Ich habe niemals ein eigenes Kinderbett gehabt. Deine Geschichtsschreibung ist gefälscht, Tochter. Ich habe im Bett meiner Eltern geschlafen bis zum neunten Lebensjahr. Wir haben in einem Zimmer gewohnt. Du staffierst alles aus, wie es dir passt. Aber mach nur, mach!«)

Der Schrecken im Gesicht der Mutter. »Das Kind ist ein Krüppel! Das Kind ist gelähmt!« Sie war am Ende, fix und fertig, immer nervös, ein Streichholzratschen reichte, und sie explodierte.

Ilse ist nie zärtlich, nie zugewandt. Alle Bedürfnisse der kleinen Elke empfindet sie als Zumutung, als Vorwurf gegen sich, dann als Undankbarkeit, denn was reißt sie sich nicht die Arme aus, um den Schreihals zufriedenzustellen. Und jetzt Kinderlähmung. Als Lohn für ihre Mühen. Sie ist doch immer eine gute deutsche Frau gewesen. Ganz gesund und noch so jung.

Das Kind muss fort, sofort, ins Krankenhaus. Und (die kleine) Elke fühlt sich schuldig, dass sie ihrer Mutti solche Sorgen macht. Denn Ilse weint und versucht, dem Doktor irgendetwas zu erklären, aber der will das nicht hören, und dann zieht eine Krankenschwester Elke nackt aus und ein Nachthemdchen an und vielleicht lächelt sie hinter dem Mundschutz. Elke vermutet, sie selbst sei eine Bestie und eine Gefahr.

Hatte sie Angst? Um Ilse? Um sich? Verstand sie, dass sie in Lebensgefahr schwebte? Oder war alles nur Schmerz und Fieber und hoffentlich Schlaf.

Und wieder einmal rationalisierte sie lieber, als dem inneren Schmerz nachzugehen. (Ilse habe sie aufgrund der Ansteckungsgefahr nicht in den Arm nehmen können. Es waren andere Zeiten. Es hat mir nicht geschadet. Ganz im Gegenteil.)

Irgendwann ging die Tür zu. Und nicht mehr auf. Keiner erklärte es ihr. Für was sie wohl bestraft wurde? (Jeder Abschied brach die alte Wunde auf. Wie sollte sie wohl einmal sterben, wo sie bei jeder Umarmung am Gate zum Stein wurde?) Das Bett war weich und weiß. Vielleicht war sie im Himmel bei den Engeln? Vorm Fenster ein Gitter. In der Tür ein Fenster. Dahinter ein Licht. Manchmal der Schwesternkopf. Niemand sprach mit ihr.

Dann die schreckliche Prozedur der Rückenmarkflüssigkeitsentnahme. Eine Spritze in den Rücken, zu viert hielten sie die schreiende Elke fest.

Als die Schmerzen langsam verschwanden, kam die Langeweile. Strikte Bettruhe. Nur Weiß. Das Denken konnten sie ihr nicht verbieten. So wie das Schreien und das Weinen.

Sie hatte jetzt verstanden, dass sie eine Überlebende und dass sie stark war. Stärker als die anderen. Und noch dazu hatte sie Glück gehabt. Ihre Gesichtslähmung war zurückgegangen. Ihre Arme und Beine waren nicht gelähmt. Sie war kein Krüppel. Vielleicht würde die Mutter sie (doch) wiederhaben wollen. Falls sie nicht vor Kummer gestorben war. So oft hatte sie gesagt, dass sie eines Tages aus Kummer um Elke sterben würde.

Einmal standen sie am Fenster. Ilse und Fritz. Rausgeputzt und übertrieben fröhlich. Winkend, was das Zeug hielt. Da fing Elke sofort wieder an zu heulen, weil ihr Herz riss, und die fröhlichen Gesichter versschwanden so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren.

Natürlich war die wochenlange Isolation ein traumatisches Erlebnis und Grundlage der Bindungsstörung meiner Mutter.

Ebenso wie das Aufwachsen in Armut, die vielen Schläge, die Unberechenbarkeit ihrer psychisch kranken Mutter. (»Was heißt hier psychisch krank? Den Luxus psychischer Krankheiten leisteten wir uns nicht.«)

Elke entwickelte in der Folge eine überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft. Weil sie glaubte, Leistung erbringen zu müssen, um etwas wert zu sein, um gesehen zu werden, um geliebt zu werden. Um ihre Einsamkeit zu übertönen, um der existenziellen frühkindlichen Erfahrung etwas entgegenzusetzen: verstoßen und abgelehnt worden zu sein. Sie kämpfte mit Leistungen gegen das ewig drohende Gefühl an: niemals in ihrem Leben in eine Beziehung vertrauen zu können, nie Liebe um ihrer selbst willen erwarten zu können.

Elke lachte mich für meine Thesen aus: »Weil es mir Spaß machte, weil es sich gut anfühlte und weil ich es so wollte.«

Warum verachtete sie alle Ärzte? Warum weigert sie sich bis fast zum Schluss, zum Arzt zu gehen? Ich sage: aus Angst. Sie sagte: »Weil es eine Bande von Halsabschneidern ist.« (Aber in die Familie Estor einheiraten …)

Je älter sie wurde, desto offener attackierte ich sie für ihre gepanzerten Erzählungen. Mal emotional und einfühlsam, was immer sofort ihren Spott und ihre Abwehr provozierte. Mal aggressiv, woraufhin sie manchmal für einen ganz kurzen Moment sehr weich wurde. Aus Mitleid mit mir, wie ich irgendwann verstand.

Mehrfach machte sie mir klar, dass mich ihre Psyche nichts angehe und dass sie auch nicht gewillt sei, darüber zu sprechen. Dann gab es plötzlich wieder sehr zarte Situationen und eine große Offenheit, über die Kindheit ihrer Eltern und das Leben ihrer Großeltern zu sprechen. (Ihre Gefühle bezüglich ihres eigenen Wesens und ihrer Herkunft waren stets ambivalent.)

Sie war sehr stolz darauf, nach ihrer Polio-Erkrankung ihr ganzes Leben lang gesund geblieben zu sein. (Bis hin zu ihrem festen Stuhlgang, mit dem sie gelegentlich prahlte.) Ihre orthorektische Diät hielt sie für die Grundlage ihrer blendenden Verfassung und diese, das stellte sie immer wieder klar, für ihre ureigene Leistung. (Ergo waren alle Kranken selbst schuld, da sie Schweinefraß aßen, zu wenig tranken und sich nicht ausreichend bewegten.) Ihr Bewegungspensum war zwischenzeitig hypomanisch. (Sie spielte dreimal die Woche je drei Stunden Squash und trainierte für den Ironman auf Hawaii.)

Die Kontrolle über sich aufgeben zu müssen, ihre Selbstbestimmtheit zu verlieren, auf Hilfe oder gar Pflege anderer angewiesen zu sein, war für sie eine schreckliche Vorstellung. Ich hatte keinen Zweifel, dass sie sich in so einem Fall das Leben nehmen würde.

Sie schmiss mich raus, als ich ihr zum ersten Mal von einer Krankheit namens Post-Polio-Syndrom erzählte. Ich hatte bemerkt, dass sie Schmerzen litt. Ihre Versuche, die Gebrechlichkeit zu ignorieren, ein höheres Bewegungspensum anzusetzen und mit aller Härte durchzuziehen, scheiterten. Immer hatte sie Schwäche mit Leistung bekämpft und immer hatte sie über ihren Körper triumphiert.

Sie akzeptierte es am Ende. Dass sie ihren Körper schonen musste. Dass sie Ruhephasen brauchte. Und endlich sogar den motorisierten roten Flitzer. Und sie bedankte sich bei mir für meine Fürsorge. (Ha!)

Sie starb schließlich einen Tod, den ich ihr nicht zugetraut hätte.

Es war eine ungemütliche, extrem schmerzhafte Zeit und wir ahnten beide nicht, worauf wir uns miteinander einließen. Ich hatte ihr versprochen zu bleiben, egal was passieren würde, damit sie nicht alleine sterben musste.

Hin und wieder schlugen ihre inneren Höllenhunde Alarm und dann schrie sie mich an, ich solle abhauen und mich um meinen eigenen Scheiß kümmern. Es gehe ihr bestens, sie sterbe nicht. »Was mischst du dich in mein Leben ein. Willst du mich umbringen? Lass mich in Ruhe!«. (Als Kind war ich vor ihrer Wut erstarrt und erst jetzt erinnerte ich mich wieder, wie oft sie damals rumgebrüllt hatte und wie laut.)

»DU STIRBST NICHT? UND FRAGST MICH, OB ICH DICH UMBRINGEN WILL??? Jetzt hörst du mir mal zu, Elke: Dass du alles abspaltest, was dir nicht in dein gepanzertes und unverwundbares Selbstbild passt, wie Schwäche, Angst und Schmerz – du glaubst, das geht mich einen Scheiß an? Alles, was du abspaltest, das bleibt an mir hängen! Du bist nicht so beziehungslos in dieser Welt, wie du denkst oder wie du es dir vielleicht ja sogar wünschst. Ich hänge an dir dran! Ich leide unter dir und deiner Störung! Wir sind beide gefangen in deinem Eisenofen! Und auch wenn du es versuchst: MICH KANNST DU NICHT ABSPALTEN! NIE! Ich spüre deine Angst und deinen Schmerz und deine Einsamkeit! Zur Not werde ich dich zwingen, Therapie zu machen!«

Während ich vor ihr stand und sie anbrüllte, der Zorn fühlte sich so gut an und ich mich so stark, da merkte ich, wie feige es von mir war, jetzt mit ihr abzurechnen. Sie war todkrank und wog noch fünfunddreißig Kilo. Die Wimpern waren ihr von der Chemo ausgefallen. (Ja, sie ließ sich mir zuliebe tatsächlich behandeln. Unglaublich, aber wahr.) Erst jetzt konnte ich es sehen. Sie war schrecklich schwach und ich rächte mich lustvoll an ihr. Und sagte ihr, was ich mich nie getraut hatte zu sagen.

Und wie in einem Hollywoodfilm setzten dann die Geigen ein und wir begannen beide zu weinen und sprachen uns aus. (Nicht.)

Ihr Mundwinkel zuckte, aber das war die alte Lähmung. Alles und nichts hatte sich gelöst.

Wir fuhren dann nach Feuerland. Sie wollte wandern. Ich hielt ihr keine Vorträge über die Unvernunft. Immer hatte ich ihren Glauben an die Vernunft kritisiert. Jetzt wollte ich ihr damit kommen? Wie einem kleinen Kind. Ich hielt es für wahrscheinlich, dass sie in eine Felsspalte springen würde. Ich hätte mein Erspartes darauf gesetzt, dass sie vor dem Sterben eine Abkürzung nehmen würde.

Sie ist dann ganz entspannt gestorben, ohne sedierende Medikamente. (Meine Mutter ist eine Schneider und kennt keinen Schmerz.)