Kapitel 17

Er sah zu, wie an diesem kürzesten Tag des Jahres das Tageslicht verging, und fragte sich, warum man diesen Vorgang »Einbruch der Dunkelheit« nannte. Dunkelheit bricht nicht herein, dachte er. Sie senkte sich nieder. Sie drang ein, unbemerkt, fand den Weg in die entferntesten Winkel jedes Kellers, jedes Raumes, jeder Gasse und jedes Durchganges, füllte jede Ecke aus.

Sein Zimmer war kalt, aber er spürte die Kälte kaum. Die sauberen, leeren Oberflächen und ordentlich eingeräumten Bücherregale um ihn herum waren ihm Behaglichkeit genug.

Ich hätte dich vielleicht an alldem teilhaben lassen, dachte er und fühlte gleichzeitig, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Er sah sich im Raum um, empfand eine tiefe Freude angesichts der weißen, glatten Wände, die das schwindende Licht wenige Minuten lang mit einem malvenfarbenen Hauch überzog. Er prüfte mit kritischem Blick die penible Anordnung von Disketten und Handbüchern in den Regalfächern neben seinem Schreibtisch und war zufrieden.

Er wartete auf die absolute Dunkelheit, bevor er seinen Computer einschaltete. Er summte eine Melodie. Seine hohlen, glanzlosen Augen schimmerten für den Bruchteil einer Sekunde. Die Kontrollämpchen an Monitor und Drucker flammten auf, als die Geräte anliefen. Kaum hatte sich das Licht stabilisiert, spiegelte es sich in seinen Augen wider: zwei gleichmäßige Rechtecke, ausgerichtet wie zwei grüne Glasscherben, hart und zerstörerisch wie sein Wille.

Er wartete den Check seines UNIX-Betriebssystems ab und wechselte von dort in ein anderes Betriebssystem. »Gehen wir für die Vorstellung heute abend nach … Glasgow!« murmelte er und tippte die Kommandos ein. Das Sammelprogramm, das er in den vergangenen Monaten hatte laufen lassen, hatte über hundert hochbrisante Paßwörter der Belegschaften von Universitäts- und Forschungslabors im Vereinigten Königreich bei Cern, NASA und MIT herausgefischt. Die Datenwächter der Universitäten hatten einige davon abgefangen, aber seine kleinere, wesentlich wichtigere Datei nicht entdeckt.

Er fragte sich, ob die Polizei noch immer versuchte, ihn aufzuspüren. Er lachte, und sein Atem bildete kleine Kondenswölkchen in der kalten Luft des abgedunkelten Raumes. Der Ton seines Gelächters war schrill und unmusikalisch und klang in der sterilen, kalten Luft hohl und leer.

Er tippte sich immer tiefer in die unendliche Weite des Netzwerks, und seine Finger bebten vor Erregung. Es war der erste Kontakt seit seiner letzten Botschaft.

Es war seine Absicht gewesen, sich zuerst in Kathys – den Namen hatte er für diesen Tag gewählt – System einzuschalten. Aber wie so oft wurde er abgelenkt und fand sich bei seinen Streifzügen plötzlich in Regionen wieder, auf die er gar nicht abgezielt hatte. Er klinkte sich spontan in das Computersystem des Polizeipräsidiums ein und hinterließ eine Nachricht für Harmon unter dem Motto:

Die Beziehung zwischen Melanie und dem schwarzen Bobby.

Frage: Wann ist ein totes Mädchen wie ein Chefinspektor? Antw.: Wenn sie Melanie heißt! (’tschuldigen Sie den Schreibfehler).

Kapiert? .-D

Das Computersystem der Polizei geriet in hellen Aufruhr. Er loggte sich aus und schaltete sich über einen anderen Weg wieder in das Internet ein, wobei er jedes Risiko, entdeckt zu werden, mied.

Dann tippte er eine Nachricht für Kate ein:

Hat das Schlaflied gefallen?

Hat man sich adieu gesagt?

Schließlich schickte er die Post ab. Schon bald würde er im Betriebssystem des Büros surfen. Vielleicht würde er ein paar Dateien zerstören, ihre Post lesen, einige eigene Zeilen hinzufügen, vielleicht ein weiteres eingescanntes Bild in ihre Dateien laden.

Er zögerte das Vergnügen noch weiter hinaus, schloß die Augen und stellte sich vor, wie sie seine letzte Nachricht las. Noch immer bebend, noch immer tief verletzt von der Tonbandaufnahme, die er in das Stereosystem ihrer Wohnung eingespeist hatte. Er konnte den Mitschnitt abspielen, den er von Kate gemacht hatte, während sie das Band hörte – die Wanze, die er in ihrer Wohnung versteckt hatte, war ihr Geld wert gewesen.

Obwohl er das Internet liebte und in der Macht schwelgte, die es ihm verschaffte, empfand er es in einem Punkt als unbefriedigend: Es fehlte der unmittelbare, direkte Kontakt. Das, was ihn ursprünglich am Internet so angezogen hatte, nämlich daß es als Kontaktmedium diente, frustrierte ihn jetzt: Anonymität war sein größter Pluspunkt und sein schwerwiegendster Nachteil. Mehr als alles andere wollte er sie leiden sehen, wie sie ihn hatte leiden lassen. Er erlebte eine gottgleiche Macht, indem er aus dem Nichts des Cyberspace zuschlug, aus dem Äther, sozusagen, aber es fehlte etwas …

Ihr Leben außerhalb der Firma konnte er nur mit indirekten Mitteln erreichen – ihr Bankkonto, ihre Rechnungen –, aber diese Dinge konnten niemals eine so intime Funktion ausüben wie das Band, das speziell für sie angefertigt worden war … und Melanie die Möglichkeit gab, aus dem Grab zu sprechen.

Sich in ihrer Wohnung aufzuhalten, ihre Habseligkeiten zu befingern, ihr Parfüm einzuatmen, das in der Luft ihres Schlafzimmers hing, hatte ihm ein tiefes Lustgefühl verschafft. Auf ihrem Bett liegend, war er versucht gewesen, zu warten, bis sie nach Hause kam. Es ging nicht um Sex, sagte er sich, sondern um ein überdimensionales Gefühl von Macht …

Zehn Minuten später spazierte er durch das Technicom-Betriebssystem und suchte nach Dateien, die mit Kates Initialen gekennzeichnet waren. Verdutzt brach er ab und startete erneut. Er fand keine einzige Datei mit den Initialen KMP.

Er spulte die Dateiverzeichnisse ab. Die Worte glitten langsam über den Bildschirm, ließen das Licht in seinen Augen flackern … ein müder Abklatsch des Lebens. Die rollenden Bilder machten ihn schwindelig. Er loggte sich aus, schwitzte, war sich bewußt, daß seine Aktivitäten Spuren hinterlassen könnten. War ihm die Universität von Manchester dichter auf den Fersen, als er angenommen hatte? Er loggte sich als nächstes über die Universität von Liverpool ein, fand Zugang zu Katherines Büro-System (Katherine, nicht mehr Kate, denn er war wütend auf sie), benutzte ihr eigenes Login und Paßwort, und seine Verwirrung wuchs. Er war ausgesperrt.

Er ging in sein eigenes Betriebssystem zurück, loggte sich unter seinem Namen und Paßwort ein, tippte ›elm‹ ins UNIX, um in seine Mailbox zu kommen. Er hatte ein hohles, leeres Gefühl in der Magengegend. Sein letzter Brief war zurückgekommen, tauchte in der Liste auf:

Mail-Adresse unbekannt.

Darunter stand eine andere Nachricht, die über seinen Remailer adressiert war.

›Von : K. M. Pearson‹

Seine Wangen brannten für einen Augenblick, dann war die Hitze erloschen. Er starrte ungläubig auf den Bildschirm. Sie hatte ihre Dateien gelöscht. Es gab keine andere Erklärung. Er war wütend. Das kam völlig unerwartet. Das hätte nicht passieren dürfen.

Er bewegte den Cursor nach unten, markierte die gesamte Nachricht und drückte dann auf die Enter-Taste. Das Original seiner Nachricht war da, unverändert, ganz oben auf dem Bildschirm.

Hat das Schlaflied gefallen?

Hat man sich adieu gesagt?

Darunter ihre Antwort:

Es ist gut, in Kontakt zu bleiben, aber noch besser, die Macht zu behalten;-)

Ich klinke mich jetzt aus. Schicken Sie also Ihre Liebesbriefe ins Nichts, wenn Sie wollen. Ich werde nicht da sein;-D

Dunkle Röte breitete sich von seinem Halsansatz über den Kragenrand hinweg aus.

»Oh, und ob du da sein wirst, Katherine, schneller als ich geplant hatte, und schneller als du denkst. Du wirst dort sein.« Sie hatte versucht, ihn auszumanövrieren, mit ihrem Straßenköterinstinkt und mit ihrer Schulbildung, aber es reichte eben nicht.

»Du hast mich immer unterschätzt«, murmelte er.