Kapitel 24

In der ersten Morgendämmerung huschte eine Gestalt wie ein Schatten durch die langsam erwachende Straße. Ihr Haar schimmerte für Sekunden rötlich unter dem Licht einer Laterne, dann war sie vorbei.

Sie lief die Fassaden der einst prächtigen, mittlerweile jedoch heruntergekommenen Häuser im viktorianischen Stil entlang und suchte nach Adam Shepherds Hausnummer.

Kate Pearson entdeckte einen Schatten auf der Veranda. Sie zuckte zurück und wünschte, sie hätte ein Kopftuch gehabt, um ihr Haar zu verstecken. Die Gestalt trat aus dem Dunkeln näher an die Balustrade. Es war Constable Barratt! Sie trat frierend von einem Bein auf das andere und wirkte schmal und verloren im grauen Zwielicht.

Kate fühlte sich automatisch an ihre eigene unzureichende Kleidung erinnert und fröstelte heftig. Constable Barratt gähnte und wandte sich ab. Kate hastete weiter und bog in einen hohen Durchgang ein, in dem ihre Schritte von den hohen Terrassenmauern vielfach zu beiden Seiten widerhallten. Am Ende bog sie nach links ab, blieb stehen und sah um die Mauerecke zurück. Niemand folgte ihr.

Kate wandte sich erneut nach links und hastete durch eine schmale Gasse zwischen Hinterhöfen hindurch, in denen Hunde wütend bellten.

Atemlos erreichte sie die nächste Querstraße und mußte sich über einem Gully übergeben.

Eine Frau zerrte bei ihrem Anblick angeekelt ihre Kinder auf die andere Straßenseite. Kate beachtete sie gar nicht. Sie setzte sich auf eine niedrige Gartenmauer und atmete tief, um sich und ihren Magen zu beruhigen.

Sie kramte ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Mund ab. Ihre Hand zitterte, und als sie aufzustehen versuchte, schien sich alles um sie zu drehen. Erschrocken ließ sie sich wieder auf die Mauer sinken, stützte die Ellbogen auf die Knie und wartete, bis der Schwindelanfall vorüber war.

Adam zitterte. Craine hatte die Hintergründe seiner Verurteilung detailliert beschrieben, das Fehlen von gleichaltrigen Freunden als Beweis für schwere soziale Probleme angeführt, den Vorfall in der Jugendstrafanstalt Withenstop wiederaufgerollt, als er einen Mithäftling verprügelt hatte und in Einzelhaft genommen wurde. »Er war krankenhausreif, als Sie mit ihm fertig waren.«

»Billy Kinsella war der Obermacker im Trakt«, erklärte Adam. »Er war der Ansicht, es sei ein fairer Kampf. Davor hatte er mich mehrfach grundlos verprügelt. Er und ein paar Kumpane. Er hat dafür gesorgt, daß er zur Gartenkolonne kam, damit er mich noch mehr drangsalieren konnte. Er hat mich wochenlang immer wieder gestoßen, mir ein Bein gestellt oder Nierenhaken verpaßt, wenn die Wärter nicht aufgepaßt haben. Eines Tages ist er im Duschraum auf mich losgegangen. Nur waren diesmal seine Kumpane nicht dabei. Also habe ich meine Chance genutzt und es ihm heimgezahlt.«

»Zwei gebrochene Rippen«, las Craine von einem Blatt ab. »Ein ausgeschlagener Zahn. Nierenprellung. Schnitte und Blutergüsse am ganzen Körper. Hier steht, Sie hätten ihm so brutal in die Eier getreten, daß er eine Woche lang nicht aufrecht gehen konnte. Saftige Abrechnung!« Er starrte Adam an. »Hat Ihnen zusätzliche sechs Monate und zwei Wochen Isolationshaft eingebracht«, sagte er. »War’s das wert?«

Adam zuckte die Achseln. »Er hat mich von da an in Ruhe gelassen. Und nicht nur er. Alle.«

»Machen Sie das immer so mit Menschen, die Sie nicht in Ruhe lassen, Adam? Erteilen Sie ihnen eine Lektion, die sie nicht vergessen?«

Adam runzelte die Stirn.

»Rächen Sie sich dort, wo’s am meisten weh tut?« Craine kaute einige Minuten an seinem Schnurrbart. Er ließ Adam nicht aus den Augen.

Adam konnte den Blick des Mannes kaum noch ertragen. Selbstverständlich wußte der Inspektor Bescheid. Es mußte alles in seiner Akte stehen: der wahre Grund, weshalb er versucht hatte, Billy Kinsella umzubringen. Aber Adam log geradezu zwanghaft, konnte selbst noch immer kaum glauben, daß ihm das wirklich passiert war.

»Sie warten an Schultoren, nicht wahr?« fuhr Craine fort. »Sehnen sich danach, sie zu berühren, wollen sie beobachten. Wie sie sich bewegen, wie ihre Röcke wippen, wenn sie gehen. Sie tragen sie wieder kurz … schon aufgefallen?« Ein heiseres Lachen. »Dumme Frage.«

Adam sah weg.

»Es ist ihre Haut. Sie ist so … weich, so straff.« Er grinste böse. »Da fragt man sich, was sonst noch straff ist, was?«

»Herrgott im Himmel …«

»Haben Sie sie deshalb entführt, Adam? Weil Sie verrückt nach ihr waren?«

»Nein.«

»Warum dann?«

»Hören Sie! Ich habe Melanie nicht entführt.« Adam wollte Craine sagen, daß er sich irrte, aber er wußte nicht, wie er das anstellen sollte, ohne schuldbewußt zu klingen. Und zudem ahnte er, daß er diesen Mann sowieso nicht überzeugen konnte.

Craine redete weiter, sagte dem Tonband, daß Adam den Kopf schüttelte. Adam war sich dessen gar nicht bewußt gewesen. Und dann sagte er noch etwas über Melanie. Adam versuchte, nicht zuzuhören.

»Rippenbrüche …« Craine hielt inne, blätterte die Akte auf dem Tisch durch. »Interessant. Zwei gebrochene Rippen.«

»Ich muß mir das nicht anhören.«

»Die Spuren von Fesseln an beiden Hand- und Fußgelenken. Auffällige Blässe …«

Aufhören.

»Schädelfraktur durch den Schlag mit einem schweren Gegenstand. Ein Stein? Ist es ein Stein gewesen, Adam? Oder ein Hammer?«

»Das weiß ich nicht!«

»Eingedrückt wie eine Eierschale …«

Großer Gott, Melanie …

»Gehirnmasse überall auf dem Boden …«

»Bitte!« Adam verbarg das Gesicht in den Händen.

»Na, gut, mein Sohn. Beruhigen Sie sich.« Craine wartete. Hatte keinen Sinn fortzufahren, solange der Junge ihm gar nicht zuhörte. »Sie wurde in diesem großen leeren Keller getötet, stimmt’s? Wir haben eine Mischung aus Schmutz und Kalk unter ihren Fingernägeln gefunden. Dann haben Sie sie in den Wald gebracht und sie wie ein Stück Müll weggeworfen.«

»Aufhören!« brüllte Adam. »Hören Sie sofort auf! Sie reden von Kates kleiner Tochter, verdammt noch mal!«

Craine versuchte es mit Suggestion, modulierte seine Stimme, tat mitfühlend. »Tut mir leid, daß ich Ihnen das noch mal zumuten muß. Ich weiß, Sie mögen Kate Pearson. Aber für sie ist alles noch schlimmer. Allein daran denken zu müssen, sich zu fragen, ob …« Er sah Adam traurig an. »Sie täten ihr einen Gefallen, endlich zuzugeben, was Sie getan haben, damit sie ihr Leben leben kann … das heißt, das, was davon übrig ist. Mr. Shepherd schüttelt den Kopf.«

Craine musterte Shepherd prüfend. Die Warnzeichen waren wieder da. Er atmete unregelmäßig und war den Tränen der Verzweiflung nahe. Sehen wir mal, wieviel er noch verkraftet, dachte Craine. Er setzte sich ein Limit von weiteren fünf Minuten.

»Ist nicht leicht für sie«, fuhr er fort. »Der Gedanke daran, was Sie mit ihrem kleinen Mädchen gemacht haben. Sie so liegen zu lassen … das Gehirn überall verspritzt, die Augen weit aufgerissen, die Käfer, die ihr übers Gesicht krabbeln.«

»Gütiger Himmel!« stöhnte Adam. Ihm war übel.

»Kate hat Ihnen vertraut. Sie hat Sie in ihre Wohnung gelassen. In ihr Leben. Sie sind zusammen zum Bowling gegangen. Sind mit ihr und Melanie Rollschuh gelaufen. Und die ganze Zeit war der Gedanke da … im Unterbewußtsein. Aber sie haben Sie in Ruhe gelassen. Ein kleiner Trost, möchte ich meinen.«

Adam preßte die Augen zu.

»Natürlich halten die Seelenklempner Sie für einen Pädophilen. Es gibt da diese gewisse Theorie.« Er wartete, bis Adam die Augen aufschlug. Der Junge schwitzte jetzt, wischte sich mit zitternder Hand übers Gesicht. »Impotenz«, sagte Craine und zog die Mundwinkel herunter. »Diese Quacksalber! Schätze, es wäre nicht verwunderlich nach allem, was sie mit Ihnen gemacht haben.« Er zwinkerte Adam zu. »Ich meine in Withenstop.« Er beugte sich vor und blies Adam seinen Atem ins Gesicht. Er roch nach Kaffee und Nikotin. »Ich meine, Billy Kinsella galt schließlich nicht umsonst als der ›Schwanz vom Dienst‹ in Ihrem Trakt, was?« Adam zuckte zusammen, als sei er geschlagen worden. Craine grinste, als erwarte er, daß Adam sich mit ihm über einen gelungenen Witz amüsiere. »Also, was mich betrifft, möchte ich gern glauben, daß Sie sie … wie lautet der korrekte Ausdruck … als Virgo intacta zurückgelassen haben. Aus Entsetzen über Ihre Tat. War es so, Adam? Als Sie gesehen haben, was Sie mit dem kleinen Mädchen gemacht hatten, ist Ihnen da schlecht geworden?«

Adams Kinnmuskeln zuckten.

Zwei Minuten.

»Aber die Seelenklempner bezweifeln, daß Sie überhaupt zu soviel Mitgefühl fähig sind. Sie glauben, da stecke was anderes dahinter. Was völlig anderes. Aber das kann ich nicht beurteilen. Ich bin kein Experte. Ich kann nur weitergeben, was die Medizinmänner so reden. Die meinen nämlich, Kate sei Schuld an Ihrer … Impotenz. Bei ihr sind Sie abgeblitzt. Sie hat Sie einfach ignoriert. Und wenn Kate Pearson Sie gelegentlich beachtet hat, dann nur, um Sie einzuschüchtern, Sie niederzumachen. Sie hat Sie öfter in der Öffentlichkeit bloßgestellt. Ja, wir haben mit Ihren Kollegen im Büro gesprochen. Kate Pearson hat eine sehr spitze Zunge.«

Adam zuckte mit den Schultern.

»Unsere Psychoheinis behaupten, Sie seien ganz heiß auf die gute Kate gewesen, aber dieses ständige Genörgle und Gezicke … Sie kennen die Frauen. Sie hat Ihnen das Gefühl gegeben, ein Stück Scheiße zu sein.« Er hatte seine letzten Worte mit Bedacht gewählt und die nötige Geringschätzung hineingelegt.

Adam starrte den Inspektor haßerfüllt an.

»Hübsches kleines Mädchen, diese Melanie«, wechselte Craine abrupt das Thema. »Als sie noch am Leben war, meine ich. Dunkelhaarig und große Augen. Beine bis unter die Achseln. Für ein Kind gut gebaut. Wissen Sie, was die Psychologen meinen? Sie wollten ihre Mutter ficken, aber die hat Sie nicht gelassen. Also haben Sie das Kind genommen. War weniger riskant. Aber nicht mal bei der Kleinen konnten Sie einen hochkriegen.«

Adam stürzte sich auf Craine.

Der Polizist bewegte sich überraschend schnell und wendig und landete einen linken Haken mitten in Adams Gesicht. Adam sah Sterne. Er lag auf dem Boden. Seine Nase blutete.

»Schwein!« keuchte er. »Gemeines Schwein! Ich habe sie nicht angerührt. Niemals.« Er schluchzte. »Ich habe Melanie nie etwas getan. Ich habe niemandem je etwas getan.«

Dreieinhalb Minuten, dachte Inspektor Craine mit einem Blick auf die Uhr. Kein schlechtes Ergebnis.