18

Karl Gustav schlich hinter dem Schuppen entlang. Auch wenn er längst nicht alles verstanden hatte, so reichte das Gehörte doch, um seine Laune noch tiefer in den Keller zu befördern. Er erinnerte sich kaum mehr an dieses Putzweib. Stollwerk. Dorothea Stollwerk. Aber sie schien sich gut an ihn zu erinnern. Karl Gustav umklammerte den Stamm einer mickrigen Birke, die wild aus der dreckigen Erde vor der Schuppenwand spross. Seine Hände drückten zu, und die grünen Adern traten aus seiner schrumpeligen Haut. Er hätte damals kurzen Prozess machen sollen. Keine Zeugen. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Wieder eine verpasste Gelegenheit.

Er ließ vom Ast ab. Alles wäre anders gekommen, wenn ihm dieser Junge nicht im letzten Moment entkommen wäre. Es brodelte noch immer in ihm, wenn die Erinnerung an diesen Tag hochkam.

Die Tür des Schuppens stand offen. Es war niemand in der Nähe. Peter und sein Flittchen waren irgendwo unten beim See.

Wolfgang schien wieder ins Haus gegangen zu sein.

Karl Gustav trat ein. Es roch vermodert. Wahrscheinlich hatten die ganzen alten Sachen, die Wolfgang vorhin rausgeschmissen hatte, schon Schimmel angesetzt. Sein Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand. In der Tat konnte er sich nicht erinnern, jemals so viel von dieser öden Wand gesehen zu haben. Da hatte wirklich eine Menge Zeug davorgestanden. Sein Blick fiel auf vergilbte Papierfetzen, die hier aus irgendeinem Grund noch herumlagen.

Das Bild von Dorothea tauchte wieder vor seinem geistigen Auge auf, und das von Wilhelm, der fröhlich pfeifend den verschlissenen Lederkoffer packte.

Plötzlich wurden seine Beine schwer. Mit einem lang gezogenen Seufzer ließ er sich gegen die frisch freigeräumte Wand fallen. Sie war spakig und feucht, aber das war jetzt egal. Die Erinnerung hatte ihn übermannt.

Wilhelm schrie fast, als er den nun wirklich nicht großen Koffer neben das Bett stellte.

»Scheiße, mir tut alles weh«, knurrte er wütend. »Nicht einmal richtig heben kann ich noch.«

Karl Gustav wollte etwas Tröstliches sagen, aber ihm fiel nichts ein. Der Körper seines Gefährten hatte in den letzten Jahren erstaunlich schnell abgebaut. Dabei war Wilhelm gerade einmal Anfang fünfzig. Ein Alter, bei dem für manche der Spaß erst anfing. Aber nicht für ihn. Dafür hatte ihn der Krieg zu sehr gezeichnet.

Sicher, Wilhelm hatte keinerlei spektakuläre Verletzungen vorzuweisen. Keine fehlenden Gliedmaßen, wie andere Männer seiner Generation, die man überall auf den Straßen herumhumpeln sah. Er hatte noch alle Sinne beieinander, und sein Gehirn arbeitete einwandfrei. Das war nicht selbstverständlich. Es gab etliche Leute, die hatten selbst noch dreißig Jahre nach Kriegsende verstörende Psychosen oder waren schlicht und einfach geisteskrank geworden, ohne Aussicht auf Genesung. Dafür hatte es Wilhelm ganz gut getroffen. Dennoch, seine unzähligen kleinen und mittelschweren Verletzungen summierten sich zu einem nie abflauenden Schmerzensfluss. Gerade an Tagen wie heute, bewölkt und leicht regnerisch, konnte man das Elend, das in seinem Körper wohnte, fast spürbar greifen. Nicht nur, dass Wilhelm ausschließlich unter Qualen auf seinem rechten Bein gehen konnte, er wirkte auch völlig ausgelaugt. Seine Haut war eingefallen, und selbst die Muskeln seiner Arme versagten ihm den Dienst.

Karl Gustav legte den Kopf schief und beobachtete, wie Wilhelm den Koffer an die Tür schob. Natürlich hätte man ihm helfen können, aber so weit ging ihre Freundschaft nicht. Im Grunde genommen war es ja nicht mal eine echte Freundschaft, die da zwischen ihnen bestand. Eher so eine Art Zweckgemeinschaft.

Wenn er seinen Partner in dieser Verfassung betrachtete, fühlte Karl Gustav sich gleich noch mal so jung. Nicht, dass der Krieg seinem Körper weniger angetan hatte, doch er kam halt besser damit zurecht.

Wilhelm öffnete die Zimmertür und schaute ihn auffordernd an.

»Was ist? Mach los. Ich kann es gar nicht erwarten, aus diesem verschissenem Körper zu kommen.«

Karl Gustav gab ihm ein paar Minuten Vorsprung. Wilhelm schwitze schon hier oben wie ein Eisbär in der Sahara. Bestimmt hatte er sich bis aufs Blut verausgabt, wenn dieser dusselige Koffer endlich ins Auto geschafft war.

Sein Blick irrte in dem kleinen Zimmer mit dem viel zu schmalen Bett umher. Ihm wollte noch immer nicht in den Kopf, warum Wilhelm hierhergezogen war. Was sprach gegen den Hof? Der Dummkopf hätte bis heute bequem bei seiner dämlichen Alten bleiben können.

Mit Herta wären sie schon fertig geworden.

Trotzdem war es Wilhelm lieber gewesen, in diese Pension zu ziehen. Er hatte Angst, dass seine Frau oder seine Tochter hinter den Plan kommen könnten.

»Hier stört uns niemand bei den Vorbereitungen«, hatte Wilhelm immer wieder gesagt.

Vielleicht hatte der alte Kämpfer in dieser Hinsicht sogar recht. Wo hätten sie das Baby verstecken sollen, wenn deren Mutter und Oma ständig in der Nähe gewesen wären?

Karl Gustav warf einen letzten flüchtigen Blick auf das kleine Waschbecken, welches einen langen Schritt neben dem Bett angebracht war, und verließ schließlich das Zimmer. Fehlte noch, dass er sich die Hände schmutzig machen musste, nur weil Wilhelm den Koffer nicht ins Auto gewuchtet bekam. Aber mittlerweile dürfte alles erledigt sein. Er ging die Treppe herunter.

Der alte graue Opel parkte direkt vor dem Eingang. Wilhelm beugte sich auf der Beifahrerseite ins Auto und schien irgendetwas zu verstauen. Sein Keuchen war bis hierher zu hören. Karl Gustav musste unwillkürlich lächeln. Als er ins Freie trat, fiel sein Blick auf die zweite Gestalt, die schräg hinter dem Auto stand. Das scharfe Hausmädchen. Er lächelte Dorothea mit weit geöffnetem Mund an.

»Na, geht es jetzt endlich los?«, fragte Dorothea.

»Ja, nun geht es los«, trällerte er, nahm ihre Hand und hauchte ihr einen Kuss darauf. »Finnland, wir kommen.«

»Fahrt ihr gleich von hier weg?«

»Einen klitzekleinen Umweg müssen wir noch machen«, sagte Wilhelm, der inzwischen wieder aus dem Auto gekrochen war und sich gemächlich in eine aufrechte Stellung zu bringen versuchte. Er blinzelte Karl Gustav verschwörerisch zu.

Auch Karl Gustav konnte es kaum erwarten, endlich den Kinderspielplatz zu erreichen.

Apropos Kinder.

Er senkte seinen Kopf und schaute ins Innere des Wagens.

Nichts zu sehen.

»Wo hast du das Balg?«, fragte er leise.

»Im Kofferraum«, flüsterte Wilhelm. »’ne halbe Beruhigungstablette und die Sache war gegessen.«

Sein Kamerad lachte mit der unverwechselbaren tiefen Stimme, und es dauerte nicht lange, bis Karl Gustav mit einstimmte. Sie hörten erst wieder auf, als Dorothea sich von ihnen verabschiedete und zurück in die Pension schlenderte.

»Willste mal sehen?«, fragte Wilhelm verschwörerisch und fuhr mit dem Zeigefinger seinen Hals auf und ab.

»Das Balg? Klar!«

Die Männer gingen zum Kofferraum. Wilhelm drückte auf den silbernen Knopf. Die schwere Heckklappe sprang einen Millimeter weit nach oben, und Wilhelm wuchtete sie auf.

Zuerst konnte Karl Gustav überhaupt nichts Interessantes entdecken. Es sah schmuddelig wie eh und je darin aus. In der Mitte lagen der Koffer und ein paar alte Gummistiefel, deren Profile vor Dreck nur so strotzten. Inzwischen hatten sie den gesamten Boden vollgekrümelt. Überall flogen Erdklumpen herum. Auf der linken Seite dieses Durcheinanders stapelten sich die schmutzigen Einkaufstüten, die Wilhelm, aus welchen Gründen auch immer, hortete. Vielleicht rechnete sein Kumpel damit, dass es bald zu einer akuten Plastiktütenverknappung kommen würde. Dann wäre er allerdings fein aus dem Schneider.

Plötzlich nahm Karl Gustav aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf der anderen Seite wahr. Dort lag ein Korb mit Zeitungspapier. Eine winzige Hand erschien zwischen den Zeitungen und wurde gerade nach oben gereckt.

»Gutes Versteck, oder?«, freute sich Wilhelm. »Das Kind scheint langsam wieder munter zu werden. Zeit, dass wir die

Biege machen.«

Karl Gustav legte den Kopf schief und linste in die zerknüllten Zeitungsseiten. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar Teile des Gesichtes sehen. Die Nase schob sich wie eine deformierte Münze zwischen zwei Schlagzeilen hindurch. Ein geschlossenes Augenlied befand sich nicht weit daneben.

»Erstickt es nicht?«

»Kaum«, gab Wilhelm gut gelaunt zurück. »Hab noch nie gehört, dass jemand durch die BILD erstickt ist.«

Wilhelm stieß Karl Gustav an die Schulter und brach in brüllendes Gelächter aus. Auch Karl Gustav kamen vor Lachen schon bald die Tränen.

Der Korb fing einmal zu vibrieren an.

»Wir dürfen nicht so laut sein«, stellte Karl Gustav jauchzend fest. »Das Balg wacht auf.«

Noch bevor Wilhelm zu einer Antwort ansetzen konnte, hörten sie plötzlich eine Frauenstimme hinter sich.

»Was habt ihr denn da bloß so Lustiges im Kofferraum?«, fragte Dorothea und streckte ihren Hals, um besser an den beiden Männern vorbeisehen zu können.

Geistesgegenwärtig schlug Wilhelm die Klappe herunter. Das Blech rumste derart kraftvoll ins Schloss, dass der ganze Wagen wackelte.

»Mein Gott, hast du uns erschreckt«, stammelte Wilhelm und grinste nervös. Jegliche Heiterkeit war auf einen Schlag von ihm gewichen.

Dorothea bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. Dann wandte sie sich an Karl Gustav und hielt ihm einen Plastikteller unter die Nase.

»Hatte ich fast vergessen«, säuselte sie leise. »Ein Abschiedsgeschenk. Für dich. Ist ein Kuchen.«

Karl Gustav fixierte das gut in Zellophanfolie gewickelte, längliche Teil. Kuchen war ihm zuwider. Dennoch rang er sich ein Grinsen ab, zumal unmittelbar in dieser Sekunde ein Geräusch unter dem Kofferraumdeckel zu hören war.

»Furchtbar lieb von dir, Doro-Schatz«, sagte er und griff nach dem Teller.

»Wir sind spät dran«, rief Wilhelm und öffnete hastig die Fahrertür. Er hatte das Glucksen des Balges also auch gehört.

Karl Gustav drückte dem Hausmädchen einen Kuss auf die Wange und stieg ein.

»Ich melde mich wieder, versprochen.«

Wilhelm gab Gas, und Karl Gustav hatte gerade noch Zeit, sich über Dorotheas verstörten Gesichtsausdruck zu wundern, während sie ihnen hinterhersah.

»Die sind wir los«, sagte Wilhelm vergnügt.

Karl Gustav brummte.

»Wir hätten Doro zum Abschluss noch mal so richtig verhauen sollen.«

»Ich habe heute Schmerzen bei jeder Bewegung«, antwortete Wilhelm zerknirscht. »Außerdem müssen wir noch etwas anderes erledigen. Wir brauchen ein Baby für dich.«

»Kennst du den Weg zu diesem großen Spielplatz?«, fragte Karl Gustav und drückte sich in seinen Sitz. Er blickte kurz hinter sich und sah den verhüllten Kuchen auf dem Teller neben einer Windel liegen. Ihm lief ein weiterer kalter Schauer über den Rücken. Das hätte eben gewaltig schiefgehen können. Zum Glück war das Hausmädchen nicht besonders helle. Sonst hätte sich ihr Plan um einiges in die Länge gezogen. Sie hätten Dorothea in den Wagen zwingen müssen. Dann hätten sie erst einmal Ausschau nach einem verlassenen Ort halten müssen, an dem sie diese neugierige Kuh ungestört umbringen konnten. Natürlich erst, nachdem Dorothea von ihnen ordentlich verprügelt worden wäre. Es machte unheimlich viel Spaß, Weiber windelweich zu schlagen. Das kam gleich nach Sex mit ihnen zu haben. Manchmal sogar noch davor.

Karl Gustav grinste bei dieser Vorstellung. So gesehen war es ja geradezu schade, dass das Hausmädchen nichts herausbekommen hatte. Er stellte sich genüsslich vor, wie das Gesicht der Frau an verschiedenen Stellen aufplatzte. Vielleicht wäre es ihm gelungen, ihr ein paar Zähne auszuschlagen. Das war nämlich schwieriger, als man allgemeinhin annahm.

Jemand knuffte ihn an die Schulter.

»Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?«, fragte Wilhelm ärgerlich. »Wir müssen uns konzentrieren, wenn wir ein weiteres Balg stehlen wollen. Hast du mir überhaupt zugehört?« »Ja«, antwortete Karl Gustav zerknirscht. Wie ihm diese Besserwisserei auf den Geist ging. Als ob Wilhelm jemals auch nur annährend so fabelhafte Ideen gehabt hätte.

Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Erst als der Opel in eine enge Kopfsteinpflasterstraße einbog, seufzte Wilhelm laut.

»Hoffentlich schläft Peter noch ein Weilchen. Wir können jetzt keinen Radau aus dem Kofferraum gebrauchen.«

»Hau das Balg einfach bewusstlos«, schlug Karl Gustav vor.

Wilhelm sah ihn erschrocken an.

»Bist du verrückt?! Wenn da etwas zurückbleibt. Damit schade ich doch nur mir!« Er hielt am Straßenrand an und zeigte auf eine Gruppe Büsche. »Dort hinten ist der Spielplatz. Ist immer was los da.«

Karl Gustav knurrte und öffnete die Beifahrertür. »Hoffentlich stimmt das. Ich kann noch kein Geschrei hören.«

Er stieg aus und schaute sich um. Weiter unten an der Straße standen protzige Einzelhäuser mit weitläufigen Gärten. Auf ihrer Höhe schlängelte sich eine Wiese durch die Landschaft, die ein Stück oberhalb in einen Park mit mächtigen Bäumen überging.

Genau dort, am Anfang des Parks, lag der Spielplatz.

Wilhelm hielt ihm eine braune Tüte hin.

»Hier die Bonbons.«

»Welche Bonbons?«

»Himmel, ich dachte, du hättest mir zugehört. Der Köder für die Zwerge, bevor ich meine Show abziehe.«

Karl Gustav griff nach der Tüte und verstaute die Bonbons in der Jackentasche. Warum sollte er Wilhelm zuhören? Längst hatte er selbst einen Plan ausgearbeitet. Und der bestand hauptsächlich aus Handlung. Nicht lange reden und Bonbons verfüttern. Er würde schnurstracks dahinspazieren, sich ein möglichst kleines Balg schnappen und zurück zum Auto wetzen.

So einfach konnte das sein.

Wilhelm würde hoffentlich schlau genug sein und im Wagen mit laufendem Motor warten.

Karl Gustav nickte seinem Partner kurz zu und machte sich auf den Weg. Als er die Hecke umrundete, drangen bereits quietschende Stimmen zu ihm herüber. Lachende Kinder waren wirklich so ziemlich das Nervigste, was es gab. Von besoffenen russischen Soldaten vielleicht einmal abgesehen. Seine Hände drückten einige Zweige eines kümmerlichen Laubbaumes beiseite. Jetzt konnte man den Spielplatz in seiner ganzen Größe einsehen.

Von wegen, hier war immer viel los. Vier traurige Gestalten turnten auf den Spielgeräten herum. Und drei davon waren schon fast einen Meter groß. Wie alt war man, wenn man sich als laufenden Meter bezeichnen konnte? Karl Gustav hatte keine Ahnung. Es interessierte ihn auch nicht die Bohne. Der Hauptmann hatte gesagt, je kleiner, desto besser. Wilhelm war mit dem Säugling fein raus. So ein Glück war ihm leider nicht beschert. Er schaute hinüber zu den Parkbänken, auf denen drei Mütter saßen und ausgelassen miteinander gackerten. Er hoffte, irgendwo noch einen Kinderwagen zu entdecken, aber da war keiner. Die Frauen hatten anscheinend keine Lust mehr, weitere Schreihälse in die friedliche Welt zu setzen. Karl Gustav knurrte enttäuscht und beobachtete wieder die Kinder. Der kleine Junge mit der hellgelben Jacke, der gerade von der Schaukel stieg, schien der Jüngste zu sein. Auf den würde er sich konzentrieren. Wichtig war, dass alles ganz schnell ging. Flinker als die dicken Muttis war er allemal.

Karl Gustav trat in den Sand und schlenderte auf den Jungen zu. Auf halber Strecke schaute die erste Mutter zu ihm hinüber.

Rennen war jetzt eine gute Idee. Das war im Spielsand jedoch schwieriger als gedacht. Dennoch hatte er den Jungen, der gerade auf ein albernes Schaukelpferd steigen wollte, nach wenigen Sekunden erreicht, schnappte ihn an der Taille und riss ihn in die Luft.

Im ersten Moment war das Kind so erschrocken, dass es überhaupt keine Anstalten machte, sich zu wehren. Das kam erst, als Karl Gustav den kleinen Körper wie einen alten Sack unter den rechten Arm klemmte.

»Ahhh!«, schrie der Wurm mit überschrillender Stimme.

Während sich Karl Gustav blitzschnell umdrehte, warf er einen letzten Blick zur Bank hinüber. Die Mütter glotzten, als wäre ihnen der Leibhaftige persönlich erschienen. Die Schlankste war tatsächlich bereits aufgesprungen.

»Komm nur«, kicherte er, als seine Füße den festen Boden der Büsche erreicht hatten.

Eine kleine Faust traf seine Nase. Dieser widerliche Bettnässer hatte ihm eine gepfeffert.

»Lass das«, schrie Karl Gustav so laut, wie es ging, und seine Hand klatschte in das aufgedunsene Gesicht des Jungen. Die Reaktion folgte prompt. Mit einer überschnappenden Stimme begann der Rotzlöffel zu schreien. Gleichzeitig zappelte das Kind, als würde es einen epileptischen Anfall bekommen. Seine Hände schlugen gegen Karl Gustavs Wangen und seine Brust, die Füße trafen ihn am Rücken.

Aber natürlich hatte der Zwerg nicht die geringste Chance. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Auto.

Zuallererst fiel ihm auf, dass der Motor nicht lief. Wilhelm konnte manchmal so ein Trottel sein. Als Karl Gustav die Tür aufmachen wollte, stellte er fluchend fest, dass abgesperrt war. Er duckte sich, um ins Innere sehen zu können. Dabei traf ihn der zappelnde Kopf des Balges.

»Scheiße.«

Zu allem Überfluss war das Auto auch noch leer.

»Wilhelm!«, schrie Karl Gustav und blickte sich suchend um.

Dann endlich tauchte der Spinner auf. Völlig verdaddert kam Wilhelm aus der anderen Richtung des Spielplatzes gelaufen.

Fast gleichzeitig drangen trippelnde Schritte und laute Hilfeschreie an sein Ohr.

Die drei Gänse hatten die Hecke erreicht.

Nun wurde es ernsthaft knapp.

Auch Wilhelm begann nun zu laufen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der alte Bauer die Situation richtig eingeschätzt hatte.

Die drei Furien würden kurz vor ihm am Auto sein.

Hektisch sah Karl Gustav sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Seine Aufmerksamkeit für den zappelnden Hosenscheißer ließ kurzzeitig etwas nach. Das nutzte dieser kleine Widerling unverzüglich aus. Karl Gustav spürte ein Brennen in seinen Fingern und realisierte dann erst, dass dieses dürre Monster ihn gebissen hatte.

Reflexartig hob er den Arm. Das Kind fiel der Länge nach auf den Bürgersteig. Aber anstatt sich ordentlich das Gesicht aufzuschlagen, gelang es dem Jungen, einen Meter weit zur Seite zu robben und im nächsten Augenblick mit einer affenartigen Geschwindigkeit aufzustehen.

Das Kind plärrte aus vollem Halse, als es auf die drei Gänse zulief. Karl Gustav hielt sich den in Mitleidenschaft gezogenen Finger und fluchte laut. Sekunden später schloss Wilhelm den Opel auf.

»Steig ein!«, rief er hektisch.

Einen Moment überlegte Karl Gustav, ob er dem Jungen hinterherrennen sollte, aber er sah, dass es keinen Zweck haben würde. Der Kleine hatte seine Mutter bereits erreicht. Die Frauen begrapschten ihn von allen Seiten und kleisterten sein Gesicht mit Küssen zu. Wenigstens hatten sie die Verfolgung aufgegeben. Vorerst jedenfalls. Karl Gustav stieß ein paar Flüche aus und stieg dann ein. Als Wilhelm Gas gab und der Opel mit rauchenden Reifen davonfuhr, konnte er im Seitenspiegel erkennen, wie eine der Gänse etwas auf einen Zettel notierte.

»Wir müssen ganz schnell Land gewinnen«, stellte Wilhelm nervös fest und fingerte erneut auf seiner Nase herum.

Dem war wahrlich nichts hinzuzufügen.

Erst viel später, als sie von Dänemark aus eine Fähre nach Schweden genommen hatten und an der Bar des Schiffes saßen, fragte Karl Gustav säuerlich, warum sich Wilhelm ausgerechnet die Beine vertreten musste, als er mit dem Kind ankam.

Sein Partner schaute ihn mit großen Augen an.

»Weil das unser Plan war«, gab Wilhelm kopfschüttelnd zurück. »Habe ich doch erklärt, als wir losfuhren. Ich täusch den Herzinfarkt vor, alle kümmern sich um mich und du schnappst währenddessen einen der Zwerge, die um deine Bonbontüte herumstehen. Der Kofferraum war nicht abgeschlossen. Hättest ihn zu Peter legen können. Dann wärst wieder zurückgekommen.

Hätte bestimmt wunderbar geklappt.«

Karl Gustav stürzte sein viel zu teures Bier hinunter.

»Das hast du dir alles auf der Fahrt ausgedacht?«, fragte er schlapp.

»Hab mir doch gedacht, dass du nicht zuhörst. Warst wie weggetreten.«

»In der Tat«, grunzte Karl Gustav, und das Bild eines durch den Fleischwolf gedrehten Hausmädchens tauchte in seinen Gedanken auf.

Oh wie würde es ihm gefallen, jetzt allein mit dieser Frau zu sein. Mit dieser oder irgendeiner anderen Schlampe. Ein Ventil für seine grenzenlose Wut wäre in diesem Moment genau das Richtige.

Er hatte versagt und würde ohne Balg vor den Hauptmann treten müssen.

War es im Schuppen dunkler geworden?

Karl Gustav konnte die Umrisse des schweren Motors nicht mehr deutlich erkennen. Sobald sich draußen auch nur die kleinste Wolke vor die Sonne schob, musste man hier drinnen das Licht einschalten. Die zwei Dachziegel, ehemals durchsichtig, jetzt nur noch vergilbt, ließen kaum Helligkeit hindurch.

Es wurde sowieso Zeit, aufzustehen.

Karl Gustav wollte sich gerade mit den Händen abstützen, um sich besser erheben zu können, als ein Geräusch an der Tür zu ihm herüberdrang.

Nun aber schnell. Fehlte noch, dass Wolfgang ihn hier auf dem schmutzigen Boden vorfinden würde. Die anderen hielten ihn doch eh nur für den durchgedrehten, senilen Alten.

Es klapperte erneut an der Tür.

Im nächsten Moment nahm er einen Schatten wahr. Die Umrisse einer Gestalt erschienen. Karl Gustav blinzelte mit zusammengekniffenen Augen. Er hatte die Tür geschlossen, und sie hatte sich noch keinen Millimeter bewegt.

Aber das war auch gar nicht nötig. Die Erscheinung kam einfach durch sie hindurch.

Ihm war klar, wer ihn da besuchte, noch bevor der Schuppen von einem gespenstisch roten Licht ausgefüllt wurde.

Der Hauptmann hatte seine Augen an, wie Wilhelm irgendwann einmal so trefflich bemerkt hatte.

»Die Zeit wird knapp«, flüsterte der Kommandeur eindringlich.

Karl Gustav hatte das Gefühl, als würde die Stimme direkt in sein Ohr hineinsprechen. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Den Hauptmann konnte man stets verstehen, denn seine Worte hörte man im Kopf. Der Hauptmann hatte Zugang zu seinem Innersten, jederzeit und überall.

»Wir werden Probleme bekommen«, wisperte die Gestalt. »Maren und Peter werden sie verursachen.«

Karl Gustav knurrte verächtlich und rotzte dann herzhaft auf den alten Asphaltboden. Er konnte sich nicht zurückhalten, es musste einfach sein.

»Diese spindelige Hure«, keifte er.

Der Hauptmann stand nun unmittelbar vor ihm. Das tiefe Rot blendete in den Augen. Karl Gustav senkte den Kopf. Fasziniert betrachtete er seine Spucke auf dem Boden. Hunderte kleiner Bläschen waren um eine einzelne, große gruppiert und schillerten im Licht der Augen in unzähligen Rottönen. Hatte er jemals etwas Schöneres auf der Welt gesehen?

»Die Zeit zum Handeln ist gekommen. Du musst Maren töten«, sagte der Hauptmann nun erstaunlich laut und mit einer Entschiedenheit, die ihn erschauern ließ.

»Das Weibsstück töten?« Karl Gustav ließ den Blick über seine schmutzigen Schuhe streifen. »Warum?«

»Maren beeinflusst Peter. Am Ende verlieren wir noch alles. Dann waren die Jahre umsonst. Dir geht dein Teil des Geschäftes durch die Lappen. Willst du dieses Risiko etwa eingehen?«

»Natürlich nicht.«

»Du hast fast dein ganzes Leben gewartet. Endlich nähert sich deine Erlösung, aber dieses Weib zerstört alles.«

Karl Gustav stand auf und trat mit dem Absatz gegen die

Wand. »Blöde Hure.«

»Maren muss sterben.«

»Sie muss sterben.«

Er schaute dem Hauptmann ins Gesicht und spürte die stechende Hitze, die von seinen Augen ausging. Niemand hielt diesem Blick länger als ein paar Sekunden stand.

»Mein Körper ist schwach«, sagte Karl Gustav kläglich.

Der Hauptmann hob die rechte Hand. »Geduld«, erwiderte er, während sich der unnatürlich dünne Zeigefinger in die Höhe streckte. »Bald beginnt dein zweites Leben.«

»Wilhelms hat immer noch nicht begonnen«, stellte Karl Gustav missmutig fest.

Der Hauptmann stieß einen Laut aus, der nicht im Entferntesten menschlich klag. So knurrten Hyänen, die sich um das letzte Stück Fleisch zankten.

»Peters Geist ist sehr stark. Es hat lange gedauert. Nun aber ist es bald so weit. Die Anzeichen sind unverkennbar.«

Karl Gustav atmete hektisch aus.

»Aber …«

»Noch heute wird sich die Gelegenheit für dich ergeben, Maren zu töten«, unterbrach ihn der Hauptmann.

»Heute schon?«

»Sei einfach in Marens Nähe. Ihr werdet allein sein.«

Schlagartig war die Hitze aus seinem Gesicht verschwunden. Der Hauptmann hatte sich umgedreht und ging langsam und anmutig auf den Ausgang zu. Karl Gustav war überzeugt, dass er auch einfach so hätte verschwinden können. Der Hauptmann konnte erscheinen, wo immer es ihm passte. Dazu bedurfte es keiner windschiefen Schuppentür. Dennoch war es ihm wichtig, den Anstand zu wahren, dort herauszugehen, wo er auch eingetreten war. Karl Gustav nickte anerkennend. Das hatte Stil, das war schneidig.

Plötzlich wurde das Licht wieder stärker. Der Hauptmann hatte sich noch einmal umgedreht.

»Führe deine Aufgabe gewissenhaft aus. Es ist sehr wichtig.«

Die Gestalt des Kommandanten glitt auf die Tür zu und war im nächsten Moment verschwunden. So, wie es aussah, hatte er sich diesmal nicht die Mühe gemacht, durch sie hindurchzuschweben. Vielleicht empfand er es als unangenehm? Karl Gustav schüttelte den Kopf. Es gab jetzt weiß Gott bedeutsamere Dinge, die seiner Aufmerksamkeit bedurften.

Etwas blitzte in der alten Holzverkleidung der Schuppenwand auf und blendete ihn. Erstaunt trat Karl Gustav näher. Dort, wo vorher das ganze Gerümpel gelegen hatte, ragte ein blanker, länglicher Gegenstand zwischen zwei Brettern hervor. Ihm war sofort klar, dass es sich um ein Messer handelte. Einen Augenblick schien es so, als würde das Messer von innen her leuchten. Es war, als wollte es in diesem dunklen Schuppen unbedingt gefunden werden. Sein Arm streckte sich nach der Waffe und zog sie aus einem Hohlraum hinter der Wand. Er kannte die Marke gut, solche Modelle gehörten zur Ausrüstung der Wehrmacht. Auch in seinem Gepäck damals hatte sich solch ein Messer befunden. An dem Tag, als sie beinahe in die russische Falle getappt wären, war es ihm abhandengekommen, zusammen mit noch einem Dutzend anderer wichtiger Dinge.

Sein Messer besaß eine hakenförmige Kerbe auf der rechten Spitze, die von einem Sturz herrührte, lange bevor es ihn nach Finnland verschlagen hatte. Karl Gustav hielt das Messer dicht vor die Augen. Die Kerbe war deutlich zu erkennen. Und das, obwohl die Klinge nun nicht mehr so geheimnisvoll glomm. Kein Zweifel, dies war sein Messer, sein treuer Gefährte auf so vielen Wegen. Der Hauptmann musste es gefunden und aufbewahrt haben.

Mit einem verzückten Ausdruck im Gesicht umklammerte Karl Gustav den Griff seines alten Helfers und stieß die Tür des Schuppens auf.