Kapitel 10

Sergeant Wainwright warf einen Blick auf die Uhr, bevor er an Chefinspektor Harmons Tür klopfte. Seine Armbanduhr saß locker an seinem Handgelenk, und der Bund seiner Hose war ihm viel zu weit geworden – beides deprimierende Zeichen für seinen rapiden Gewichtsverlust. Es war halb sieben. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Ich habe eine Liste der Personen aufgestellt, die wir im Juli schon vernommen haben«, verkündete er.

»Gut. Überprüfen Sie zuerst ihre Exfreunde.« Harmon stand mit dem Rücken zum Fenster, hörte auf die Verkehrsgeräusche unten in der Dunkelheit. Er dachte daran, daß er Angie hätte anrufen müssen, und fragte sich, wie Kate Pearson wohl Weihnachten verbrachte. Weihnachten konnte in seinem Job zu einer schrecklichen Angelegenheit werden.

»Dürfte schnell erledigt sein … Soviel wir wissen, gibt es nur zwei.« Wainwright war bemüht, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Jan war mittlerweile bestimmt schon in Panik. »Hat das Zeit bis morgen? Nur …«

»Morgen reicht mir vollkommen. Nur nichts überstürzen. Erst müssen wir wissen, womit wir’s zu tun haben.« Harmon setzte sich aufs Fensterbrett und streckte die langen Beine von sich. »Ein Universitätsdozent und ein Personalchef, stimmt’s?«

»Beide waren beim letzten Mal absolut sauber. Also …«

»Letztes Mal haben wir einen Mörder gesucht, Sergeant. Ich will, daß alle, die wir im Mordfall Melanie vernommen haben, noch einmal diskret überprüft werden. Die Person, die wir suchen, könnte völlig andere Motive haben als der Mörder. Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß der Kerl Mrs. Pearson persönlich kennt.«

»Sie glauben also nicht, daß er der Mörder ist, Sir?«

»Es ist gut möglich … Aber auf Spekulationen lasse ich mich ungern ein. Könnte auch irgendein Geisteskranker sein, der ihren Namen aus der Zeitung kennt, oder jemand, der irgendwas gegen sie hat. Vielleicht ein Kollege oder eine Kollegin aus dem Büro. Die Adresse ihres Exmannes haben wir in den Akten, oder?«

Das war eine rein rhetorische Frage. Sergeant Wainwright machte sich nicht die Mühe zu antworten. Er hatte auch so verstanden, daß ein Gespräch mit Mr. Pearson Priorität hatte.

»Überprüfen Sie außerdem Mrs. Pearsons Kollegen im Büro. Und zwar so unauffällig wie möglich. Ich möchte vermeiden, daß sich jemand zu Kurzschlußhandlungen hinreißen läßt.«

»Was ist mit Shepherd, Sir?« Kaum, daß er den Namen ausgesprochen hatte, bereute er es bereits. Das Thema Shepherd hätte bis zum folgenden Morgen warten können, die Zeit lief ihm sowieso schon davon. Müdigkeit. Müdigkeit und Erschöpfung verleiteten ihn immer wieder zu unbedachten Äußerungen.

Harmon lächelte. »Shepherd sollten wir mit Samthandschuhen anfassen. Aber er gehörte zu unseren Mordverdächtigen. Also können wir ihn nicht übergehen. Wäre nicht fair. Wir entscheiden später, ob er für uns interessant ist.«

Wainwright hüstelte höflich. Harmon sah ihn an und zog die Augenbrauen hoch. »Sollten wir nicht noch mehr Leute hinzuziehen, Sir. Inspektor Craine hat Interesse an dem Fall bekundet?« Unter normalen Umständen hätte Sergeant Wainwright Craine kaum ins Spiel gebracht, aber seine häusliche Situation war eben alles andere als normal. Wenn Craine beteiligt wurde, konnte Wainwright sich zurückziehen. Er und Craine kamen nicht gut miteinander aus. Wainwright war bei seinem Vorschlag selbst nicht wohl in seiner Haut. Allein die Einsicht, mehr Zeit für Jan haben zu müssen, hatte ihn dazu verleitet. Und wie es aussah, würde der Fall eine Menge Zeit verschlingen, die er nicht aufbringen konnte.

Harmon betrachtete Wainwright nachdenklich. »Ungelöste Fälle kann ich nicht leiden, Sergeant Wainwright. Und ganz besonders zuwider sind mir ungelöste Morde. Und wenn es so aussieht, als würde der Mörder die Familie des Opfers weiterhin terrorisieren …«

»Dann schließen Sie die Möglichkeit also doch nicht aus, daß der Mörder dahintersteckt?« Wainwright konnte es nicht lassen, auch wenn ihm die Minuten zwischen den Fingern zerrannen.

»Was die Identität dieser Person betrifft, tappen wir völlig im dunkeln. Vielleicht ist es der Mörder. Oder …« Harmon hielt nachdenklich inne, »… ihr Exmann. Vielleicht bestraft Pearson Kate auf diese Weise für den Tod seiner Tochter. Er war nicht gerade kooperativ, als Melanie entführt wurde.«

Wainwright nickte. Er selbst hatte David Pearson vernommen. Schon damals hatte er nicht begriffen, wie eine Frau wie Kate an einen Kerl wie Pearson hatte geraten können.

Wainwright erinnerte sich noch genau, an die Vernehmung Pearsons, zu der Harmon ihn hinzugezogen hatte. Allein die vulgäre Sprache des Mannes war kaum zu überbieten gewesen.

»Ich will Ihnen mal was sagen, wie ich die Sache sehe«, hatte er angefangen. Die Augen zu Schlitzen verengt, hatte er geringschätzig die Mundwinkel herunterzogen. »Sie hat Melanie auf die Straße geschickt, während sie für irgendeinen Kerl die Beine breitgemacht hat. Sie war als Ehefrau nichts wert … und noch weniger als Mutter. Weiber wie sie sollte man kastrieren.«

»Ja«, sagte Wainwright jetzt und riß sich aus seinen Gedanken. »Ein Kerl wie Pearson macht sie sicher für Melanies Tod veranwortlich.« Er zog eine Grimasse. »Ein unangenehmer Zeitgenosse.«

»So ist es«, antwortete Harmon. Er ließ Sergeant Wainwright noch eine Weile über Pearson nachdenken und sagte dann: »Aber natürlich könnte es auch der rätselhafte Mr. Shepherd sein.«

»Wäre eine Methode, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken«, stimmte Wainwright mit einem Blick auf die Wanduhr zu.

»Und ein Blinder mit Krückstock sieht, daß er geradezu nach ihrer Aufmerksamkeit lechzt. Aber es könnte natürlich auch eine dritte Person sein, die uns bisher noch nicht über den Weg gelaufen ist.«

Die Selbstverständlichkeit, mit der der Mann von den West Indies sprachliche Idiome beherrschte, entlockte Wainwright ein Lächeln. »Jemand außerhalb des Büros zum Beispiel«, ergänzte er dann.

Harmon nickte. »Möglich. Aber Shepherd besteht darauf, daß es für einen Insider aus dem Büro ein leichtes sei, Mrs. Pearsons persönliche Daten zu knacken. Bleiben wir vorerst beim Wahrscheinlichen … jeder, der mit ihr Umgang pflegt oder pflegte, jeder, der das Betriebssystem des Büros benutzt.«

»Sie sind der Boß.« Wainwright hatte Harmons Hinweis bezüglich des Wahrscheinlichen und Möglichen schon oft gehört. Normalerweise war er durchaus damit einverstanden. Heute allerdings, kurz vor sieben Uhr abends, während er Jan zu Hause schon einem hysterischen Anfall nahe wähnte, erschien er ihm unnötig und pedantisch.

»Versuchen Sie dabei gleich einen Eindruck davon zu gewinnen, was die Kollegen bei Technicom von Kate Pearson halten. So ganz allgemein, wissen Sie?« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Finden Sie raus, wieviel sie vom Internet weiß und versteht.«

Wainwright sah verdutzt von seinem Notizbuch auf.

Harmon zog die Mundwinkel herunter. »Erfahrungen, wie sie sie durchgemacht hat, können Menschen verändern.« Er erinnerte sich an Angies abwesenden, schmerzlichen Blick, als sie gesagt hatte: ›Ich versuche mir vorzustellen, wie ich damit umgehen würde, wenn einem der Jungs …‹ Gelegentlich war sein gutes Erinnerungsvermögen ein Fluch. »Ich glaube nicht, daß jemand so etwas ohne psychische Schäden übersteht.«

Wainwright legte sein Notizbuch beiseite. »Damit wir uns nicht falsch verstehen, Sir«, er starrte nachdenklich auf seinen Stift, »Sie meinen also, daß Kate Pearson die ganze Sache auch erfunden haben könnte?« Diese Art von Spekulation seitens seines Vorgesetzten brachte Wainwrights Blut in Wallung. Er mahnte sich innerlich zur Ruhe. Sein Schlafdefizit verleitete ihn zu unüberlegten Reaktionen.

»Möglich wäre es«, sagte Harmon vorsichtig.

»Wir sprechen hier von Kate Pearson, Sir«, hörte Wainwright sich sagen. »Ich habe nur einmal erlebt, daß sie Schwäche gezeigt hat … als sie ihr Kind im Leichenschauhaus ansehen mußte. Und, offen gestanden, den Anblick habe auch ich kaum verdaut.«

»Ich weiß. Aber seither ist viel passiert.«

Wainwright war nicht zu bremsen. Er haßte sich selbst dafür. »Ich habe mit Melanie Pearsons Lehrern, ihren Klassenkameradinnen gesprochen. Sie war ein beliebtes, ausgeglichenes Mädchen. Wenn ihre Mutter eine Macke hätte, wäre dann das Kind so …« Er suchte nach einem passenden Ausdruck. »So … normal gewesen?«

»Kate lebt seit fünf Monaten allein. Wer kann schon sagen, welche Auswirkungen die Geschichte gehabt hat?«

»Wieso sollte die Trauer um ein Kind eine Mutter dazu verleiten, ein ganzes Morddezernat hinters Licht zu führen?«

»Ich habe nicht behauptet, daß sie uns belügt, Bill.«

»Nein?« Die Benutzung seines Vornamens war ein bewußter Schachzug. Nur selten gestattete sich Detective Chief Inspector Harmon solche Vertraulichkeiten. Das machte Wainwright nur noch aufgebrachter. Harmon war auf dem falschen Dampfer, und das sollte er endlich eingestehen.

»Nein«, versicherte Harmon ihm, »ich sage nur, daß wir in alle Richtungen ermitteln müssen.«

Wainwright konnte dem nichts entgegenhalten. Trotzdem schwelte sein Ärger dicht unter der Oberfläche weiter gefährlich.

»Dann setze ich also Diane Rowson darauf an.«

Harmon musterte Wainwright prüfend. Diese Reaktion war untypisch für den Sergeant. Normalerweise verhielt er sich in Diskussionen eher taktvoll und unaufdringlich, wenn nicht sogar zaghaft. Harmon erschrak beinahe, als ihm auffiel, wie schlecht Wainwright aussah und wie nachlässig sein Äußeres wirkte. Der Sergeant schien wie ausgewechselt. Ausgerechnet er, der bei den Kolleginnen wegen seiner athletischen Statur, seiner guten Manieren und seiner gepflegten Kleidung so beliebt war, wirkte unrasiert und ungekämmt. Harmon hatte ihn noch nie in einem ungebügelten Hemd erlebt.

Wainwright wandte sich zum Gehen.

»Sonst alles in Ordnung, Bill?«

»Na klar.«

»Ich meine, ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Wainwright sagte nichts. Er traute seiner Stimme nicht. Er preßte die Kiefer aufeinander. Was weiß Harmon schon, dachte er ärgerlich, mit seinen gesunden Jungen und seiner eleganten, erfolgreichen Frau. Er war Dr. Angeline Harmon mehrfach begegnet, wenn er den Chefinspektor zu Hause abgeholt hatte. Nie machte sie solch einen gehetzten Eindruck wie seine Jan, und sie traf stets fröhlich und charmant den richtigen Ton.

Er nickte, noch immer unfähig, ein Wort herauszubringen. Nicht Harmons Schuld. Wessen dann? Er kehrte zu der Frage zurück, die er sich im vergangenen Monat wohl tausendmal gestellt hatte. Und zum tausendsten Mal gelangte er zu derselben Antwort: Kinder sind aus dem Stoff ihrer Eltern gemacht. Also kam es wie ein Bumerang auf sie zurück. Auf ihn und Jan.