Klaus fing dann doch noch ein bisschen an, sich zu erinnern. An seine Zeit mit Elke in der KPM. Mich erwischte er einigermaßen kalt damit. Ich saß auf seiner hässlichen Couch und trank seinen ungenießbaren Yogi-Tee, da holte er plötzlich eine Kiste raus: Darin ein paar vergilbte Exemplare des KPM-Parteiorgans, diverse bedruckte Zettel, Maschinenschrift auf Papier, sowie zwei, drei Fotos von ihm selbst mit blauer Schiebermütze und einer abgerissenen Gitarre in der Hand.
»Wir wollten die Fabrikarbeiter befreien von ihrem stumpfen Dasein, aber die fanden uns nur überheblich. Wie wir morgens um fünf am Fabriktor das Parteiorgan der KPM verteilten.«
Mit gelbem Textmarker hatte er die Artikel für mich markiert, die sich um Elkes Prozess und ihren Gefängnisaufenthalt drehten. Die kannte ich alle schon aus der Archiv-Datenbank im Netz. Aber auch ein handschriftlicher Brief von ihr war dabei. Ich registrierte es sofort, wollte aber nicht gleich gierig danach greifen.
»Ich hab es natürlich nie zum Kader gebracht. Ich war ein schlichter Sympathisant und galt als unzuverlässig. Als Telefonist bei Neckermann hab ich es keine zwei Wochen ausgehalten. Elke war der leuchtende Stern. Sie hat ständig neue Leute für die Partei rekrutiert. Deshalb haben sie sie auch so lange machen lassen. Frauen waren ansonsten in der Partei eher fürs Tippen und Kaffeekochen da. Ich bin am Rande von Demonstrationen hin und wieder als Ernst-Busch-Imitator aufgetreten. Das hat mir Spaß gemacht. Aber das war natürlich Linksopportunismus. Ich musste eine Selbstkritik machen und ließ es dann sein.«
Mao sehe er heute natürlich kritisch. Von Enver Hoxha ganz zu schweigen. Wenn er an das Tiananmen-Massaker auf dem Roten Platz denke, könnte er sofort anfangen zu heulen. Welche seelischen Wunden die Kulturrevolution unter Maos Banner gerissen hatte.
»Wir waren Proletarier.« Klaus lachte.
»Und worüber GENAU lachst du da jetzt?«
»Ach, Kissi, sei doch nicht immer so hart mit mir.«
Er stand auf und ließ mich kurz alleine. (Ich befürchtete, er würde sich im Bad einschließen, um über meine Kränkung zu weinen.)
Preungesheim, den 8. 8. 1975
Liebe Genossen!
Als Anlage erhaltet ihr den versprochenen Brief an die albanischen Jugendlichen, um den die September-Reisegruppe gebeten hatte. Ich würde auch gerne ein kleines Geschenk mitschicken, da ich aber kaum etwas Brauchbares habe und mir keine gelungene Bleistiftzeichnung zutraue, lege ich nur einen kleinen Scherenschnitt aus der VR China bei, der mir bislang als Lesezeichen diente.
Meine Situation hat sich inzwischen nur unwesentlich verändert. Sämtliche politische Zeitungen wurden mir verboten und ich habe dagegen beim hessischen Justizminister Einspruch eingelegt. Ein Brief, in dem mir mein Mann aktuelle politische Vorgänge berichten wollte, wurde offensichtlich beschlagnahmt. Ich erhielt aber eine Genehmigung für eine Schreibmaschine und werde euch demnächst nicht mehr mit meiner miesen Handschrift belästigen müssen. Sämtliche Exemplare von Chinese Literature und einige Mao- und Envertexte habe ich ebenfalls erhalten und zurzeit widme ich mich fast den ganzen Tag der Übersetzung der chinesischen Kurzgeschichten. Nebenbei mache ich in Französisch ganz gute Fortschritte. Ich sehe das unter den gegebenen Umständen als meine bescheidene Vorbereitung dazu an, an der Stärkung der Einheit und Solidarität der europäischen Völker besser mitwirken zu können. Seit ich mir das richtig klargemacht habe, lernt es sich noch mal schnell! Bezüglich der beantragten Verlegung habe ich noch nichts gehört. Ein besonderer Kunstgriff der Klassenjustiz besteht darin, mich in ein Gefängnis zu stecken, in dem fast nur notorisch rückfällige Kriminelle untergebracht sind, die durch und durch von der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Idealen korrumpiert sind. Ich finde die Worte Magnus Brandts, die er auf der Gründungsveranstaltung der Roten Hilfe Deutschlands zu diesem Thema gesagt hat, vollauf bestätigt. Unter den genannten äußeren Bedingungen muss man nach Kräften die gefährliche Theorie bekämpfen, man könne gewissermaßen »politisch überwintern«, den Kampf aufgeben, ihm aus dem Wege gehen und nach 18 Monaten mit einer blitzsauberen, vielleicht noch weiter geschulten kommunistischen Einstellung das Gefängnis verlassen. Das ist absolut unmöglich! Im Volksmund sagt man: »Wer rastet, der rostet« und das trifft auch auf uns politische Gefangene hundertprozentig zu. Das heißt, der Kampf muss fortgesetzt werden.
Konkret heißt das für mich, dass ich mich nicht in die geisttötende Knastarbeit einspannen lassen will, die kaum Kontakt mit den bereits grob charakterisierten Mitgefangenen ermöglicht. Ich habe mir stattdessen einen streng geregelten Tagesplan aufgestellt, den ich eisern einhalten will und muss, um nicht zu verfaulen. Er beginnt um 5.30 Uhr mit dem Aufstehen und lockerer Frühgymnastik. Nach dem Frühstück um 6.00 Uhr, fange ich an, Französisch zu lernen. Ab etwa 8.30 Uhr setze ich mich für zweieinhalb Stunden an die Theorien über den Mehrwert, die ich aus der Gefängnis-Bücherei ausleihen konnte. Da raucht der Kopf. 11.00 Uhr Mittagessen. Anschließend trinke ich eine Tasse Kaffee, um die aufsteigende Mittagsmüdigkeit zu bannen. Dann geht es bis [unleserlich]. Den Abschluss des Arbeitstages bilden zwei Stunden Klassikerlektüre, darin sah die Anstaltsleitung keine Gefährdung der Sicherheit und Ordnung …
Ich fühle mich in jeder Beziehung auf dem Damm und das soll auch so bleiben. Aus Frankfurt bekam ich eine Resolution des RH-Stammtisches und eine Grußbotschaft unserer italienischen Bruderpartei geschickt. So viel für heute – bis demnächst. Vorwärts mit der KPM!
Mit Rotem-Hilfe-Gruß,
Elke
Klaus stand in der Tür und hielt eine Gitarre in der Hand, die ich nicht kannte. Eine blaue Schiebermütze saß auf seinen weichen Haaren.
»Die Wahrheit ist, dass die Genossen Elke im Knast total alleingelassen haben. Außer mir hat sie keiner mal besucht. Und nach ihrer Entlassung wurde sie ziemlich bald aus der Partei ausgeschlossen. Es gab eine regelrechte Anklage und Elkes Selbstkritik bewerteten die obersten Genossen als Beweis ihres Rechtsopportunismus.«
»Die Genossen hatten ein Problem damit, dass sie eine Frau war. Dass sie rhetorisch so gut war und mehr Köpfchen hatte als alle Macker zusammen. Sie fuhren eine echt beschissene Kampagne gegen sie. Angeblich war sie eine Agentin des Klassenfeindes. Weil sie im Betrieb zu schnell aufstieg. Dass sie eine Familie zu ernähren hatte, interessierte keinen. Dass sie gute Arbeit machte.«
Er fing an, die Gitarre zu stimmen, und baute sich schließlich vor mir auf, um mir ein Ständchen zu spielen.
Denn Krupp ist Monopolherr
Und Krause ist Prolet
Das ist der Klassengegensatz
Den jedermann versteht.
Er tänzelte recht anmutig durch den Raum. Sein Hüftleiden löste sich für einen zauberhaften Moment in Vergessenheit auf.
»Klaus Adebesi und ich, wir waren die Bibbernden Barden. Aber das war noch zu Schulzeiten, bevor ich Elke über den Weg gelaufen bin. Vielleicht sollte ich den mal wieder anrufen.«
Plötzlich überfiel ihn ein Hustenanfall, der sich durch nichts beruhigen ließ. Ein Reißnagel schien ihm im Hals zu stecken und er zog sich ins Bad zurück, um ihn herauszuwürgen.
ELKE SCHNEIDER IM GEFÄNGNIS – KLAUS SCHNEIDER DROHT ENTLASSUNG
Mitte Oktober erhielt Klaus Schneider, Referendar an einer Schule für lernbehinderte Kinder in Friedberg, einen Brief des Darmstädter Regierungspräsidenten, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass das Kulturministerium nicht beabsichtige, ihn nach bestandener zweiter Prüfung als Lehrer einzustellen. Klaus schrieb daraufhin einen offenen Brief an die Eltern, Schüler und Kollegen seiner Schule. Er erklärt in diesem Brief, warum er Kommunist geworden ist, und zeigt am Beispiel seiner Familie, wie »frei« man heutzutage als Kommunist in dieser angeblichen Demokratie ist.
Klaus’ Frau, Elke Schneider, wurde 1972 bei der Demonstration zum Roten Antikriegstag verhaftet und 5 Wochen in U-Haft gehalten. Nacheinander wurde sie dann an zwei Arbeitsstellen entlassen. Im Prozess wurde sie zu 18 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Sie fand wieder eine Anstellung bei den Farbwerken Hoechst. Als man dort aber erfuhr, dass sie Mitglied der KPM ist und eine Gefängnisstrafe zu erwarten hat, wurde sie sofort fristlos entlassen.
Klaus schreibt in seinem Brief: »Am 15. Juli 1975 wurde meine Frau abends von zwei Polizisten abgeholt. Ich hatte gerade eine Besorgung zu erledigen. Als ich nach Hause kam, stand meine Nachbarin aufgeregt vor der Haustür. Die Polizisten hatten ihr zwar Bescheid gesagt, meine Frau konnte ihr aber nicht mehr den Schlüssel geben. Und so lag unser drei Monate altes Baby hilflos in der Wohnung, ganz allein. Seitdem sitzt meine Frau im Gefängnis als politische Gefangene … Ich bin sicher, wenn Sie dies gelesen haben, so wundert es Sie nicht, dass der Regierungspräsident mir nicht einen Brief geschickt hat, in dem vielleicht das Folgende gestanden hätte: ›Lieber Herr Schneider, Sie sind ja jetzt wirklich in einer schwierigen Situation. Ihre Frau sitzt im Gefängnis und Sie müssen jetzt ein Kind von einem halben Jahr großziehen, außerdem müssen Sie gerade Ihre zweite Staatsprüfung ablegen. Sie können als sozialer Härtefall die Gewissheit haben, dass wir Sie weiterhin als Lehrer beschäftigen.‹ Stattdessen erhielt ich die Ankündigung meiner Entlassung; ich soll nicht mehr unterrichten dürfen, weil ich Kommunist bin.«
Klaus nahm diesen offenen Brief mit in die Schule. Zwei seiner Kolleginnen haben ihn mit in ihre Klassen genommen und dort an ihre Schüler verteilt. Klaus selbst besprach den Brief mit seinen Schülern. Bereits nach der ersten Stunde kam der Rektor, erklärte, er sei beim Schulrat gewesen und der habe verboten, dass dieser Brief verteilt würde, weil es wahrscheinlich eine politische Propagandaschrift sei.
Als Klaus den Schülern in der zweiten Stunde den Brief gab und erzählte, dass es verboten sei, fingen die Schüler sofort an, ihn zu verstecken. Im Hemd, im Schuh oder im Atlas. Als der Rektor in die Klasse kam und sie aufforderte, den Brief einzusammeln, war die einhellige Antwort der Schüler: »Was’n für’n Brief? Wir haben doch keinen Brief.« Genauso einhellig waren sie der Ansicht: »Wenn der Schneider gehen muss, gehen wir auch.«
Der Rektor machte sich dann selbst daran, in den Klassen die Briefe wieder einzutreiben. Verschiedene Lehrer hetzten, dass es richtig wäre, wenn Klaus sofort aus der Schule flöge und dass auch seine Frau völlig zu Recht im Gefängnis sitze. Trotzdem gaben einige Schüler die Briefe nicht heraus.
Klaus schreibt uns: »Ich habe jetzt vor, weiter mit den Schülern über meine Entlassung zu diskutieren. Den Eltern werde ich die Briefe mit der Post schicken bzw., wenn möglich, selbst hinbringen.
Man darf natürlich die Bourgeoisie nicht unterschätzen. Die sind durch mein offensives Vorgehen ganz schön ins Flattern geraten. Möglicherweise werden sie mich noch vor meiner 2. Prüfung suspendieren. Dann müsste der Kampf mit der Zielrichtung weitergeführt werden, dass ich zum einen meine Prüfung machen kann und zum anderen, dass ich im Schuldienst bleibe.«