Der Nachmittag war angebrochen, als Peter den Schlüsselbund in die Schale auf der Dielenkommode warf und nach Maren rief.
Sie war nicht da. Oder steckte sie im Badezimmer? Manchmal duschte sie bei laut aufgedrehter Musik und würde nicht einmal bemerken, wenn das Haus um sie herum einzustürzen drohte. Aber auch dort war niemand.
Peter trat auf den Hof hinaus. Vielleicht saß Maren mit seinen Eltern zusammen.
Er betrat das Haupthaus und schaute in die Küche. Der Küchentisch war leer und aufgeräumt. Ein Blick ins Wohnzimmer sagte ihm, dass sich auch hier keine Menschenseele befand. Er wollte gerade wieder kehrtmachen, als sein Blick auf die Bücherwand fiel. Der Schmöker über die Weltkriege stand ganz links. Peter ging hin, nahm sich das Buch und setzte sich auf das alte Ledersofa. Im Index war das Wort Fortsetzungskrieg nicht zu finden, aber unter Finnland gab es verschiedene Verweise.
Nach einer knappen halben Stunde klappte Peter das Geschichtsbuch kopfschüttelnd zu und stellte es zurück. Nun war ihm zumindest klar, wo sich die Einheit seiner Träume befand und zu welchem Zweck sie dort war. Zwei kleine Antworten im Puzzlespiel der großen Unbekannten. Sein Gaumen fühlte sich trocken an. Ihm war nach einem Bier, auch wenn die Sonne noch am Himmel stand.
Maren war noch immer nicht aufgetaucht. Jetzt war es gut so. Seine Freundin konnte sich ziemlich anstellen, wenn er am Nachmittag Lust auf ein Bier verspürte. Dabei kam das nur ein paar Mal im Monat vor.
Peter öffnete die kalte Flasche aus dem Kühlschrank, trank und seufzte zufrieden.
Eine gute halbe Stunde später erschien Maren endlich an der Schwelle zum Wohnzimmer. Dass sie über seinen frühen Alkoholkonsum nicht begeistert sein würde, war ihm ja schon vorher klar gewesen. Dass Maren sich aber einfach wortlos umdrehen und den Raum wieder verlassen würde, hätte Peter dann allerdings doch nicht gedacht.
Vielleicht nahm sie ihm die zweite geöffnete Flasche übel? Es wäre wohl schlauer gewesen, die erste Buddel gleich wieder in der Getränkekiste verschwinden zu lassen, anstatt schutzlos und sichtbar auf dem Wohnzimmertisch zu platzieren.
Peter wollte sich gerade erheben und sich in aller Form entschuldigen, als Maren plötzlich erneut im Türrahmen auftauchte. Er staunte nicht schlecht, als sein Blick auf die Bierflasche in ihrer linken Hand fiel.
»Das war eine gute Idee.« Erschöpft ließ sich Maren neben ihm auf das Sofa fallen und warf den Kopf in den Nacken, während ihre Lippen den Flaschenhals umspielten. Schaum lief ihr aus dem Mundwinkel, als sie das Getränk wieder absetzte.
»Manchmal überrascht du mich noch«, stellte Peter grinsend fest.
»So soll es auch sein. Eine Partnerschaft, in der es keine Überraschungen mehr gibt, ist tot.«
»Aber du hast deine Prinzipien.«
Maren betrachtete die Bierflasche in ihrer Hand und zuckte mit den Schultern.
»Das Frühstück ohne dich war die Hölle.«
»So schlimm?«
»Schlimmer!«
Maren griff in seine Haare, massierte seine Kopfhaut und erzählte von Lackners Ausraster.
»Der Kerl hat sich vielleicht aufgeführt, als er hörte, wohin du unterwegs bist.«
»Und meine Eltern?«
»Schwer zu sagen. Ihnen war dein plötzlicher Besuch im Heim wohl auch nicht recht, aber sie gingen immerhin nicht gleich in die Luft. Warum hat sich dieser Greis dermaßen aufgeregt?«
Sie setzte die Flasche ein weiteres Mal an. Peter war ehrlich erstaunt, als Maren den ganzen Rest des Gerstensaftes in sich hineinkippte.
»Alle Achtung«, sagte er und zeigte auf die vom Schaum feuchte Flasche. »Das nächste Pils musst du aber ein wenig langsamer trinken, denn ich habe ebenfalls etwas herausbekommen.«
»Danke, eins reicht mir«, antwortete Maren und lächelte leicht, während ihre Hand jetzt sanft über seinen Nacken strich. »Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht ohne Ergebnisse zurückgekommen bist. Warum sonst solltest du hier auf dem Sofa sitzen wie einer der Bauern, der dabei ist, Haus und Hof zu versaufen.«
»Ganz so schlimm ist es nicht«, versuchte Peter, sich zu rechtfertigen. »Es waren nur zwei Bier.«
»Und wie viele Flaschen hast du bereits zurück in die Kiste gestellt?«
»Keine natürlich. Auf was für Ideen du immer kommst.« Maren verzog den Mund und nickte nur.
»Also?«
»So langsam bekomme ich wirklich Angst«, sagte Peter nun fast flüsternd und erzählte vom Finnlandkrieg, Hauptmann Wissenhagen und den Verletzungen seines Opas.
»Wie kann ich wissen, was sich damals zugetragen hat? Das kann ich nicht wissen.«
»Das kann nur dein Opa wissen.«
»Und dennoch träume ich davon.«
»Dieser Fortsetzungskrieg hat also wirklich stattgefunden?« »Genau. Es gab 1940 den finnisch-sowjetischen Winterkrieg. Die Sowjetunion hat die damals baltischen Staaten gezwungen, der Sowjetunion beizutreten, und Finnland sollte das gleiche Schicksal erleiden. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, sind die Sowjets einfach in den nördlichen Teil Finnlands einmarschiert. Nach einer brüchigen Waffenruhe fing im Jahre 1941 der Fortsetzungskrieg an, in dem Finnland seinerseits die Sowjetunion angriff, mit massiver Unterstützung der deutschen
Wehrmacht. Die Sowjetunion war ja der erklärte Feind beider Länder.«
»Warum wurde Finnland dann nicht von der UdSSR besetzt, als der Krieg sich dem Ende neigte?«
»Tja, das ist eine der verrückten Geschichten des Zweiten Weltkrieges. Als die Finnen sahen, dass die Russen langsam, aber beständig immer stärker wurden, haben sie im Sommer 1944 einen Waffenstillstand mit der Sowjetunion vereinbart und fortan gegen die Wehrmacht Krieg geführt. Aus Waffenbrüdern wurden gewissermaßen über Nacht Feinde.«
»Aber in deinen Visionen sind die Soldaten noch friedlich vereint?«
Peter dachte an den blonden, langen Mann, der ihm die Hand gereicht hatte und nickte.
Maren gab einen lang gezogenen Seufzer von sich und schaute sehnsüchtig auf die leeren Bierflaschen.
»Wie war deine Oma eigentlich drauf?«
»Sie ist erstaunlich fit. Auf alle Fälle kein Pflegefall, den man einfach in ein Heim abschieben sollte.«
»Hat sie nach deiner Mutter gefragt?«
Erstaunt sah Peter seine Freundin an. »Nein, mit keinem Wort.
Warum fragst du?«
»Als Lackner weg war, lief dein Vater ihm hinterher. Ich war endlich mal mit deiner Mutter alleine, und wir konnten uns ungestört unterhalten.«
»Worüber?«
»Darüber, warum in eurer Familie so viel in Schutt und Asche liegt. Wusstest du eigentlich, dass du als Kind für einige Tage einfach verschwunden warst? Entführt gewissermaßen?«
Maren erzählte ihm von den damaligen Ereignissen und schaute ihm anschließend fragend in die Augen. Als Peter ein tiefes Brummen ausstieß, verformte sich ihr Mund zu einer missbilligenden Grimasse.
»Du hast nichts davon gewusst.«
»Nein«, bestätigte Peter. »Meine Eltern haben das nie erwähnt.«
»Deine Mutter jedenfalls war so erbost über deine Oma, dass der Kontakt kurze Zeit später vollkommen abbrach.«
»Jetzt wird mir einiges klar«, stöhnte er und rieb sich über die Wange.
Maren zog ihn zu sich und umarmte ihn fest. Seine Nase berührte die Haut ihrer Oberarme. Wie gut sie roch. Ihre Hände griffen sanft, aber bestimmt in seine Haare und drückten seinen Kopf auf ihren Schoß. Peter schaute in ihr Gesicht, welches sich nun direkt über seinem befand.
»Ob mein damaliges Verschwinden und meine Visionen miteinander zusammenhängen?«, fragte er leise.
Seine Freundin spitzte kurz die Lippen.
»Wie soll das denn gehen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du hast die Visionen doch erst seit einigen Tagen. Und es waren ja auch nur zwei.«
»Trotzdem habe ich während dieser Phasen genug erlebt. Das kannst du mir glauben.«
Peter seufzte erneut. Es gab keine vernünftige Erklärung für das alles. Und genau das war es, was ihn so schrecklich ängstigte.
Maren senkte den Kopf und gab ihm einen langen und intensiven Kuss.
Marens Küsse hatten ihn auf andere Gedanken gebracht. Ungeduldig stand Peter in der Küche und schenkte sich eine Cola ein. Der perlende Schaum floss über den Rand und machte die Tischplatte klebrig. Doch das war ihm momentan egal. Er wollte so schnell wie möglich wieder zurück ins Wohnzimmer, zurück zu Maren.
Im Augenwinkel fiel ihm der fette Schmierfleck auf dem Spiegel im Flur auf. Peter blieb stehen, nahm das saubere Papiertaschentuch aus der Hose und rubbelte auf dem Fleck herum. Fingerabdrücke auf Scheiben und Spiegeln konnte er überhaupt nicht leiden. Vielleicht war das eine Mitgift seiner Mutter. Hannelore fing ebenfalls sofort an zu putzen, wenn ihre Augen Schmutz erblickten. Bei ihm beschränkte sich dieser Fimmel glücklicherweise auf Dinge, in die man hineinschauen oder aus denen man hinausschauen konnte.
Der Fleck war fast verschwunden, als ihm auffiel, dass das Kristallglas plötzlich stumpfer wurde. Und zwar nicht nur dort, wo die Schmiererei gerade noch geprangt hatte, sondern auf der gesamten Breite.
Es sah aus, als wäre im Spiegel unvermittelt schwerer Nebel aufgezogen. Seine Gestalt verschwamm und war unmittelbar danach lediglich noch als vager Umriss zu erkennen.
Dann kam die Kälte und fiel ihn an wie ein hungriges Raubtier.
Einen Moment glaubte Peter, Eiskristalle auf dem Glas zu sehen. Filigrane, feine Muster, die auftauchten und gleich darauf wieder verschwanden.
Der unheimliche Nebel löste sich ebenso schnell auf, wie er gekommen war.
Ihm wurde schwindelig, und er senkte den Blick.
Als Peter das Spiegelbild seiner Schuhe erblickte, kroch ein heiseres Stöhnen über seine Lippen. Es waren staubige Stiefel, deren besseren Tage schon längst vorüber waren. Langsam hob Peter den Kopf und betrachtete die graue Hose aus dem groben Stoff, die an unzähligen Stellen aufgerissen war und die in Höhe der Kniescheiben dunkle, beinahe schwarze Flecken aufwies.
Sein Blick glitt weiter hinauf. Die Farbe seiner Uniformjacke konnte vor Urzeiten als grau durchgegangen sein. Inzwischen jedoch hatte das Kleidungsstück einen ungesunden DunkelbraunTon angenommen, erneut gemischt mit zahlreichen schmierigöligen Klecksen.
Peter spürte das große Verlangen, sich einfach abzuwenden. Doch es war bereits zu spät. Wie von selbst wanderten seine Augen nach oben und fixierten das Gesicht im Spiegel.
Sein Großvater musterte ihn ohne besonderes Interesse. Wilhelm wirkte wie am Ende seiner Kräfte. Seine Wangen waren eingefallen, die Stirn schmutzverkrustet. Die aufgerissenen Lippen versuchten sich an einem müden Lächeln, das mehrere abgesplitterte Zähne zum Vorschein brachte. Wilhelm schwankte leicht, obwohl Peter vollkommen regungslos vor dem Spiegel stand.
Dann verzerrte sich das Bild seines Opas.
Die Konturen begannen zu zerlaufen. Kurz hatte Peter das Gefühl, durch ihn hindurchsehen zu können.
Als die Umrisse wieder klarer wurden, hatte sich das Aussehen der Gestalt verändert.
Einen Augenblick lang schaute Peter fassungslos auf das hagere Antlitz, welches ihn mit glühend roten Augen anstarrte.
Diese schmierigen, zu langen Haare.
Diese spitze Nase.
Es war das Gesicht des Hauptmannes. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, fing der Hauptmann plötzlich an zu lachen. Die Fratze im Spiegel bleckte die Zähne wie ein tollwütiger Hund, und ein unangenehmes Dröhnen erfüllte den Flur.
Panisch wandte Peter sich ab. Das Lachen verstummte nicht. Peter machte einen unsicheren Schritt zur Seite und merkte, wie seine Beine taumelten. Er versuchte noch, das Gleichgewicht zu halten, aber es war bereits zu spät. Wie ein gefällter Baum fiel er vornüber.