Ich weiß nicht, wie Ilse damals reagiert hat. Ich weiß nicht, was Elke empfand. Ich weiß nicht, wie sie ins Krankenhaus, wie sie zur Diagnose kam. Ich weiß nicht, was sie dachte, wie sie behandelt wurde. Ich weiß nicht, wie das Zimmer aussah, wie der Besuch vor sich ging, ich weiß nicht, wie die Therapie ablief, ich weiß nicht, wie die Ärzte und Schwestern mit ihr sprachen. Ich weiß nicht, wie sich eine Traumatisierung bei einem 4-jährigen Kind äußert und wann sie sich zeigt.
Ich weiß nicht, wie es sich für Elke angefühlt hat, die Tochter Ilses zu sein. Ich weiß nicht, ob sie ein stilles oder unruhiges Kind war. Ich weiß nicht, welche Gefühle sie begleiteten, als sie in der Schule Erfolge feierte. Ich weiß nicht, wie sie sich Ilse gegenüber verhielt, als sie zu Hause auszog. Ich weiß nicht, worüber sie am Kaffeetisch stritten, wie das ablief, wenn sie im Streit auseinandergingen. Ich weiß nicht, für welche Handlungen Elke als Kind bestraft wurde, wie die Schläge ausgeführt wurden, was sich der Strafe anschloss.
Ich weiß, dass Elke eine Bluna spendiert bekam, als die Deutschen 1954 im Fußball-Weltmeisterschaftsfinale standen. Von ihrem Vater Fritz. Dass dies eine krasse Ausnahme war. Ich weiß, dass ihr Opa ihr ein Fahrrad versprochen hatte, doch dann starb er vorher und Elke empfand das als typische Gemeinheit gegen sie, wie sie sie so oft erlebte. Ich weiß, dass sie viele Wochen bei ihren Großeltern Schneider in Wernigerode verbrachte. Dass ihr Opa Lukas Hübsch als Handlanger arbeitete, nachdem sie aus Schroff vertrieben worden waren und ihren Aussiedlerhof hatten zurücklassen müssen. Dass er einmal blutüberströmt heimkam, weil er sich mit einem Beil in die Hand gehakt hatte. Ich weiß, dass ihre Oma Maria Schneider schweigsam war. Ich weiß, dass ihr Vater Fritz ein uneheliches Kind war. Ich gehe davon aus, dass er von seinem Stiefvater hin und wieder »Bastard« genannt wurde. Aber ich weiß es nicht. Das ist die Wahrheit.
Die Wahrheit ist auch: Elke ist nicht tot. Sie ist nicht gestorben. Sie ist kerngesund und gepanzert wie eh und je. Nie habe ich sie konfrontiert. Nie habe ich sie in den Tod begleitet. Ich habe es mir bloß ausgedacht, um mich an ihr zu rächen. Um ihr den Kontaktabbruch heimzuzahlen. Muttermord als finaler, als mächtigster Kontaktabbruch. Jeden einzelnen Kontaktabbruch in all unseren Begegnungen wollte ich ihr damit heimzahlen. (Natürlich ist die fantastische Fantasie eine Lüge. Elke wird mich um Hunderte Jahre überleben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie wirklich unsterblich ist.)
Und wenn sie das hier liest, wird sich mich enterben.