Kapitel 6

»Ich weiß nicht, warum du mich fragst.« Angie Harmon schnürte den Schuh ihres Sohnes. »Siehst du«, demonstrierte sie. »Man muß die Schnürsenkel über Kreuz nehmen.«

»Weil du in diesen Dingen einen sechsten Sinn hast.«

Angie sah auf. In ihren Augen blitzte es amüsiert. »Dein Glück, daß du nicht ›weibliche Intuition‹ gesagt hast. Anderenfalls hätte ich kein Wort mehr mit dir gesprochen.«

»Laß mich mal, Mami.« Angie gab ihrem Sohn den Schuh und beobachtete, wie er den Schnürsenkel durch die nächste Öse führte. Er hatte die Zunge zwischen die Zähne gesteckt und wirkte hochkonzentriert.

»Trevor, ich bin klinische Psychologin, keine Psychiaterin. Ich habe hauptsächlich mit Menschen zu tun, die Kopfverletzungen oder Infarkte erlitten haben. Und ich bin keine Feld-Wald-und-Wiesen-Analytikerin, die Schizophrenie nach der Art und Weise diagnostiziert, wie jemand eine Zigarette hält. Und überhaupt … wie soll ich ein Urteil fällen, ohne der Frau je begegnet zu sein?«

»Komm schon, Angie. Ich verlange ja kein offizielles Gutachten von dir. Aber du weißt mehr über diese Dinge als ich.«

»Weil ich eine Frau bin?« neckte sie.

»Weil du eine verdamm …« Er hielt unter dem mißbilligenden Blick seiner Frau inne. »Du bist eine sehr gute Psychologin«, verbesserte er sich. »Und ich bitte dich um deine Meinung.«

»Was sagst du jetzt, Mami?« Michael hielt Angie seinen Schuh unter die Nase.

»Also, darüber kann ich meine Meinung ohne Probleme abgeben«, antwortete Angie lächelnd. »Einfach perfekt, Michael.«

Michael grinste glücklich, zog den Schuh an und band eine schiefe Schleife.

»Spiel noch fünf Minuten draußen. Aber sag Joseph, das Frühstück wartet nicht ewig auf ihn. Und raus aus meinen Blumenbeeten, klar?«

»Wie Kloßbrühe«, erwiderte Michael, sprang vom Küchenstuhl und stürmte schreiend nach draußen.

Angie sah ihm nach. Dann fing sie den Blick ihres Mannes auf und spitzte die Lippen. »Meinst du es ernst?«

»Todernst.«

»Du willst wirklich meine Meinung hören?«

Sein Blick war Antwort genug.

Sie schnitt nachdenklich das Brot, während Harmon den Tisch deckte.

»Viele Eltern, die ein Kind verloren haben, machen eine Phase durch, in der sie die Realität erfolgreich verdrängen. Ihr Kind ist nicht tot. Dem Krankenhaus ist ein Irrtum unterlaufen. Sie haben die falsche Person erwischt. Und so weiter. Meistens passiert das in der allerersten Zeit nach dem Schicksalsschlag. Durch Schock oder Medikamenteneinnahme hat sich dieser Prozeß bei Kate Pearson vielleicht verzögert.« Sie schwieg. »Ich versuche mir vorzustellen, wie ich damit umgehen würde, wenn einem der Jungs … Gütiger Himmel! Ich mag gar nicht daran denken!« Diesmal sagte sie lange nichts. Harmon wartete geduldig.

»Vielleicht hat Kate für sich beschlossen, die Tochter wieder zum Leben zu erwecken. Sie will nicht, daß Melanie tot ist, also bildet sie sich ein, daß sie lebt. Sie gibt sich die Schuld an Melanies Tod. Folglich beschuldigt Melanie in ihren Mitteilungen die Mutter.«

»Wäre möglich.«

»Aber du hältst es nicht für wahrscheinlich? Du kennst sie, Trevor, ich nicht. Wie denkst du darüber?«

»Ich tappe genauso im dunkeln. Kate Pearson läßt nichts raus. Der junge Mann, der bei mir war, weiß noch am meisten von ihr.«

»Ihr Freund?«

Harmon überlegte. »Da bin ich nicht sicher. Scheint eher eine platonische Beziehung zu sein. Aber bevor das alles passiert ist … Ich weiß es nicht.«

»Wenn eine Frau ein Kind verloren hat, neigt sie dazu, sich die Männer für eine Weile vom Leib zu halten«, bemerkte Angie mit einem flüchtigen Lächeln. »Wenn er sie unter Druck gesetzt hat, um die Beziehung wieder zu beleben …«

»Könnte diese E-mail … eine Reaktion darauf sein?«

»Wenn sie noch nicht soweit ist …« Sie zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?«

»Angenommen es ist umgekehrt? Wenn er das Interesse zu verlieren scheint? Könnte sie sich das alles ausgedacht haben, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken?«

»Ist eine Überlegung wert.« Sie beobachtete Michael, der den Fußball zu seinem älteren Bruder schob. Michael bewunderte Joseph. Die beiden waren vier Jahre auseinander, und Joseph verkörperte all das, was Michael werden wollte. Er war groß wie sein Vater und dunkelhäutiger als Michael, der ihre helle Hautfarbe geerbt hatte. Joseph war ein guter Fußballspieler und Kapitän der Kinder-Cricketmannschaft und so etwas wie ein Held unter seinen Kameraden an der Manchester Grammar School. Er behandelte Michael auf eine lässige, leicht herablassende Art, und Michael ließ sich das nur allzugern gefallen.

»Du sagst, dieser Freund war bei dir? Allein?«

Harmon nickte.

»Mrs. Pearson konnte sich also nicht zu einem Besuch bei der Polizei durchringen?«

»Sie weiß nicht einmal, daß er mich aufgesucht hat.«

»Aha …« Angie klopfte ans Fenster. Die Jungen trabten nur widerwillig auf das Haus zu.

»Wieso ›aha‹?«

Angie machte den Kindern ein Zeichen, sich zu beeilen.

»Sie will nicht, daß du von der E-mail-Geschichte erfährst. Die Frage ist allerdings, warum? Möchte sie durch dich nicht an das Schreckliche, das passiert ist, erinnert werden? Wäre sehr wahrscheinlich. Auf solche Erinnerungen könnte ich an ihrer Stelle auch verzichten.« Sie neigte den Kopf nachdenklich zur Seite.

»Oder?« drängte Harmon.

»Oder sie hat einfach Angst, daß du ihren Schwindel durchschaust.«

»Du meinst, sie lügt absichtlich?«

»Ich glaube, daß das Trauma, ein Kind auf solch grausame Weise zu verlieren, für jeden Menschen eine emotionale Katastrophe ist. Wann hat diese Sache mit den E-mails angefangen?«

»Ende November.«

»Also vor über drei Wochen. Und sie hat niemandem was gesagt?«

»Niemandem … mit Ausnahme von Shepherd.«

Michael und Joseph polterten in die Küche.

»Raus!«

Die Jungen zuckten zurück. Joseph starrte mit gespieltem Entsetzen auf seine Füße. Er hob übertrieben demonstrativ einen Fuß und setzte ihn einen Schritt zurück in den schmierigen Schuhabdruck, den er dort bereits hinterlassen hatte.

Michael kicherte unterdrückt und floh, gefolgt von dem prustenden und lachenden Joseph, durch den Küchenvorraum ins Freie.

Trevor Harmon seufzte. »Glaubst du wirklich, sie lügt?«

Angie kramte in einem Schrank. »Nicht bewußt. Oder zumindest nicht in böser Absicht. Vielleicht ist sie einfach so … verdammt!« Ein Küchengerät fiel klappernd vom Haken. Angie hängte es wieder an seinen Platz und fuhr fort: »… so verzweifelt und unglücklich, daß sie nicht mehr weiß, was sie tut.«

Kate las den Bankauszug mehrmals, ohne ihn zu verstehen.

Eintausendfünfhundertfünfundzwanzig Pfund – fünfundzwanzig Pfund über ihrem Kreditlimit. Aber sie hatte doch den Fehlbetrag auf ihrem Visakartenkonto im vergangenen Monat ausgeglichen. Sie hatte die Kreditkarte nur für den Kurzurlaub benutzt, den sie mit Melanie gemacht hatte … und natürlich um Mels Geburtstagsgeschenke zu kaufen.

Kate prüfte die Summe erneut. Die Zahl blieb unverändert. Sie ging die einzelnen Posten durch, und ihr Magen krampfte sich zusammen.

TOYS ’R’ Us. Spielzeugkiste. Pusteblume. Fahrradparadies. Disneyladen.

Geschenke! Geschenke für Melanie! Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie schüttelte benommen den Kopf.

»Nimm dich zusammen!« ermahnte sie sich laut, und ihre Stimme klang hohl durch den kalten, stillen Korridor. Das Ganze mußte ein Irrtum sein. Sie hatte seit Monaten nichts gekauft. Melanie war tot. Wozu also? Sie selbst brauchte nichts … Und was sie brauchte, konnte sie nicht haben. Wofür sollte sie ohne ihr kleines Mädchen Geld ausgeben?

Tief sog sie die kältefeuchte Luft ein.

Er hat doch gestern keine Nachricht in deiner Mailbox hinterlassen? Kates Atem kondensierte, aber ihr war heiß, so heiß, daß sie glaubte zu ersticken. Ihre Hand zuckte unkontrolliert, und der Kontoauszug flatterte wie ein verletzter Schmetterling auf die Fußmatte. Sie starrte auf ihre tauben Finger. Ein zweiter Umschlag. Hast du wirklich gedacht, er läßt dich in Ruhe?

Sie riß den Umschlag auf und starrte auf den Brief. Jetzt verschlug es ihr den Atem.

»… haben Ihr Konto über den vereinbarten Girokontokredit überzogen. Wir bitten Sie daher, sich so bald wie möglich mit uns in Verbindung zu setzen.« Sie starrte auf den Briefkopf. Ihre Bank.

Ich muß dort anrufen und alles erklären, schoß es ihr durch den Kopf. Sie griff nach dem Hörer – und zögerte. Ihre Hand begann zu zittern. Was, wenn er ihre Telefonleitung gekappt hatte? Sie riß den Hörer von der Gabel und hörte mit grenzenloser Erleichterung das Freizeichen. Sie legte wieder auf. Es war Viertel nach acht. Zu früh für die Bank.

Kate bückte sich, um den Kontoauszug aufzuheben. Laß dir Zeit, sagte sie sich. Finde das miese Schwein. Jeder Buchungsvorgang auf dem Kontoauszug war mit einer Ziffer gekennzeichnet. Die Buchungsdaten lauteten alle auf den 15. November. Die Zahlungen waren am Vortag erfolgt und die einzelnen Geschäfte mit Namen und Adresse hinter den Beträgen aufgelistet. Über die Läden konnte sie den Käufer ermitteln … und damit … ihn. Kate griff nach dem Telefonbuch. Ohnmächtige Wut hielt ihre Angst in Schach.

Der Bankauszug steckte in ihrer Umhängetasche. Sie hatte darauf in einer Zusatzspalte die entsprechenden Telefonnummern notiert. Kate ging geradewegs zu Adams Schreibtisch. Er sah von seiner Arbeit auf. Der verletzte Ausdruck in seinen Augen erschreckte sie, und ihr Blick irrte ab.

Sie legte einen Geldbetrag auf den Tisch. »Wir hatten ausgemacht, daß jeder für sich bezahlt.«

Er sah flüchtig auf die Scheine, dann musterte er sie.

Kate wich seinem Blick aus. Er sagte kein Wort. Als das Schweigen unerträglich wurde, begann sie: »Wenn’s dir hilft … Du hast recht gehabt.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt, ging steifbeinig zu ihrem Arbeitsplatz und konzentrierte sich mit aller Macht auf die Arbeit.

Gegen Viertel nach zehn verließ Kate unauffällig den Büroraum und ging zum öffentlichen Telefon. Sie hörte Schritte hinter sich und dann die Frage: »Womit hab ich recht gehabt?« Seine Stimme hallte durch das Treppenhaus.

Kate schloß die Augen. »Mit allem. Damit, daß er nicht aufhören wird. Damit, zur Polizei zu gehen. Damit, daß ich dir nicht zugehört habe. Damit, daß ich dich herablassend behandle. Mit der ganzen verdammten Schei …«

Sie verstummte, schwankte mit geschlossenen Augen, spürte seine Nähe, seine Wärme. Sie hielt ihm den Bankauszug hin. Er nahm ihn wortlos, überflog ihn und reichte ihr das Stück Papier dann kommentarlos zurück.

»Es geht mir nicht ums Geld. Aber er hat mir Melanie weggenommen. Und das war ihm nicht genug. Jetzt ist er wieder da. Terrorisiert mich. Und ich werde den Gedanken nicht los …«

Adam legte die Hand auf ihre Schulter. »Ist ja gut …«

»Ich denke andauernd daran, was er mit ihr gemacht hat. Mit meiner Mel. Mit einem elf Jahre alten Mädchen. Wenn er mir das jetzt antun kann … was hat er dann wohl einem Kind angetan? Hat er …« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Hat er ihr versprochen, daß sie nach Hause darf?«

»Kate«, sagte Adam sanft, massierte ihre Schulter und berührte leicht ihr Haar. »Laß es sein. Du darfst nicht …«

»Die Obduktion hat ergeben, daß Melanie noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden tot war, als man sie fand«, fuhr sie wie unter Zwang fort. »Sie ist eine ganze Woche bei ihm gewesen. Und wenn ich daran denke, was er … Ich werde noch verrückt!« Sie hielt inne und rang nach Luft. Adam versuchte, sie zu sich umzudrehen, doch sie riß sich los.

»Nein … Ich kann nicht. Ich muß an die frische Luft.«

»Gut. Gut. Aber geh langsam.« Er folgte ihr die Treppe hinunter und durch die Eingangshalle hinaus ins Freie.

Draußen auf der Straße herrschte dichter Vormittagsverkehr. Die Auspuffgase setzten sich als schmutzig-gelber Schleier vor dem klaren Winterhimmel ab. Kate rannte über die Straße auf den Albert Square. Eine Autohupe ertönte. Adam schrie warnend nach ihr. Er wartete auf eine Lücke in der Autoschlange und folgte ihr. Sie saß auf einer Bank und betrachtete die Tauben unter dem Glockenturm des Rathauses.

»Willst du dich umbringen?« keuchte er atemlos vor Entsetzen. Sie antwortete ihm mit einem so erschreckend leeren Blick, daß es ihm im ersten Moment die Sprache verschlug.

»Ich bring ihn um!«

Zuerst glaubte er, sich verhört zu haben. Doch ein Blick in ihr Gesicht überzeugte ihn vom Gegenteil.

»Kate, du kannst nicht …«

»Ich kann. Ich meine es ernst.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Du brauchst gar nichts zu sagen. Es ist eine Tatsache.«

»Kate, das ist Unsinn. Ein gefährlicher Unsinn.«

Kate sah ihn mit eiskalten Augen an. »Erledigen wir die Anrufe«, sagte sie.

Moira war auf dem Posten, als die beiden zurückkamen. Ihr Blick schweifte zur großen Wanduhr. Jetzt werden also schon halbstündige Pausen eingelegt, dachte sie. Kate Pearson scheint sich für das Maß aller Dinge zu halten. Moira zückte ihr Notizbuch und vermerkte die Einzelheiten. Noch wollte sie den Gang zu Mr. Owen nicht antreten. Noch war es nicht überzeugend genug, was sie vorzubringen hatte. Aber wenn man die beiden an der langen Leine ließ …

»Bist du sicher, daß es hier ist?«

»Wood Street 7«, bestätigte Kate und fügte mit einem müden Lächeln hinzu: »Fünfzehn Geschäftsleute können sich doch nicht kollektiv irren, oder?« Sämtliche Bestellungen waren telefonisch aufgegeben worden, und alle waren an dieselbe Adresse gegangen. Sie hatten den kurzen Weg vom Albert Square in die kleine Seitenstraße hinter der Deansgate zu Fuß in weniger als zehn Minuten zurückgelegt, obwohl sich die Weihnachtseinkäufer in den Straßen drängten. »Aber warum hier? Will er damit etwas Bestimmtes sagen?«

»Bist du schon mal hier gewesen?«

»Nicht, daß ich wüßte. Aber irgendeine Bedeutung muß es haben.«

Beide sahen zu dem Schild des Restaurants empor: Cacciatore stand dort in gemalten Lettern, und zu beiden Seiten in Blockbuchstaben ITALIENISCHE KÜCHE. Kate öffnete die Tür und trat ein. Adam folgte ihr. Eine laute Geräuschkulisse und die Düfte von Pasta und Pizza, Knoblauch und Kräutern schlugen ihnen entgegen und entwichen durch die offene Tür ins Freie.

Das Restaurant war zur Mittagszeit voll besetzt, und der kleine italienische Restaurantbesitzer war sehr erregt über die Störung, so daß sie sich schließlich einverstanden erklärten, sich an einen Tisch zu setzen und Kaffee zu bestellen. Als das Geschäft vorübergehend ruhiger wurde, schlängelte sich der Wirt zwischen den Tischen hindurch und kam zu ihnen.

»Natürlich habe ich den ganzen Kinderkram gekriegt. War alles für eine Mrs. Pearson bestimmt. Aber die kenne ich überhaupt nicht. Ich habe sofort die Geschäfte angerufen, die das Zeug geschickt hatten, aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Die Adresse stimmte. Ich habe denen gesagt, daß ich keine Mrs. Pearson kenne. Mein Name ist Cacciatore, habe ich gesagt.« Der Wirt warf sich stolz in die Brust, als er seinen Namen nannte.

»Ich bin Mrs. Pearson.« Kate sprach leise, doch Mr. Cacciatore reagierte sofort. Er riß die Augen weit auf, zog die Schultern hoch und kehrte die Handflächen in typisch südländischer Gestik nach außen.

»Warum haben Sie mir das angetan? Sehen Sie nicht, daß ich ein vielbeschäftigter Mann bin?« Er gestikulierte in Richtung des vollbesetzten Restaurants. »Habe ich nicht schon genug Schwierigkeiten? Mußten Sie mir auch noch eine Ladung Spielsachen, Fahrräder, Klamotten und so weiter aufhalsen? Was habe ich Ihnen denn getan?«

»Mr. Cacciatore, ich habe diese Sachen nicht bestellt. Ich habe keine Ahnung, wer es getan hat. Da hat mir jemand einen üblen Streich gespielt.«

Der kleine Mann schnaubte verächtlich. »Ihnen? Mir! Ich …«, er tippte sich an die Brust, »ich finde das überhaupt nicht lustig.«

»Was haben Sie mit den Sachen gemacht? Sind sie noch da?« fragte Adam.

»Was bilden Sie sich ein? Ich habe keinen Platz für das Zeug. Ich habe es zurückgehen lassen. Ich habe denen gesagt, ich will das nicht.«

»Sie haben die Annahme verweigert?« Kate war ungemein erleichtert. »Danke, Mr. Cacciatore.«

»Sie danken mir? Wäre mir lieber, Sie würden mich in Zukunft mit solchen Scherzen verschonen. Ich habe zu tun. Ich arbeite hart. Meine Frau arbeitet hart. Das hier ist ein Familienbetrieb. Ist auch ohne dieses Theater hart genug, Geld zu verdienen.« Der kleine Mann holte tief Luft, stellte sich auf die Zehenspitzen und plusterte sich für die nächste Schimpftirade auf.

»Ich werde mich bemühen«, versicherte Kate hastig und erhob sich ebenfalls, um dem nächsten Wortschwall zuvorzukommen. Sie hatten bereits etliche geneigte Zuhörer unter den Gästen. Jetzt ging ein Raunen durch die Reihen. Alle starrten gespannt auf Mr. Cacciatore. Seine erwartete Erwiderung fiel enttäuschend kurz aus.

»Hoffentlich nützt’s was«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

Kate wollte den Kaffee bezahlen, aber er wehrte ärgerlich ab. »Kommen Sie nur nie wieder in mein Restaurant. Und sorgen Sie dafür, daß man mich in Frieden läßt.«

Kate und Adam wechselten einen Blick. Es war Zeit zu gehen.

»Was willst du jetzt tun?« fragte Adam. Sie standen draußen vor dem Restaurant und atmeten dankbar die frische, kühle Luft ein.

Kate zuckte mit den Schultern. »Dafür sorgen, daß das Geld meinem Konto wieder gutgeschrieben wird. Dann werde ich das Konto löschen.«

»Was ist mit der Bank? So leicht sollten sie dort nicht davonkommen.«

»Was soll ich tun? Die Summe ist in einem Vorgang abgebucht worden. Wie oder durch wen das veranlaßt wurde, läßt sich nicht mehr nachweisen. Ein Scheck existiert nicht. Die Bank versucht jetzt herauszufinden, wohin das Geld gegangen ist. Was ich nicht begreife ist, wie er an all meine persönlichen Daten gekommen ist …«

»Banken sind leicht zu knacken. Dazu muß man nur Zugang zu den Gehaltsdaten haben – und das schafft bei uns jeder mit einem PC … zumindest theoretisch. Wenn man erst das Gehaltskonto raus hat, ist alles andere ein Kinderspiel.«

Kate warf Adam einen Blick zu, in dem sich Überraschung, Verblüffung, Zweifel und schließlich Mißtrauen spiegelten. Adam wurde prompt rot.

»Was ist los?« fragte er.

»Nichts. Ich finde nur, daß du in diesen Dingen verdammt gut bewandert bist.«

Adam zuckte mit den Schultern und lächelte verschmitzt.

»Jugendsünden«, sagte er.

Chefinspektor Harmon beeilte sich, sie umgehend zu empfangen. Er begrüßte Kate herzlich und bot ihr einen Stuhl an. Dann musterte er Adam kühl und abschätzend und deutete auf einen Stuhl am anderen Ende seines Schreibtischs. Adam setzte sich, ermahnte sich innerlich, die Hände still zu halten, und wartete darauf, daß Kate anfing.

Harmon lehnte, von Adam halb abgewandt, an seinem Schreibtisch. Kate wußte nicht, wie sie anfangen sollte. Als sie das letzte Mal in diesem Raum gewesen war, war Melanie gerade gefunden worden. Harmon hatte ein großes, funktionell eingerichtetes Büro mit einer durchaus persönlichen Atmosphäre.

Da waren zum Beispiel ein Foto von Harmons Familie und ein ausdrucksvolles, abstraktes Bild in Acryltechnik.

»Ich hoffe, wir stören nicht«, begann Kate ausweichend.

»Durchaus nicht.« Harmon fing Kates Blick auf und hielt ihn fest. »Sie sehen nicht gut aus, Mrs. Pearson.«

Die harmlose Bemerkung und der fürsorgliche, ehrliche Klang von Harmons Stimme war mehr, als Kate ertragen konnte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie senkte hastig den Blick. Es herrschte absolute Stille. Harmon gab ihr Zeit, sich zu fassen.

Von ihrem Platz aus konnte Kate Adam nicht sehen. Der Inspektor verstellte ihr die Sicht. Wenn Adam doch nur etwas sagen würde, dachte sie.

Chefinspektor Harmon sah zu Shepherd. Der starrte unbeweglich auf seine Schuhspitzen. Die Hände hatte er fest im Schoß verschränkt. Harmon erinnerte sich an die nervösen Zuckungen und Gesten der Hände bei ihrem vorigen Gespräch und nickte unwillkürlich.

»Sie haben Briefe bekommen … Post per Computer«, gab Harmon Kate das Stichwort, doch sie blieb stumm. Ihr Mund war nur ein schmaler Strich. Der Chefinspektor machte einen zweiten Versuch. »Haben Sie Kopien von diesen Briefen? Es wäre schon hilfreich, wenn Sie die Mitteilungen auf Festplatte gespeichert hätten … damit könnten wir arbeiten.«

»Sie sind gelöscht«, sagte Kate unvermittelt.

Harmon war sichtlich enttäuscht. »Natürlich. Kann ich verstehen. War sicher ein Schock …«

Kate schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nein, ich habe sie nicht gelöscht. Trotzdem sind sie verschwunden.«

Harmon runzelte die Stirn. »Hat Mr. Shepherd nicht gesagt, daß jemand in Ihren Dateien herumgepfuscht hat? Haben Sie diese Dateien zufällig ausgedruckt, bevor Sie das gemerkt haben?«

Kate hob den Kopf. Ihre Lippen öffneten sich einen Spalt. Dann schloß sie den Mund wieder, kramte in ihrer Handtasche und überreichte Harmon den Ausdruck der Mitteilung, die sie John James gezeigt hatte.

Unfähig, die folgende Stille zu ertragen, unfähig, den Inhalt der Mitteilung zu verdrängen, platzte sie heraus: »Er hat mein Bankkonto geplündert, indem er mit meiner Kreditkarte einen Haufen … Spielsachen gekauft hat.«

»Sie haben Ihre Kreditkarte verloren?«

»Nein. Die ist hier.« Sie wollte schon die Karte hervorholen, doch dann griff sie nur nach einer Zigarette. Sie zündete sie automatisch an, zögerte und warf Harmon einen schuldbewußten Blick zu. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie er das anstellt! Nichts ist mehr vor ihm sicher … Mein Konto nicht, meine Dateien im Büro nicht, mein Kreditkartenkonto nicht …«

»Er hat sich die Details deiner Kreditkarte auf dieselbe Weise verschafft wie die Nummer von deinem Bankkonto.« Das war Adam.

Kate versuchte ihn anzusehen, aber der große Polizeibeamte versperrte ihr nach wie vor die Sicht. Sie stand ungeduldig auf. »Die Personalabteilung besitzt diese Informationen nicht«, erklärte sie gereizt.

»Ich habe auf dieselbe Weise gesagt, nicht von derselben Stelle. Vielleicht hat er sich in die Akten deiner Kreditkartengesellschaft gehackt. Oder deine Daten über eine Versicherungsgesellschaft bekommen. Bist du beim NCCSS, Kate?«

Kate blinzelte. »Ja.«

Adam wandte sich an den Inspektor. »Das ist der Nationale Sicherheitsservice für Kreditkarten. Sie kommen für Verluste durch Diebstahl oder Kreditkartenbetrug auf. Zumindest bist du abgesichert, Kate.«

Harmon sagte nichts. Er starrte auf das Blatt Papier in seiner Hand. »Diese E-mail-Adresse …«, begann er und sah Adam an.

Adam warf Kate einen entsetzten und ungläubigen Blick zu. »Adresse?« Schon war er aufgesprungen und stand neben Harmon.

Harmon zog die Augenbrauen hoch. Er wartete ganz offenbar auf eine Erklärung.

»Ich habe Adam den Ausdruck nie gezeigt«, sagte Kate etwas schuldbewußt.

»Schei …«

»Mr. Shepherd?«

»Das nützt uns gar nichts«, murmelte Adam und setzte sich wieder. »Er hat eine APS benutzt.«

»APS?«

»Einen Anonymen Post Service.«

»Und das bedeutet, daß man die Sendung nicht bis zu ihrem Absender zurückverfolgen kann?«

»Richtig. Die Sendung lief über einen sogenannten Remailer, und den müssen wir finden.«

»Ist es den Versuch wert?«

»Alles ist den Versuch wert, um den Kerl zu kriegen, der Kate das antut. Aber gelöschte Dateien sind verdammt unergiebig.«

»Das bedeutet?«

»Das bedeutet, daß man versuchen muß, ihm auf die Schliche zu kommen, sobald er sich das nächste Mal meldet.«

Harmon musterte aufmerksam Adams markante Züge. Adams Hand glitt unvermeidlich an die Schläfe.

»Würden Sie das übernehmen?« Die Frage war vorsichtig formuliert.

Adams Blick schoß zu Kate, dann wieder zu Harmon.

»Was meinen Sie?«

»Würden Sie versuchen, die nächste Sendung zu ihrem Absender zurückzuverfolgen?«

»Ich? Wie soll ich wissen …« Die Lüge erstarb auf seinen Lippen. Er hielt inne.

Harmons Augen glitzerten beinahe amüsiert. Adam strich sich verlegen übers Haar.

»Ich könnte es versuchen. Aber versprechen kann ich nichts. Okay?«

»Okay.«

Es lag eine seltsame, beherrschte Kühle in Harmons Dialogen mit Adam, die Kate erstaunte und beunruhigte. Sie ertappte sich, wie ihr Blick zwischen den beiden hin- und herschweifte, während sie die Ursache für Adams nervöse Gereiztheit und Harmons Mißtrauen gegenüber Adam – oder war es Abneigung? – zu ergründen versuchte.

Kate verließ das Polizeirevier, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Worum ging es da drinnen eigentlich?«

»Wie meinst du das?«

»Zwischen dir und Harmon. Ich meine all die versteckten Anspielungen. Was hat er gegen dich?«

Adam zuckte mit den Schultern. »Er hat was gegen Computer, wenn du mich fragst.«

Ein Taxi kam auf sie zu. Kate machte dem Chauffeur ein Zeichen. »Möchtest du mitfahren?«

Adam schüttelte den Kopf. »Muß noch ein paar Weihnachtseinkäufe erledigen.«

Kate lehnte sich im Taxi zurück.

Weihnachten. Kate konnte sich ein Weihnachtsfest ohne Melanie nicht vorstellen. Für Kate gab es Weihnachten nur mit Melanie. Sieben glückliche Jahre lang hatten sie dieses Fest genossen, jedes Jahr, seit sie David verlassen hatte. Damals, beim ersten Mal, war Melanie viereinhalb und entsetzlich aufgeregt gewesen. Kate hatte immer versucht, das Kind nicht mit ihrer elendigen Situation zu behelligen. Und trotz der Blessuren, die David ihr an Stelle von Geschenken mit auf den Weg gegeben hatte, und obwohl ihr Fluchtgepäck nur aus einer Reisetasche und ihr Geldvorrat aus einem Wochenlohn bestanden hatte, hatte auch sie eine glückliche Erregung erfaßt. Zum erstenmal seit Melanies Geburt war sie wieder voller Hoffnung gewesen. So hatten sie jenes erste Weihnachtsfest in Freiheit mit einer Freude genossen, die Kate kaum noch für möglich gehalten hatte.

Eine Weile hatten sie in einem Frauenhaus Unterschlupf gefunden, bis Kate einen neuen Job bekommen hatte. Aus Angst vor David hatte sie ihren alten Arbeitsplatz aufgegeben. David hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß er sie umbringen würde, falls sie ihn je verlassen sollte. Und sie hatte diese Drohung sehr ernst genommen.

Im Frauenhaus war die Angst vor David lange allgegenwärtig gewesen. Aber den anderen Frauen war es nicht besser gegangen, und schon aus der Tatsache, nicht allein zu sein, hatte Kate Kraft geschöpft. Einige Frauen hatten es auf die Dauer als weniger belastend empfunden, zu einem gewalttätigen Ehemann zurückzukehren, als ständig darauf zu warten, von diesem entdeckt zu werden. Einmal war Kate selbst beinahe soweit gewesen. Aber sie hatte es als sehr lehrreich empfunden, Frauen zuzuhören, die immer nur sich die Schuld gaben, obwohl die Schwellungen und Blutergüsse in ihren Gesichtern und an ihren Körpern eigentlich das Gegenteil bewiesen. Viele kamen aus Angst um ihre Kinder, die wenigsten um ihrer selbst willen ins Frauenhaus. Und immer schleppten sie die Last der Schuld mit sich, die jedoch, wie Kate nur allmählich begriff, nicht die ihre war.

Bernie, die das Frauenhaus leitete, war ihrer aller Rettungsanker gewesen. Auf sie war Verlaß. Sie war der Fels in der Brandung. Bernie war eine kleine, untersetzte Frau irisch-polnischer Herkunft. Sie unterrichtete Selbstverteidigung für Frauen im örtlichen Sportverein und leitete gleichzeitig das Frauenhaus. Sie hatte Kate überredet, ihre Kurse zu besuchen, und Kate war überrascht gewesen, welches Selbstvertrauen ihr das Selbstverteidigungstraining gab.

Bernie schien zu spüren, wann jemand sich aussprechen mußte, sie fand stets das richtige Wort zum richtigen Zeitpunkt.

Dabei war sie keine ausgebildete Psychologin, sondern hatte aus eigener Erfahrung gelernt.

Bernie gab selten konkrete Ratschläge. Daher hatte Kate Bernies Reaktion auf ihre Ankündigung, zu David zurückzukehren, völlig überrascht. Bernie hatte sie bei den Schultern gepackt, auf einen Stuhl gesetzt und sich vor ihr aufgebaut.

»Was ist los mit dir? Hast du schon vergessen, wie du damals zugerichtet warst, als du hierherkamst? David war noch brutaler gewesen als sonst, stimmt’s?« Als Kate schwieg, fuhr sie fort: »Er hat dich nicht nur dort geschlagen, wo es nicht auffiel. Dein Gesicht war so übel zugerichtet, daß du keinen Bissen vom Weihnachtstruthahn essen konntest … Womit hat David dich geschlagen, Kate?«

Kate kämpfte mit Tränen, aber Bernie ließ nicht locker. »Es hat keinen Sinn, die schrecklichen Dinge zu verdrängen, solange man sie nicht restlos verarbeitet hat. Solange du noch mit dem Gedanken spielst, zu ihm zurückzukehren, bist du nicht wirklich frei. Du solltest dir darüber im klaren sein, was passieren wird, wenn du zurückgehst. Sag mir, warum du solche Angst vor ihm hast.«

Kate schüttelte den Kopf.

»Wegen des Messers, das er immer unter dem Couchpolster versteckt hält, oder?«

Kate nickte.

»Er hat dich nicht nur geschlagen, als er die Beherrschung verlor, Kate. Er hat dich auf sadistische Weise systematisch mit der Existenz dieses Messers an diesem Platz terrorisiert. Immer hast du es beim Saubermachen gesehen. Immer hast du diesen Gegenstand gespürt. Du hast gewußt, daß es dort ist und auf deinen ersten Fehler wartet. Er hat dich so oft erniedrigt, daß du geglaubt hast, du verdienst es nicht anders. Warum, denkst du, hat er immer dasselbe Ritual abgespult, bevor er dich halbtot geschlagen hat? Damit du wußtest, was kommen würde, Kate. Damit er sich stark fühlen konnte, wenn er die Angst in deinen Augen sah.«

»Halt deinen verdammten Mund!« Kate erschrak über die Heftigkeit ihrer Entgegnung und sah Bernie entsetzt an. Aber ihre Worte schienen an Bernie abzuprallen. »Ich wünschte, ich hätte es dir nie erzählt«, fügte sie heiser hinzu.

»Damit ich dich nicht daran erinnern kann?« fuhr Bernie fort. »Geh zu ihm zurück, und du kriegst den Nachhilfeunterricht, den du brauchst. Es wird sein, als wärst du nie weggewesen … nachdem er dir eine Tracht Prügel verpaßt und dir gezeigt hat, wer der Boß ist. Und dann wird er weinen und dich dafür verantwortlich machen, daß er die Beherrschung verloren hat. Und weißt du was? Er wird dir leid tun. Du wirst das Gefühl haben, es sei deine Schuld. Denn genau das ist der Zweck der Übung. Soll ich dir sagen, warum du mit dem Gedanken spielst zurückzukehren?« Als Kate schwieg, sagte Bernie erbarmungslos: »Weil du glaubst, du seist zu nichts nütze.«

»Ich glaube nicht …«

Bernie unterbrach ihren Protest mit harter Stimme: »Als du hergekommen bist, hattest du wegen Mel Angst. Aber nachdem deine Blutergüsse verheilt waren, hast du gedacht: ›Was, wenn er mich findet? Er hat gesagt, er bringt mich um, wenn er mich findet.‹ Und dann hast du dich schlecht gefühlt, weil das bewies, daß du um dich Angst hattest … daß du gar nicht mehr an Melanie dachtest. Doch schließlich hatte er nicht gedroht, das Kind umzubringen, oder? Aber welche Mutter denkt schon so? Also fühlst du dich schlecht und glaubst, er habe die ganze Zeit recht gehabt. Er behauptet, du seist egoistisch, und jetzt bildest du dir ein, er hatte recht. Du hältst dich für eine schlechte Ehefrau und eine schlechte Mutter. Und deshalb fügst du dich lieber in das Unausweichliche. Stimmt’s?«

Kate nickte und kaute auf der Lippe.

»Falsch, Kate.« Bernie nahm Kates Hand. »Sie drohen, uns umzubringen, wenn wir sie verlassen. Denn für sie bedeutet es, daß sie ihre Macht verlieren. Mit Liebe hat das nichts zu tun. Dabei haben sie durchaus Angst, uns zu verlieren. Ganz abgesehen davon, daß sie schwach sind und nicht überleben können ohne jemanden, der alles organisiert, sich für sie krummlegt und die Schuld auf sich nimmt, wenn sie einen Fehler machen …« Sie hielt inne. Kate wischte sich die Tränen weg. »Es ist das Unbekannte, vor dem sie Angst haben, das, was sie nicht kontrollieren können. Deshalb müssen sie alles überprüfen, was wir tun, deshalb zwingen sie uns, alles so zu machen, wie sie es wollen. Es gibt ihnen Macht. Sobald sie die Macht über die kleinen Dinge haben, haben sie weniger Angst vor den größeren Sachen … vor dem richtigen Leben.

Tja, und dann kommt der Schock. Die Frau, die er nie als eigenständiges Wesen mit Gefühlen und Rechten angesehen hat, hat ihn verlassen. Dabei hatte er sie im Lauf der Zeit sogar davon überzeugt, daß sie außerhalb seiner Einflußsphäre gar nicht existieren kann. Und trotzdem ist sie auf und davon. Damit hat er das kleine Reich verloren, in dem er Gott war und in dem niemand es wagte, ihm auch nur zu widersprechen.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll …«, murmelte Kate.

Bernie lächelte. »Und das überrascht dich? Jahrelang hat eine andere Person dir jede Entscheidung abgenommen … dir sogar vorgeschrieben, was du anziehen sollst. Wie viele Jahre ist es so gegangen, Kate?«

»Fünf«, antwortete Kate, ohne zu zögern.

»Alles braucht seine Zeit, Kate. Manchmal denke ich, wir leiden an einer Art Geisteskrankheit. Deshalb gehen so viele Frauen immer und immer wieder zurück. Wir müssen erst zur Vernunft kommen, bevor wir unser Leben wirklich selbst in die Hand nehmen können.«

»Soll das heißen, daß du jetzt die Entscheidungen für mich triffst?« Kate lächelte.

Bernie hatte die Ironie der Lage wohl begriffen. Sie lächelte auch, beinahe schüchtern. »Wenn du so willst. Allerdings möchte ich lieber, daß du meine Worte als Ratschlag begreifst. Und ich habe nicht die Absicht, mit dem Holzgriff eines Brotmessers auf dich einzuprügeln, wenn du ihn nicht annimmst.«

»Ich schäme mich so«, flüsterte Kate.

»Ich weiß. Das geht uns allen so. Aber es ist Unsinn. Du hast nichts getan, dessen du dich schämen müßtest.«

Kate war also geblieben, und sie wurde allmählich von der ›Geisteskrankheit‹, wie Bernie es genannt hatte, geheilt. Melanie war eine große Hilfe gewesen. Sie hatte solches Vertrauen, ein solch positives, offenes Naturell, daß Kate durch sie problemlos neue Freundschaften geschlossen hatte. Diese Freundschaften allerdings waren von kurzer Dauer. Das lag an dem ständigen Kommen und Gehen im Frauenhaus. Aber sie waren heilsam. Kate war stark geworden.