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An den Kindern zeigen sich die Störungen der Eltern. Die Kinder reagieren emotional inadäquat (unterdrückte Wut; Unfähigkeit, Schwäche auszudrücken, um Hilfe zu bitten; starker Wut-Affekt überdeckt Gefühle von Hilflosigkeit, Trauer, Einsamkeit, Angst) und die Eltern werden daraufhin zum Entwicklungsgespräch in den Kindergarten gebeten.

Man doktert individuell an den Kindern herum, dreht ein paar Schräubchen fest und lockert andere. Doch sie wollen einfach nicht funzen.

Mehr und mehr kommt das ganze Familiensystem in den Blick und es wird deutlich, dass etwas faul ist im Staate Parathym.

Die Eltern sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, einen unangemessenen Umgang mit Gefühlen vorzuleben. Wie kommt’s? Wie geht’s wieder weg? Sind wir in Wirklichkeit aus Holz, wo wir uns doch für echte Menschen hielten?

Das Misstrauen gegenüber dem eigenen Sein und dem Selbst – sofern diese den Namen verdienen – wächst sich aus zu einer Wand, die jeden Ausblick versperrt.

Die zeitgenössisch angesehene Selbstoptimierung und Effizienzeinstellung verführen uns zu dem Glauben, wir hätten uns und unser Sein in der Hand, erzögen unsere Kinder wirkungsvoll und formten sie nach uns bewussten Mustern. In den meisten Fällen agieren wir schlicht das Erbe unserer Ahnen aus, unbewusst und unreflektiert, und überschätzen unsere Wirkungsmacht um ein 77-faches.

Das Kind schlägt den Stuhl, weil er ihm im Weg stand.

Die Eltern schimpfen das Kind, weil es ihre Schatten zum Tanzen bringt.

Die psychosomatisch Erkrankten verfluchen ihre Symptome als Ursachen ihres Unglücks.

Iris, Aki und ich leiden unter Symptomen, die wir uns nicht erklären können. (Im Grunde sind wir ein Körper.) In Kaufhäusern werden wir nervös. Lärm in geschlossenen Räumen, diffuse Geräuschkulissen, Kinderschreie lösen akuten Stress aus. Klaus hingegen lassen solche Situationen kalt (sehr kalt, zugegebenermaßen, vielleicht ist das auch nicht normal), während Elke auf dieselben Reize noch stärker reagierte. Sie wurde unruhig und aggressiv, wollte sofort weg und sich bewegen. Über das Verhalten der Kinder sind wir auf die Spur gekommen, dass es sich um die unbemerkte Weitergabe eines alten Traumas halten muss. Unsere Cortisol-Analyse ist eindeutig. Wir werden von alten, fremden Triggern attackiert. Unsere Körper verwalten unbewusst die Gefühlserbschaft unserer Mutter, unserer Oma.

Meine Geschichte ist nicht meine Geschichte.

Sehnsucht danach, dass die multiplen Traumen anerkannt werden, um die diversen Schonhaltungen ablegen zu können, die ursprünglich zum Schutz eingenommen wurden, die aber selbst schädigend sind.

Ich habe die Relativitätstheorie nie durchdrungen. Dass Zeit relativ ist, keine objektive Größe ist. Dass Zeit nicht immer und überall gleich wirkt und vergeht. Dass aber die vergangene Vergangenheit fortwirkt, verstehe ich gut. Spüre ich.

Die Schreckhaftigkeit, das Gefühl, verfolgt zu werden, jemanden im Nacken zu haben, aufgelauert zu bekommen.

Die Tage vor Ostern 1945, wie Oma Ilse sie erlebte, leben in mir bis heute fort. Lebten. Denn nun, wo ich von ihnen weiß, hören sie auf, in mir blind zu schreien. (Doch die Trauma-Arbeit ist nie abgeschlossen.)

Die Beziehungen sind gestört. Ja. Aber was heißt das? In unserem Fall heißt es, dass wir jede Verbindung kappen, kaputtmachen. Wir schieben etwas zwischen uns und den oder die anderen. Dieses etwas ist die Kritik am anderen. Wir analysieren den anderen auf seine Schwächen, Makel, Unstimmigkeiten hin und schieben ihn so von uns weg. Gleichzeitig bringen wir uns damit unter Spannung, als Mensch, in dieser Welt, und überhaupt, gut sein zu müssen. Da wir die anderen krampfhaft bewerten, befürchten wir, andere könnten uns auch be- und verurteilen. Wir verstehen Kontakt als Leistungsprüfung. Andere machen uns Angst. Wir empfinden Beziehungen als Stress.

Getriebenes Sprechen, um Gefühle abzuwehren (negative), und kraft des Willens Stimmung zu produzieren (positive).

Opfer, die lieber selbst Täter sein wollen, als Opfer genannt zu werden. Opfer, die alle Verletzungen leugnen, die in Drachenblut baden, die in Stahl baden, die sich auf ihre Leistungsfähigkeit verlegen, eine spezielle Art der Dissoziation. Die ihre Schmerzen in andere legen, die andere Menschen ihre Gefühle austragen lassen, außer der Wut, die sie zusammenhält. Opfer, die aufgehört haben, Opfer zu sein: Sie verachten Schwäche, sie verachten den Stillstand.

Immer hielt ich Oma Ilse für eine potenzielle Täterin. Immer hielt ich Opa Oskar für ein Opfer.

Gabriele Rosenthal schreibt: »In Familien von Überlebenden konzentrieren sich Mythen auf die Themen ›Stärke‹ und ›Widerstand‹, während in Familien von Tätern die Opferrolle der Familienangehörigen strapaziert wird.«

Mütterlicherseits komme ich aus dem Feuer. Einem Zustand chronischer Erregung. Brennende Wunde. (Das Trauma drückt sich schon im Mutterleib auf den nachkommenden Körper ab.)

Väterlicherseits komme ich aus dem Meer. Einem Gewässer, das Depression heißt. Der depressive Blick vermag den Angesehenen zum Opfer zu machen. Das Kind etwa wird traditionell opferisiert. Um die unzureichende Bindung zu ihm aufzubauen und eine – wenn auch krankhafte – Nähe herzustellen. So reicht man das Meer von Generation zu Generation weiter, das einen von innen überschwemmt und jedes Gefühl mitreißt.