Kapitel 5

Lynn fühlte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen schoß, als Adam sich über sie beugte. Die eine Hand hatte er auf die Rücklehne ihres Stuhls gestützt, mit der anderen griff er nach der Maus. Er roch dezent nach Rasierwasser. Lynn tippte auf Versace. Sehr schick. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, unfähig, sich auf seine Anweisungen zu konzentrieren. Sie fühlte, wie ihre Haare sein Hemd berührten. Ihr Blick wanderte vom Monitor zu seinem Profil. Ein markanter Anblick. Sein dunkles Haar, frisch gewaschen und leicht zerzaust, reichte in Wellen bis knapp über den Hemdkragen. Die anderen Mädchen hatten recht … an Kate Pearson war dieser Mann verschwendet.

»Wie bitte?«

»Tu’s einfach«, wiederholte Adam. »Versuch’s.«

»Ich bin so dämlich.« Sie kicherte. »Könntest du’s mir noch einmal erklären?«

»Wenn du bei Lynn fertig bist, kannst du dann zu mir kommen? Ich krieg das Layout nicht hin.« Moiras Stimme war heiser vor Ärger. Sie hatte das erotische Spielchen schon seit einigen Minuten beobachtet, und es machte sie krank.

»RTFM, Moira«, erwiderte Adam fröhlich.

»Was soll das denn heißen?«

Adam grinste. Moira ging einem immer auf den Leim. »Read The Flaming Manual! Lies das verdammte Handbuch.«

Moira zog eine Augenbraue hoch und ignorierte das Gekicher um sich herum. »Warum hast du das unserem Häschen da nicht längst gesagt?« konterte sie mit einem bedeutungsvollen Blick auf Lynn.

»Sie genießt noch den Schutz aller Neuen, liebe Moira. In ein oder zwei Wochen ist das was anderes.«

Moira schnaubte verächtlich. Adam kehrte kurz darauf an seinen Schreibtisch zurück. Er saß im hinteren Teil des Großraumbüros an der Wand. Dort konnte ihm niemand über die Schulter sehen, und er hatte eine lange Vorwarnzeit, sobald Owen auf dem Kriegspfad war. Owen konnte Adams Umzug an diesen Platz zwar nicht verhindern, hatte sich jedoch mit einer deutlichen Geste gerächt. An der Wand hinter Adam hing ein Plakat mit der Aufschrift:

Ein klarer Geist
am
ordentlichen Schreibtisch!

Adam schob das kreative Durcheinander aus Notizen und Computerausdrucken an die Seite seines Schreibtischs. An seinem Monitor klebte ein sorgfältig umrandetes Stück Papier, auf dem die sauber gedruckte Maxime stand:

Ein kleiner Geist
am
ordentlichen Schreibtisch!

»Owen kriegt einen Anfall, wenn er das sieht.«

Adam hob nicht einmal den Kopf. »Was kann ich für dich tun, John?«

»Ich wollte mich nur bedanken. Die Neuprogrammierung, die du vorgeschlagen hast, hat den Fehler ausgebügelt. Der Dateimanager arbeitet wieder wie geschmiert.«

»Nur solange er nicht meine Dateien frißt.«

John kicherte und wandte sich zum Gehen.

»Du hättest mir doch eine Notiz per E-mail schicken können.«

»Ich dachte, du ziehst das Persönliche vor.«

»Ich bin tief beeindruckt.«

»Falls ich mich irgendwie revanchieren kann …«

»Du könntest bei Owen ein gutes Wort für mich einlegen.« Adam tippte auf das Papier. »Er hat’s schon gesehen. Und du hattest recht. Er hat einen Anfall gekriegt.«

John lachte. »Überlaß das nur mir.«

Adam beobachtete, wie der Systembetreuer im Zickzack zwischen den Schreibtischen hindurch auf Owens Allerheiligstes zusteuerte. Bei Kate blieb er kurz stehen und gab ihr etwas. Kaum war John in sicherer Entfernung, drückte Adam eine Funktionstaste und ersetzte so das Buchhaltungsformular, das er aufgerufen hatte, um zu vertuschen, woran er tatsächlich arbeitete. Zahlen und Symbole bedeckten den Schirm. Er tippte weiter, während sein Blick unablässig durch den Büroraum schweifte. Owen starrte hinter seiner Glasscheibe düster zu ihm herüber, während John vermutlich seine Vorzüge in höchsten Tönen pries. Owen wirkte ziemlich sauer, was Adam mehr als zufrieden machte.

Eine Stunde später schlenderte er zu Kate hinüber, die Hände lässig in den Hosentaschen.

»Alles in Ordnung?« fragte er in unverbindlichem Ton.

Kate ließ sich mit der Antwort Zeit. John hatte jede Datei innerhalb des Betriebssystems überprüft und keine Spur der E-mail entdeckt, die sie erhalten hatte. Sie hätte eigentlich enttäuscht sein müssen, denn so gab es noch immer keine Spur von dem anonymen Briefeschreiber. Andererseits bedeutete es aber auch, daß sie nicht seit fünf Monaten arglos mit Melanies Mörder in einem Büro saß. Es bedeutete weiter, daß Adam sauber war, und das war wichtig. Sie brauchte jemanden, dem sie vertrauen konnte.

Kate verblüffte Adam mit einem Lächeln. »Habe mich nie besser gefühlt.«

»Oh …« Es schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. Er fuhr sich mit dem Finger an die Schläfe.

Kate fühlte sich ihm plötzlich sehr zugetan. Sie lächelte erneut.

»Hör mal, hast du Lust, mit mir essen zu gehen?«

»Mir läuft jetzt schon das Wasser im Mund zusammen.«

Er grinste. »Du bist heute aber gut drauf.«

»Wie ich schon sagte …«

»Niemals besser. Ich weiß. Ich dachte an Pasta bei unserem Italiener. Ich lade dich ein«, erklärte er.

»Nein, jeder zahlt für sich«, entgegnete Kate streng. Ich kann’s mir jetzt leisten, mir was zu gönnen, dachte sie, aber die Erkenntnis verschaffte ihr keinerlei Befriedigung.

Adam registrierte besorgt, daß sich ihre Miene verdüstert hatte.

»Bist du …«

»Fertig?« ergänzte sie. Diesmal wirkte das Lächeln verkrampft. »Ja. Gehen wir.«

Während Kate Adam über den Tisch hinweg ansah, seine Bemühungen registrierte, sie zum Lachen zu bringen, bemerkte, wie er sich gelegentlich nervös an die Schläfe tippte, dachte sie: Adam ist das, was wir früher einen ›tollen Typ‹ genannt haben. Mit ›wir‹ meinte sie ihre ehemaligen Klassenkameradinnen der Oberstufe an der Manchester High School für Mädchen. Miß Mottersham hätte den Ausdruck mehr als mißbilligt, aber irgendwie sagte er so viel mehr aus als die Beschreibungen, die die Klassenlehrerin der Oberstufe als passend bezeichnet hätte. Der Ausdruck ›echter Gentleman‹ sagte nichts, die Bezeichnung ›toller Typ‹ sagte alles.

Warum, überlegte sie, habe ausgerechnet ich, die durchaus zwischen einem ›tollen Typ‹ und einem ›gemeinen Kerl‹ unterscheiden kann, letztere Kategorie heiraten müssen?

Ihre Mutter hatte mit diesem einzigartigen Rätsel eine Menge zu tun. Kate war für sie nie gut genug, klug genug, fleißig genug gewesen. Sie hatte so oft behauptet, mit Kate werde es ein böses Ende nehmen, daß Kate es schließlich selbst geglaubt hatte. Während des fünf Jahre dauernden Ehealptraums hatte sie sich damit abgefunden, daß sie nichts Besseres verdient hatte, daß sie selbst an der ganzen Misere schuld sei, weil sie nie seine Stimmung richtig einschätzte, nie das Richtige sagte, immer alles verdarb.

Selbst noch nachdem sie ihn verlassen hatte, hatte sie sich vorgeworfen, als Ehefrau versagt zu haben. Aber sie hatte ihn um Melanies willen verlassen, denn sie fürchtete um ihr kleines Mädchen. Und diese Trotzhandlung hatte ihr die Möglichkeit eröffnet, doch noch eine gute, oder zumindest eine treusorgende Mutter zu werden, obwohl sie alles andere so verkehrt machte. Kate wußte nicht, daß ihr Glaube an ihre eigene Durchschnittlichkeit sie auf den Weg der Besserung geführt hatte. Erst später – Jahre später – war sie auf die Idee gekommen, daß vielleicht David einen Teil der Schuld trug. Sie lächelte flüchtig. Mach dir doch nichts vor, dachte sie. Einen Teil der Schuld? Ich hasse ihn von ganzem Herzen. Das einzige, was ich falsch gemacht habe, war, es so lange bei ihm auszuhalten.

»Du bist so still«, bemerkte Adam und drehte den Stiel seines Weinglases zwischen den Fingern. Kate zuckte lächelnd mit den Schultern. Das Restaurant war mittlerweile voll besetzt. Weihnachten belebte das Geschäft.

»Hast du wieder eine Nachricht bekommen?«

»Seit der letzten nicht mehr.« Kate sah in sein ernstes, offenes Gesicht und bereute zum hundertsten Mal, ihre spitze Zunge nicht in Zaum halten zu können. Adam kannte ihre Gefühle so gut, reagierte so sensibel auf ihre Bedürfnisse, daß er die eigenen unterdrückte. Er verriet sie nur durch kleine Signale, durch nervöse Gesten, das Trommeln der Finger auf dem Tischtuch. Bei den anderen Frauen im Büro legte er eine lässige Unbekümmertheit an den Tag, die diese sehr anziehend fanden. Alle, bis auf Moira, natürlich – aber selbst ihre verächtlichen Bemerkungen schienen ihn kaum zu berühren. Es sah so aus, als sei sie, Kate, die einzige, die ihn nervös machen konnte. Und vielleicht Mr. Harmon. Seine Freundschaft mit Sims hatte damit etwas zu tun, vermutete sie. Aber was Sims betraf war Adam ungewöhnlich verschlossen.

Adam war hundertprozentig ein ›toller Typ‹, und er hatte es nicht verdient, bestraft zu werden, nur weil ihr Ex-Mann ein gemeiner Kerl gewesen war. Er versuchte, freundlich zu sein. Aber sie schmetterte ihn wieder einmal ab.

»Entschuldige«, murmelte sie.

»Wofür?« Er schien aufrichtig erstaunt.

Sie lächelte wieder. Er erinnerte sie an sich selbst mit fünfundzwanzig. Damals waren ihr ständig Beleidigungen herausgerutscht, da kaum jemand Davids Geschick besessen hatte, sie gnadenlos zurechtzustutzen. Sie war sehr von sich überzeugt gewesen. Müßte sie die Kate von damals beschreiben, fiele ihr nur ein Wort ein: hoffnungslos.

»Zumindest lächelst du«, sagte er.

»Ich habe auch guten Grund dazu.«

Er runzelte die Stirn. »Machst du dir keine Sorgen?«

Jetzt war sie verwundert. »Nein. Komisch, was? Ich bin wütend, aufgebracht … aber nicht besorgt. Nur irgendwie erleichtert.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Das kapier ich nicht ganz, Kate. Du weißt doch gar nicht, wer der Kerl ist! Wozu er noch fähig ist!«

Ich weiß, wer er nicht ist, dachte Kate. Aber natürlich konnte sie Adam das nicht sagen. Nicht nur, um John James’ Vertrauen nicht zu enttäuschen. Wie hätte sie Adam klarmachen sollen, weshalb sie erleichtert war? Nämlich weil sie jetzt wußte, daß sie von dem Kerl nichts mehr zu befürchten hatte? Und was Adams Bemerkung betraf, daß sie den Absender der E-mail nicht kenne …

»Ich glaube, ich weiß, wer er ist«, sagte sie beiläufig.

Adams nervöses Fingertrommeln hörte abrupt auf. Er umfaßte die Tischkante. Seine Knöchel wurden weiß. Kate sah es und musterte ihn neugierig. Die Farbintensität seiner Augen überraschte sie. Sie schimmerten in einem tiefgründigen Blau, das sie an die Farbe des Meeres erinnerte.

»Ach so!« entfuhr es ihr. Sie hatte plötzlich begriffen, welchen Schluß er aus ihren Worten gezogen hatte. »Nein, nein. Ich kenne nicht seinen Namen. Noch nicht. Aber ich weiß, wer er ist – was er ist«, verbesserte sie sich mit scharfer Stimme. »Und ich weiß, wozu er fähig ist.«

Adam lehnte sich entspannt zurück. Er sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck an. Fast so, als hätte er Angst vor ihr.

»In diesem Fall«, begann er gedehnt, »mußt du zur Polizei gehen.«

»Ich bin im Juli zur Polizei gegangen. Es hat damals nichts genützt und würde auch heute nichts nützen.«

»Kate, glaub mir! Ich verstehe deine Gefühle, was die Polizei betrifft. Aber …«

Kate zog geringschätzig die Mundwinkel herab. »Wirklich, Adam?« fragte sie in arrogantem Ton. »Du kennst meine Gefühle?«

Adam zeigte keine Spur von Verlegenheit. Das verblüffte sie noch mehr. Er hielt ihrem wütenden Blick stand, ließ sich von ihr nicht einschüchtern.

»Du wärst überrascht, wie gut«, sagte er.

Kate lachte. »Ganz recht. Würde mich verdammt überraschen, wenn du auch nur einen Schimmer davon hättest, was ich fühle. In bezug auf die Polizei und auf alles andere.«

Jetzt wurde Adam wütend, es war nicht zu übersehen.

»Sag mal, wofür hältst du mich eigentlich? Für einen dummen Jungen, der noch nicht ganz trocken hinter den Ohren ist?«

»Das habe ich nicht gesagt. Trotzdem wirst du niemals verstehen, was ich durchgemacht habe, Adam.«

»Kann mich nicht erinnern, das je behauptet zu haben. So dämlich bin ich nicht. Zumindest versuche ich aber, zu verstehen, oder? Zumindest gebe ich mir Mühe. Was soll dieses verächtliche Getue? Ich jedenfalls lache dich nicht aus, wenn du aufrichtig zu sein und zu helfen versuchst.«

»Adam …«

»Du hast bisher nicht das geringste Interesse an meiner Gesellschaft gezeigt. Du hast mich während des Essens reden lassen, ohne mir zuzuhören. An dir ist wieder einmal alles vorbeigerauscht. Du hast Schweres durchgemacht, Kate. Das bestreitet niemand. Aber wir schleppen alle irgend etwas mit uns rum.«

Kate senkte schuldbewußt den Blick. Sie hatte nie etwas über Sims gesagt. Nicht seit jenem Tag. Sie griff über den Tisch, doch Adam zog seine Hand zurück.

»Ich dachte, wir würden uns verstehen. Aber du bist nur mit dir beschäftigt. Da bleibt für andere keine Zeit.«

Kates grüne Augen sprühten Feuer. »Ja, ich nehme wohl an, ich bin ziemlich beschäftigt gewesen. Wie langweilig von mir! Ich hätte wirklich mehr Rücksicht auf deine Gefühle nehmen sollen, auf deinen empfindlichen männlichen Stolz. Große Güte! Ihr Männer macht mich krank! Ihr zeigt ein bißchen Mitgefühl, und schon erwartet ihr, daß wir euch dankbar die Füße küssen. Meine Tochter ist ermordet worden, Adam. Das läßt eine Mutter zwangsläufig etwas introvertiert werden, vielleicht sogar egozentrisch. Wenn du damit nicht klarkommst, verpiß dich!«

Adam sprang auf und hätte beinahe den Tisch umgestoßen. Kate hielt ihn mit beiden Händen fest.

»Adam, es tut mir leid.«

»Vergiß es. Laß dich in deiner ganz privaten Trauer nicht stören.« Er warf ein paar Geldscheine auf den Tisch und ging. Nach dem Krach mit Adam beim Italiener hatten sich bei Kate schlagartig Kopfschmerzen eingestellt. Jene Sorte Kopfschmerzen, die mit einem dumpfen, pulsierenden Schmerz in der rechten Schläfe anfangen, sich zu einem alles lähmenden häßlichen Dröhnen auswachsen und Anfälle von Übelkeit hervorrufen. Sie hatte es gerade noch nach Hause geschafft – mit einem Taxi, was eine schreckliche Geldverschwendung war – und war, ohne sich auszuziehen, ins Bett gekrochen. Sie hatte erwartet, schlecht zu schlafen, hatte erwartet, heftig zu träumen. Und sie hatte geträumt. Von dem Tag, als Melanie zum ersten Mal mit ihren Rollschuhen gefahren war. Es war ihr zehnter Geburtstag gewesen, ein heißer Julitag, und Melanie hatte sich gewünscht, daß Kate mit ihr im Park üben solle.

»Tante Mary fährt mit uns nach Jennys Geburtstag auf die Rollschuhbahn. Bis dahin will ich es können.«

Sie hatten also noch exakt zwei Wochen Zeit. Kate zweifelte nicht daran, daß Melanie schaffte, was sie sich vorgenommen hatte. Melanie war mit zehn so furchtlos, selbstsicher und entschlossen, wie Kate ängstlich, schüchtern und zögerlich gewesen war.

»Findest du es schlimm, daß wir kein Fest machen, Mel?«

Melanie hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und eine Hand in die Hüfte gestemmt. Kate hatte in dieser Haltung sich selbst erkannt. »Mami, könnten wir’s uns leisten?«

»Also, dieses Jahr nicht, aber …«

»Dann brauchen wir doch gar nicht darüber zu reden.«

»Das müßte ich doch eigentlich sagen, oder?«

Melanie lachte. »Können wir, Mami«

»Können wir was?«

»Zum Longford Park gehen?«

»Warum nicht zum Victoria Park? Ist ein ganzes Stück näher.«

»Aber da gibt’s keine asphaltierten Wege.«

»Es ist sieben Uhr morgens, Mel!«

»Dann ist es im Longford Park schön leer.«

»Bis auf ein paar alte Penner und die übliche Garnitur Betrunkene.« Kate lachte, ging in den Flur und drehte sich nach Melanie um. »Was ist, kommst du nicht?«

»Soll das heißen, wir gehen wirklich?«

»Eigentlich muß ich nur den Großeinkauf machen, die Wohnung putzen, die Schuluniform bügeln, die Betten beziehen … aber ich pfeif drauf!« Sie grinste und sah wie ein Teenager aus. »Es ist Samstag, und du wirst nur einmal zehn.«

Die Busfahrt verlief ruhig. Trotz des frühen Morgens war es bereits heiß. Das Schaukeln des Busses und der leichte Dieselgestank verursachte ihnen beiden Übelkeit.

Der Park war leer, wie Melanie es vorhergesagt hatte. Kurz nach ihnen tauchte ein heruntergekommen aussehender alter Mann auf, der sich auf der erstbesten Bank in der Sonne niederließ. Dann begann er, den Biervorrat abzuarbeiten, den er in einer Plastiktüte mitgebracht hatte.

Kate begriff sofort, weshalb Melanie so scharf auf den Park gewesen war. Die Blumenrabatten und Beete säumten ein Labyrinth aus schmalen, glatten Teerwegen, die den ganzen Park durchzogen. »Wir bleiben auf dem Hauptweg«, entschied Kate. »Sonst fahren wir dort, wo’s schmaler wird, noch jemanden um.«

Auf der Busfahrt nach Hause klagte Melanie darüber, daß ihre Beine wie Gummi seien. Kate schlug vor, sie solle ihre ›Reservebeine‹ rausholen, was bei Melanie schallendes Gelächter auslöste. Nach einigen Minuten bekam sie Schluckauf und saß schweigend neben Kate.

»Was bringt dich immer wieder zurück?« stellte Melanie plötzlich eine Rätselfrage.

»Keine Ahnung«, sagte Kate.

»Eine Rückfahrkarte.«

Kate schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Reingefallen!« kreischte Melanie.

»Mit Pauken und Trompeten«, gestand Kate.

Kate hatte ein Lächeln auf den Lippen, als sie im Dunkeln aufwachte. Die Kopfschmerzen waren verflogen, aber sie fühlte sich noch wackelig auf den Beinen. Trotz leichter Übelkeit war sie hungrig. Sie hatte seit der Mittagspause nichts mehr gegessen. Jetzt war es halb zehn. Sie suchte in der Küche herum und förderte Nudeln und ein Glas Pesto aus dem Kühlschrank zutage. Sie kochte die Nudeln und glaubte, nie bessere Pasta gegessen zu haben.

Sie war am Morgen in der Erwartung zur Arbeit gegangen, weitere anonyme Nachrichten in ihrer Mailbox vorzufinden. Als sie jedoch ihre Mailbox aufgerufen hatte, herrschte dort gähnende Leere. Sämtliche Post war wie durch Zauberhand verschwunden. Das Betriebssystem von Technicom sah vor, daß wichtige Post ausgedruckt oder auf Festplatte gespeichert wurde. Mail blieb dreißig Tage in nicht aktivierten Dateien erhalten. Wurde eine Mail-Datei jedoch aktiviert, so wurde die Post nach vierzehn Tagen automatisch gelöscht. Die anonymen Nachrichten hätten also noch in ihrer Mailbox sein müssen. Kate versuchte erneut, die Datei wiederherzustellen, doch sie blieb verschwunden. Es gab keinen Beweis mehr dafür, daß sie je existiert hatte … mit Ausnahme des Ausdrucks, den John ihr am Vortag zurückgegeben hatte. Er steckte in ihrer Handtasche. Er war der einzige Beweis, daß es den ganzen Spuk überhaupt gegeben hatte.

Kate fühlte sich merkwürdigerweise erleichtert. Sie war sogar versucht, auch den Ausdruck zu vernichten. Vielleicht war alles nur ein Spaß im Internet gewesen, den sich irgendein jugendlicher Computerfreak ausgedacht hatte. Kate spürte plötzlich, daß Adam sie von seinem Terminal aus beobachtete.

Als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, griff sie unbefangen zum Hörer.

»Was gibt’s, John?« fragte sie. Am anderen Ende blieb es zunächst merkwürdig still.

»Hast du deine E-mail gelesen?« erkundigte sich John schließlich.

Kates Herz setzte einen Schlag lang aus, dann erinnerte sie sich. »Um neun heute morgen.«

»Seitdem nicht mehr?«

»Ist was reingekommen?« Kate griff nach ihrer Maus.

»Laß es!« warnte John hastig. Kate ließ die Maus verblüfft los. »Komm runter zu mir. Wir sehen sie uns gemeinsam an. Ich warte.« Am anderen Ende wurde aufgelegt.

Diesmal herrschte im Raum der Server-Anlage Hochbetrieb. Drei Techniker saßen an der Werkbank, über die Eingeweide von PCs und Modems gebeugt. Zwei Programmierer arbeiteten an ihren Terminals. Andere Angestellte überprüften Bänder, Ausdrucke, Dateien, Faxe.

Kates Kommen blieb unbemerkt. Sie fühlte sich in dieser grotesken, in sich geschlossenen Welt beinahe wie ein Eindringling.

»Kate?« John hatte sie neugierig beobachtet und wußte nicht recht, wie er ihre Miene deuten sollte.

Kate erschauderte plötzlich und ging dann zielstrebig auf den Mann im blütenweißen Laborkittel zu. John führte Kate zu seinem PC in einer hinteren Ecke des Raumes. Owen hatte angeboten, ihm ein Büro mit Glasfront, ähnlich seinem eigenen im ersten Stock, einzubauen, doch John hatte das abgelehnt. »Eine Schachtel? In einer Schachtel?« hatte er mit schiefem Grinsen gesagt. »Wie ein Terrarium? … Ich bin keine Gewächshauspflanze, die ihr eigenes Mikroklima braucht … trotzdem vielen Dank.« Owen wußte natürlich, daß das ein Seitenhieb gegen ihn gewesen war, doch aus Johns stets jovialer Miene ließ sich nur selten eine Rechtfertigung für einen ärgerlichen Konter ableiten.

John zog einen Stuhl für Kate heran. Dann glitten seine Finger eilig über die Tastatur. Er rief Kates Dateien auf.

»Hast du von allen hier das Paßwort?« Kate hatte die schnellen, sicheren Bewegungen seiner Finger kaum verfolgen können.

»Wir haben ein Verzeichnis«, antwortete er. »Aber ich brauche dein Paßwort nicht. Ich habe den Supervisor-Status und damit automatisch Zugang zu allen Dateien, die ich aufrufen will. Hier …« Auf dem Monitor erschien ihre Mailbox. Kates Blick glitt über die Einträge. Es war ein halbes Dutzend neuer Sendungen eingetroffen. Sie runzelte die Stirn und beugte sich näher zum Bildschirm.

»Moira?« Sie sah John an. »Weshalb sollte Moira mir Emails schicken?«

»Oder Adam. Ist dasselbe«, bemerkte John.

Kate lächelte flüchtig. In der Vergangenheit hatte Adam ihr gelegentlich witzige Nachrichten geschickt. Einmal sogar während eines Telefonats mit Owen. Mit einem lauten Piepton ihres Computers war die Nachricht unvermittelt auf dem Bildschirm erschienen: »Sag dem alten Bock, er kann dich mal … Es ist nach fünf, und der König der Löwen wartet nicht.«

Adam hatte Karten reservieren lassen, um mit ihr und Melanie in die Sechs-Uhr-Vorstellung des jüngsten Disneyfilms zu gehen.

John redete immer noch. Kate riß sich mühsam aus ihren Gedanken. »Wie du siehst, ist da auch eine Nachricht von mir und eine von Owen.« Er musterte sie prüfend und fügte dann hinzu: »Und alle lauten gleich.« Er rutschte unruhig hin und her. »Ich bin nicht sicher, ob du sie lesen solltest.«

Kate horchte auf das leise Summen der Computer und das Stimmengemurmel. John wollte nicht, daß sie ihre E-mails las. Warum? Vielleicht war es falsch gewesen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Hatte sie eine Antwort provoziert, mit der sie allein nicht fertig werden konnte? Vielleicht hatte Adam recht gehabt. Sie hätte die ganze Sache der Polizei übergeben sollen.

»Sag mir, was sie bedeutet. Dann lese ich sie.«

John zögerte. Kate warf ihm einen gequälten Blick zu. Er seufzte. »Sie lautet: ›Leichen sind ein guter Schutz‹.« Er drückte Kates Hand.

Kate schwenkte mit ihrem Drehstuhl herum und betrachtete die Männer, die alle ruhig und bedächtig vor sich hin arbeiteten. Sie hatte den Mörder mit einer einfachen Frage an eine anonyme Adresse provoziert. ›Warum verstecken Sie sich hinter einem toten Kind?‹ Und sie hatte eine offene Antwort erhalten, eine Antwort ohne Ausflüchte, voller Haß und Menschenverachtung. ›Leichen sind ein guter Schutz.‹ Was sollte das bedeuten? Wenn ich dich dazu verleite zu glauben, daß die Botschaften von Melanie stammen, vergißt du, nach der wahren Identität des Absenders zu forschen. Steckte diese Überlegung dahinter? Wenn ja, mußte ihr der echte Absender bekannt sein. Es mußte jemand sein, den sie identifizieren konnte. Diese Mitteilung des Mörders sagte sehr viel aus. Kate wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

»Er hat sich in vier Dateien gehackt«, erklärte John. »In meine, Moiras, Adams und Owens. Und von dort aus hat er die E-mail an dich geschickt. Der Inhalt ist immer derselbe. Was bedeutet das, Kate? Die Botschaft ist anders als die anderen. Klingt eher nach der Antwort auf eine Frage.«

Kate runzelte die Stirn. »Wie sollte das funktionieren? Bei einem anonymen E-mail-Absender?«

Johns Maske unerschütterlicher Jovialität bekam zum zweitenmal innerhalb weniger Tage Risse. Sie hatte ihn beleidigt, das war in seinen Augen eindeutig zu lesen. »Schon gut, geht mich ja nichts an«, sagte er. »Ich gebe dir jedoch einen guten Rat: Mit kranken Gehirnen ist nicht zu spaßen. Überleg dir gut, worauf du dich da einläßt.«

Kate schlug die Augen nieder. Sie schämte sich wegen ihrer Unaufrichtigkeit.

»Dieser Hacker ist wie eine bösartige Krankheit, die außer Kontrolle geraten ist, die alles durchdringt und alles zerstört. Und sobald man ihm das Gefühl gibt, daß sein Tun Wirkung zeigt, macht er immer weiter. Das verleiht ihm Macht, verstehst du?«

Kate hob den Kopf. »Ja«, murmelte sie. »Das heißt also, er darf mir ungestraft all diese Gemeinheiten schicken und sogar meine Freunde und Kollegen für seine Zwecke mißbrauchen, während ich tatenlos zusehe? Trotzdem hast du vielleicht recht, John. Je mehr ich auf ihn eingehe, desto größer ist vermutlich sein Lustgewinn. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit.« Sie dachte an David, als sie fortfuhr: »Wenn ich nichts unternehme, treibt er es weiter und weiter voran … so lange, bis er die Reaktion provoziert, die er will.«