Brutal fail
Dashcam Car Crash compilation,
part 1
people falling from trees and so on …
(compilation)
part 7 :-)
Mittagshitze, denkt Mark Lederer. Zum ersten Mal wird ihm bewusst, dass das Wort wirklich zutrifft, dass es stimmt. Es gibt diese Hitze tatsächlich, eine Hitze, die nur der Mittag mit sich bringen kann.
Er läuft neben Christian, der gedankenverloren vor sich hin summt, eine Melodie. Das hat er noch nie gemacht, zumindest noch nie in Lederers Anwesenheit.
Ihre Blicke treffen sich, Christian lächelt. Offen, entspannt. Lederer spürt für Momente Freude darüber, dass Christian guter Dinge ist. Dann ist der Moment vergangen, auch Christian ist jetzt wieder konzentriert, betrachtet das parkähnliche Gelände, das vor ihnen ausgebreitet liegt, dahinter eine Reihe von Hochhäusern, Mark Lederer hört wieder ein Summen, aber es ist nicht Christian, es ist, als hätten die Sonne oder der weiche Wind die Melodie an sich genommen, in dem Moment, als Christian aufgehört hat zu singen.
Sie laufen weiter, passieren ein Schild, das schief in den Angeln hängt. Am roten Strand Seeblickcamping.
»Aha«, murmelt Christian.
Mark Lederer lässt seinen Blick schweifen, bleibt von Zeit zu Zeit an den vereinzelt stehenden Wohnwagen hängen. Aus der Ferne dringt Lachen herüber, das Platschen von Wasser. Irgendwo ist ein See, Kinder springen hinein, weder die Kinder noch der See sind zu sehen. Für Sekunden denkt Lederer, dass es nur Geräusche sind, die durch einen Lautsprecher dringen.
»Irgendwo hier ist ein See«, sagt er.
Christian nickt.
Dann stehen sie vor dem Haus. Die Fläche der Klingeln und Briefkästen nimmt mindestens zehn Quadratmeter ein, vermutlich leben hier mehrere Hundert Menschen. Lederer sieht hinauf, fokussiert das Klingelbrett. Vierzehn Stockwerke. Christian hat sich vorgebeugt, sucht den Namen der Frau, deren Hinweis sie verifizieren wollen.
»Im siebten Stock«, murmelt Lederer.
»Ah, okay«, sagt Christian. »Stimmt, hier ist sie.« Er klingelt. Die Stimme, die sich meldet, Sekunden später, klingt leise und brüchig. Christian nennt ihre Namen und den Grund ihres Besuchs, ein Surren, ein Klicken, Lederer schiebt die Tür nach vorn und dann stehen sie im Schatten des Hauses, in einem breiten Eingangsbereich, vor zwei Aufzügen.
Sie fahren nach oben, in den siebten. Die Frau steht schon auf dem Flur, als sie ankommen, winkt sie heran. »Kommen Sie, kommen Sie«, flüstert sie, als sei alles geheim, vertraulich.
»Mein Kollege, Mark Lederer. Ich bin Christian Sandner, von der Polizei in Wiesbaden«, sagt Christian. »Wir kommen wegen des Hinweises, den Sie …«
»Ja, kommen Sie, kommen Sie«, sagt die Frau. Sie ist schmal. Eher hager. Mark Lederer weiß, dass sie 68 Jahre alt ist, er hat sich vorbereitet. Kindergärtnerin in Rente. Margarethe Poulsen. Sie betreten die abgedunkelte Wohnung, ein schmaler Flur, ein kleines Wohnzimmer, rechts zweigt das Bad ab.
»Kommen Sie, setzen Sie sich«, sagt die Frau. Auf einem Tisch im Wohnbereich stehen Tassen und eine Kanne Kaffee bereit. Lederer fragt sich, woher der Nachname kommt, so weit hat seine Recherche nicht gereicht. War sie mit einem Dänen liiert? Wenn ja, wo ist er? Er schließt die Augen, versucht, sich zu erinnern. Sie ist geschieden, nicht verwitwet, geschieden.
»Setzen Sie sich«, sagt sie und meint ihn, Lederer, denn Christian hat sich schon auf das weinrote Sofa gesetzt.
»Frau Poulsen«, sagt er. »Wir kommen wegen des Hinweises, den Sie uns gegeben haben, es geht um den vermissten Jungen …«
»Jannis«, sagt sie.
Christian nickt.
»So nennen Sie ihn im Fernsehen. Jannis M.«
»Ja.«
»Meininger. Die Boulevardpresse hat den Namen ausgeschrieben.«
»Ja«, sagt Christian.
»Kaffee?«, fragt sie.
»Ja, gerne«, sagt Christian.
»Gerne«, sagt auch Mark Lederer.
Frau Poulsen lächelt. Schenkt ein.
»Ihr Hinweis galt einem Mann, der hier im Haus lebt«, sagt Mark Lederer. »Richtig?«
»Ja«, sagt sie. »Ja.« Sie hält inne, unschlüssig.
»Ja?«, fragt Christian.
»Ich … mir ging etwas durch den Kopf. Nachdem Sie mich kontaktiert hatten …«
»Ja?«, fragt Christian.
»Ich möchte niemanden zu Unrecht in Schwierigkeiten bringen.«
»Das heißt … Sie sind sich nicht ganz sicher …«
»Ja, das stimmt. Ich kann mir nicht sicher sein.«
»Erzählen Sie einfach«, sagt Christian.
»Ich kann mir nicht sicher sein, es war nur eine Ahnung, als ich das Bild gesehen habe, ein Standbild, wie von einem Video, in einer Parkgarage.«
»Ja, genau, darauf beziehen sich die meisten Hinweise.«
»Meine Ahnung war, dass es Marko sein könnte. Marko Gerhardt, er wohnt im zehnten.«
Christian nickt.
»Wir kennen uns kaum. Eigentlich nur vom Grüßen und weil er im Getränkemarkt arbeitet, er sitzt manchmal an der Kasse, dann kommt man kurz ins Gespräch.«
Stille füllt den Raum. Mark Lederer spürt den Worten nach. Getränkemarkt, Kasse, flüchtiger Gruß.
»Wie kommen Sie darauf, dass er der Gesuchte sein könnte?«, fragt er.
»Ja, das ist der Punkt«, sagt sie. »Es ist einfach nur dieser Umriss auf dem Foto. Eine Ahnung. Und wenn ich dann darüber nachdenke, glaube ich eigentlich gar nicht daran.«
Lederer spürt ein Seufzen, er schluckt es hinunter, hat den Eindruck, dass Christian dasselbe tut, ihre Blicke begegnen sich.
»Ich kenne ihn nicht, aber er ist ein freundlicher, ruhiger Mann.«
»Alter?«
Sie denkt kurz nach. »Ich schätze, Mitte dreißig.«
»Gut.« Mark Lederer notiert sich alles. Buchstaben, aus denen Worte werden. Marko Gerhardt, Mitte dreißig. Angestellt in einem Getränkemarkt. Zehnter Stock.
»Vielleicht ist es einfach mein Wunsch, zu helfen. Ich würde es so gerne können. Ich bin in einer Kindertagesstätte tätig gewesen.«
»Ja, das wissen wir«, sagt Christian.
»37 Jahre lang«, sagt sie.
Christian nickt.
»Vielleicht will ich unbedingt dazu beitragen, dass Sie den Jungen finden.«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagt Christian.
Sie schweigen. Mark Lederer führt die Tasse zum Mund, trinkt aus.
»Ist es möglich, dass niemand davon erfährt? Ich … es wäre mir wichtig, dass niemand weiß, dass ich irgendwelche … Verdächtigungen …«
»Ihr Hinweis wird vertraulich behandelt«, sagt Christian. Das stimmt auch, zumindest, solange sich bestätigt, was sich andeutet, nämlich dass dieser Hinweis einer von mehr als 300 anderen ist, die ins Leere laufen.
»Ja, wir sehen uns das einfach mal an«, sagt Christian.
Margarethe Poulsen sitzt in sich zusammengesunken. Lederer fragt sich, warum. Vielleicht aus mehreren Gründen. Weil sie traurig ist, dass sie gehen, dass sie allein zurückbleibt. Und vermutlich auch, weil sie schon bereut, die Polizei kontaktiert zu haben.
Der Aufzug hebt sie weiter nach oben, in den zehnten Stock, und Christian hat das Gefühl, dass sie tatsächlich, Meter für Meter, immer weiter an Boden unter den Füßen verlieren.
Er sucht Lederers Blick, der ihn streift, und er ist sich sicher, dass Lederer dasselbe denkt. Oder immerhin etwas Ähnliches.
Im zehnten Stock ist niemand. Ein leerer Flur. Weiße Türen, dahinter Wohnungen, die vermutlich der von Frau Poulsen nahezu gleichen. Aber alle ein wenig anders eingerichtet. Während sie an der Tür von Marko Gerhardt stehen und warten, denkt Christian darüber nach, wie es drinnen aussehen könnte. Ohne ein Bild zu finden, das Kontur gewinnt.
»Scheint nicht da zu sein«, murmelt Lederer.
Christian nickt. »Im Getränkemarkt?«
Sie stehen noch für eine Weile, wartend, obwohl sicher niemand da ist. Christian legt seine Wange an die kühle Tür, lauscht. Nichts.
»Okay, lass uns …«
Er wendet sich ab, geht einige Schritte, Lederer folgt. Dann steht ihnen ein Mann gegenüber. Er war schnell unterwegs, schwungvoll, von den Aufzügen kommend. Jetzt hält er inne. Lächelt. Ein hagerer Mann, mittelgroß, sportlich, aber das Gesicht verrät ein recht hohes Alter. Sicher jenseits der sechzig.
»Guten Tag«, sagt der Mann. »Kann ich Ihnen helfen?«
Die Stimme ist fest, das Lächeln weitet sich aus. Der Mann ist zu alt und zu schmal, das kann weder Marko Gerhardt sein noch der Mann, den sie suchen.
»Nein, danke …«
»Suchen Sie Marko?«, fragt der Mann.
»Ja … er scheint nicht da zu sein.«
»Sicher bei der Arbeit«, sagt der Mann. »Worum geht es denn?«
»Und Sie sind …«
»Ich bin hier der Hausverwalter«, sagt der Mann. Reicht Christian seine rechte Hand. »Holdner.«
Seine Gedanken treiben voran, er fängt sie ein. So geht das die ganze Zeit, während sie mit dem Aufzug nach unten fahren, während sie durch den schummrig schattigen Eingangsbereich laufen, während sie ins Freie treten, in die orange, gelbe, pinke, enervierend helle Sonne. So hell bescheint sie die Dinge, fast, als lege sie es darauf an, alles zu enthüllen, alles zu entblößen, was in Schichten abgedeckt, von Decken umhüllt ist.
Gedanken treiben voran, er fängt sie ein. Weg von der Wohnung, denkt er, Schritt für Schritt, er wirft einen flüchtigen Seitenblick nach oben, sucht die Fenster ab, findet Markos, da ist nur eine leere Fläche aus Glas, Licht prallt daran ab.
Er löst seinen Blick, sieht voraus, nimmt alles wahr, die Wohnwagen, das Lachen, das vom Baggersee herüberdringt, das Platschen, Kinder springen rein, tauchen unter, tauchen auf. Untertauchen, auftauchen …
»Da drüben, wir sind gleich da«, sagt er. Seine Stimme tut, was er will. Sie ist fest und freundlich, unverbindlich verbindlich. »Ich bin ziemlich sicher, dass ich Markos Nummer parat habe. Aber sagen Sie …«
Er hat die beiden nach ihrem Anliegen gefragt. Sie haben sich als Polizisten vorgestellt. Er muss aufpassen. Die Fragen stellen, die naheliegen, aber auch die vermeiden, die unangemessen erscheinen. Einer der beiden Polizisten, der Große, hat gesagt, dass sie leider mehr nicht sagen könnten, es handele sich aber um nichts Ernstes.
Nichts Ernstes …
»… sagen Sie, Marko hat doch … keine Probleme?«
Die beiden schweigen. Sie laufen, nähern sich dem Wohnwagen.
»Also, ich kenne ihn nicht gut, aber in meinen Augen ist das ein sehr anständiger Kerl«, sagt Holdner. Er lächelt. »Er hat mir manchmal sogar kürzlich bei kleineren Reparaturen geholfen, am Haus … mehr als einen Strafzettel für Falschparken kann ich mir bei dem gar nicht vorstellen …«
Der Polizist, Sandner, lächelt. Sandner, so hat er sich vorgestellt. Und Lederer. Willkommen, Herr Sandner, willkommen, Herr Lederer, in meiner bescheidenen Hütte. Sozusagen. »Ja, hier wohne ich«, sagt er. »Im Sommer. Habe ansonsten, für die kühleren Monate, auch eine Wohnung im Haus.«
Sandner nickt.
»Ja, kommen Sie doch rein. Ich schaue mal in den Unterlagen. Setzen Sie sich.«
Er geht in den Verschlag, sein »Büro«. Lässt seinen Blick schweifen, alles ist penibel ordentlich, das ist gut. Er wusste ja nicht, dass Besuch kommen würde. Er zieht den Kasten heran und geht die Kartei durch, Gerhardt, denkt er, Marko Gerhardt, fast gelingt es ihm, daran zu glauben, dass er ihn kaum kennt, flüchtig wäre fast zu viel gesagt, manchmal werkeln sie gemeinsam, kleinere Reparaturen, ein Gedanke kristallisiert sich heraus. »Gerhardt, Gerhardt«, murmelt er, gerade so laut, dass die Polizisten es hören können. Sie sitzen im Wohnbereich, auf dem braunen Sofa. Er spürt ein Stechen im Magen. Aber er schwitzt nicht, keine Spur. Obwohl das nicht mal ein Problem wäre. Es ist so verdammt heiß. »Hab’s gleich«, murmelt er.
»Schön«, sagt der Polizist. Sandner. Er steht plötzlich neben ihm. Holdner hat ihn nicht kommen hören. Er sieht ihn an, fragend, lächelnd.
»Schön, die Bilder«, sagt Sandner.
Holdner hebt den Blick. »Ach so, ja«, sagt er. »Da haben Sie recht.«
Lauras Bilder. Bunt. Bunter geht es nicht. Sie hängen an der Pinnwand, über seinem schmalen Schreibtisch. Seen, Wälder, Berge, ab und zu schmale Menschen, mit langen blonden oder kurzen dunklen Haaren. Die Farben so kräftig, als würden sie einen Hals fest umschließen und würgen können, bis …
»Ja, meine Enkeltochter. Sie malt gern«, sagt er.
Sandner, der Polizist, nickt.
»Ja, hier hab ich’s. Festnetz und Handy, hier.« Er reicht dem Polizisten den gelben Zettel. Gerhardt, Marko, Nummer. »Wenn Sie wollen, kann ich es mal bei ihm versuchen«, sagt er. »Kann ihm ja sagen, dass er vergessen hat, die Rechnung für einen Strafzettel zu begleichen …« Holdner lacht. Offen, leichthin. Das ist zumindest sein Eindruck. Er lauscht seinem eigenen Lachen nach, während es verhallt.
»Fragen Sie ihn, ob er bald Mittagspause hat«, sagt Sandner. »Und dass wir dann vorbeikommen würden, nichts Ernstes.«
Holdner hält inne. »Okay«, sagt er dann. Wählt die Nummer. Während er wartet, hofft er, dass Marko nichts hört, dass er nicht rangeht. Marko nimmt das Gespräch entgegen. Seine Stimme klingt stumpf, wolkenverhangen. »Hallo? Ja?«
»Herr Gerhardt?«, fragt Holdner.
Marko schweigt. Perplex.
»Hallo, Herr Gerhardt? Marko? Hier ist Holdner, von der Hausverwaltung.«
Marko schweigt.
»Hier sind zwei Herren von der Polizei, die kurz mit Ihnen sprechen möchten. Nichts Ernstes. Haben Sie denn bald Mittagspause?«
Marko schweigt. Bekommt kein Wort heraus. Schafft es nicht, die Situation zuzuordnen, die Lücken zu füllen.
»Wunderbar«, sagt Holdner. »Okay, ja … Moment …« Er wendet sich Sander zu. »Möchten Sie rübergehen zum Getränkemarkt?«
Sandner nickt.
»Ja, Herr Gerhardt? Ja, die Polizisten kommen vorbei … ich kann ihnen ja zeigen, wo es ist. Alles klar … ja … bis dann.«
Er beendet das Gespräch. Seine Gedanken treiben wieder, er fängt sie ein, mit harter Hand. Umschließt sie mit der Faust. »Ja, ich kann Ihnen zeigen, wo der Markt ist.«
»Bestens, danke«, sagt Sandner.
Dann laufen sie wieder, durch den Sommer. Das Logo des Getränkemarkts prangt in einiger Ferne knallrot im Himmelblau.
»Dahinten«, sagt Holdner.
Sandner nickt, läuft, stoisch. Beunruhigt oder irgendwie alarmiert wirkt er nicht, ebenso wenig Lederer.
Sommer, denkt Holdner. Rot. Er sieht Marko, er steht vor dem Markt, im Schatten, raucht. Hebt den Blick, während sie näher treten, die Straße überqueren, die weite Fläche betreten, den Parkplatz, Menschen mit Einkaufswagen gehen auf und ab. Marko sucht seine Augen, zwanzig Meter noch, fünfzehn, zehn … Holdner versucht, ohne Worte auszukommen, lässt seinen Blick sprechen, weitet die Augen, lächelt, ganz ruhig, Marko, ich bin hier, alles unter Kontrolle, halt einfach die Fresse.
Der Mann ist eigentlich nicht korpulent, eher irgendwie so, als würde überall eine Spur zu viel an Fett lagern. Er wirkt aber gleichzeitig merkwürdig leicht, so als könne er diesen Körper mühelos in Bewegung bringen. Er schwankt ein wenig hin und her, während er an seiner Zigarette zieht. Sein Blick ist fragend.
»Ja, bitte?«, fragt er. Blickt von Lederer zu Christian und wieder zurück. Kurz streifen seine Augen auch den Hausverwalter, Holdner.
»Herr Gerhardt? Marko Gerhardt?«, fragt Christian.
»Ja, das bin ich«, sagt der Mann.
»Mein Name ist Sandner, das ist mein Kollege, Herr Lederer. Wir kommen von der Kriminalpolizei in Wiesbaden und werden Sie nur kurz stören.«
»Okay«, sagt der Mann. Marko Gerhardt. Er wirkt nach wie vor in erster Linie verwirrt. Lederer geht die Frage durch den Kopf, ob dieser Mann ihn an einen Teddybären erinnert. Eigentlich nicht. Vielleicht fehlt es ihm einfach an Fantasie.
»Was … ist denn los?«, fragt Gerhardt.
»Können Sie uns sagen, wo Sie am Freitag gewesen sind?«, fragt Christian. »Vergangenen Freitag, zwischen 11 und 13 Uhr.«
Gerhardt schweigt, scheint nachzudenken. »Also … ich hatte auf jeden Fall frei …«
Der Verwalter räuspert sich. »Also, ich müsste nachsehen, aber ich glaube, dass wir gegen zwölf bei den Döberts gewerkelt haben. Sicher etwa eine halbe Stunde lang.«
Gerhardt sieht den Verwalter an. Sein Blick ist leer. Überhaupt wirkt der Mann ein wenig so, als habe er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. »Hm … ja …«, murmelt er.
»Wie gesagt, ich müsste selbst nachsehen, aber doch, ich glaube, dass wir mittags bei den Döberts, einem alten Ehepaar, unter anderem die Leuchten ausgetauscht haben. Sie haben davor nämlich höllische Angst. Die beiden denken, dass Glühbirnen gefährlich sind.« Der Verwalter, Holdner, lächelt. »Und sie sind im Urlaub, deshalb war das ein guter Zeitpunkt. Frau Döbert hatte mir den Schlüssel dagelassen.«
»Ja … stimmt«, sagt Gerhardt.
»Das war also gegen Mittag?«, fragt Lederer.
»Ja, ich denke, zwischen halb zwölf und halb eins, so etwa. Danach habe ich mit Laura Mittag gegessen, also es war in jedem Fall davor.«
»Ja, okay … stimmt«, sagt Gerhardt.
»Wenn Sie möchten, sehe ich nach, ich habe für diese Tätigkeiten so eine Art Protokoll, für die Abrechnung mit meiner Firma«, sagt Holdner.
»Gut«, sagt Christian. Lederer betrachtet Gerhardt, der vor sich hin nickt. Er sieht müde aus.
»Ich müsste bald wieder rein. Habe palettenweise Prosecco zum Einsortieren dastehen.« Er deutet auf den Getränkemarkt. »Also, drinnen, im Lager.«
»Gut, Herr Gerhardt, einstweilen danke«, sagt Christian. Vermutlich geht ihm dasselbe durch den Kopf wie Lederer. Wenn sich die Angaben des Verwalters bestätigen, ist der Verdacht hinfällig. Zumal die Hinweisgeberin selbst im Vorgespräch schon davon abgerückt war. Einer von 367 Hinweisen, einer, der ins Leere führt. Wie möglicherweise alle 367. Wobei inzwischen sicher neue hinzugekommen sind.
»Worum … geht es denn eigentlich?«, fragt Gerhardt noch einmal.
»Das können wir Ihnen zurzeit nicht sagen, aber es hat sich voraussichtlich ohnehin erledigt«, sagt Christian.
»Ah. Okay«, sagt Gerhardt. »Kann ich dann … wieder loslegen?«
»Gerne. Auf Wiedersehen.«
»Ja. Wiedersehen«, sagt Gerhardt. Er nickt noch einmal, dann läuft er, schlendernd oder schlurfend, verschwindet im Schatten des Marktes.
Holdner feiert ein kleines Fest, in Gedanken. Sie sind wieder beim Wohnwagen, er fühlt sich von der Hitze umhüllt wie von einem wohlig-weichen Mantel. Perfekt, denkt er.
»Momentchen«, sagt er. Er weiß, wo das Protokoll liegt, auf seinem Schreibtisch. Das ist das Gute, dieser Schrieb existiert tatsächlich. Freitag, 11.45. Da hat er bei den Döberts die Lampen gewechselt. Die Wahrheit. Abgesehen von der kleinen Abweichung, dass Marko nicht dabei war, aber das weiß niemand. Marko war einfach da, im sechsten Stock, in der leeren Wohnung der Döberts. Hat ihm die Lampen und die Glühbirnen angereicht. Das Lustige ist, dass Holdner sogar gerne Markos Hilfe in Anspruch genommen hätte, aber der war nun mal nicht da am Freitag um 11.45. Hatte anderes zu tun.
»Ja, hier ist es«, sagt er. Reicht dem einen der beiden Polizisten, Lederer, die Liste. Der andere, Sandner, steht über eines von Lauras bunten Bildern gebeugt.
Lederer nickt.
»Möchten Sie es haben?«, fragt er.
»Entschuldigung?«, sagt Sandner.
»Das Bild, das hat Laura gemalt, meine Enkeltochter. Ich schenke es Ihnen, sie wird sich freuen, wenn sie hört, dass es so gemocht wurde.«
Sandner lächelt. Scheint kurz nachzudenken.
»Kommen Sie, ich habe jede Menge davon, und sie malt andauernd neue.« Jetzt lacht Holdner sogar, spürt die Ausgelassenheit. Nur Vorsicht, nicht überziehen, nicht übertreiben. Er löst das Bild von der Pinnwand. Hält es kurz in seinen Händen, weich und glatt das weiße Papier, bunt die Wiese, der Sommer, den Laura gemalt hat. Er reicht Sandner das Bild, Sandner bedankt sich.
»Gerne«, sagt Holdner.
Durch das Fenster des Wohnwagens sieht er die Kinder, Laura und Simona. Sie spielen auf dem Spielplatz, ebenso ausgelassen wie er hier drinnen, mit diesen Polizisten.
Die beiden verabschieden sich. Er sieht ihnen nach, spürt, wie sie sich entfernen, Schritt für Schritt, spürt die Ahnung eines Durchatmens. Als sie am Spielplatz vorübergehen, hält Sandner kurz inne. Fragt er sich, ob eines der Mädchen das Bild gemalt hat? Dann gehen sie weiter, zum Parkplatz, steigen in einen dunklen Wagen. Fahren an, biegen auf die Landstraße ein und sind verschwunden.
Laura hat den Blick gehoben. Steht still. Simona spricht mit ihr, aber sie ist wie im Moment gefangen. Sie betrachtet die Stelle, den leeren Raum, in dem eben noch das dunkle Auto der beiden Polizisten gestanden hat.
Im Zug nach Berlin geht er alle Hinweise durch, so wie sie von den aufnehmenden Beamten protokolliert worden sind. 367 Notizen. Keine von ihnen verspricht, die Ermittlung an einen Wendepunkt heranzuführen.
Nachdem er zu Ende gelesen hat, spielt er für einige Minuten mit dem Gedanken, von vorne zu beginnen, aber dann öffnet sich vor seinem inneren Auge ein anderes Feld, gerade als sich der Zug weich und kaum merklich in eine Kurve legt und den Blick auf ein tatsächliches weites, tiefgrünes Feld eröffnet. Seine Gedanken beginnen zu kreisen, um die Talkshow am Abend. Die Sendung wird live ausgestrahlt werden. Er schließt die Augen, lauscht der inneren Stimme, die beginnt, Antworten zu formulieren, auf Fragen, die noch gar nicht gestellt worden sind. Marlene hat gefragt, ob sie mitschauen darf. Er hat geschwiegen. Svea hat gesagt, dass es zu spät am Abend sei und dass es auch um Themen gehen würde, die für Marlene nicht gut sind.
Nicht gut, denkt Ben.
Natürlich hat das Marlene nur weiter darin bestärkt, unbedingt am Abend mitschauen zu wollen. Wenn ihr Papa im Fernsehen ist. Eine Stimme kristallisiert sich heraus. Er hebt den Blick, sieht den Kellner des Bordrestaurants.
»… noch was sein?«, fragt er.
»Einen Kaffee, gerne«, sagt Ben.
Der Zug ist wieder auf gerader Strecke unterwegs, links und rechts fliegen dichte Bäume vorüber. Dickicht. Dann wieder freies Feld. Ortschaften, Häuser. Der Kellner bringt den Kaffee. Bens Blick streift den Ordner, die schmalen Blätter, mit den 367 Hinweisen. Sein Handy vibriert. Svea. Er hält inne. Dann tippt er eine Nachricht. Bin im Zug, melde mich, sobald die Funklöcher Pause machen. Er fügt einen Smiley hinzu, versendet den Text und verschließt für Sekunden die Augen vor der Welt.
»Deinen Traumsommer gibt es jetzt zum günstigen Frühbucherpreis!«
»Okay.« Der Mann hinter der Scheibe hebt den Daumen an. Dirk Meininger wartet. Okay heißt nicht: Das war’s.
»Wir müssen die Stimmen aber noch synchron bekommen. Also, die Frau und der Mann im Einklang.«
Dirk Meininger nickt.
»Da werden die Worte Musik, okay?«, sagt der Mann hinter der Scheibe. Dirk hat schon oft mit ihm gearbeitet, er kennt auch seinen Namen, aber heute kann er an ihn nur als den Mann hinter der Scheibe denken. Er nimmt sich vor, später darüber nachzudenken, warum das so ist.
»Die Worte werden Melodie, Frau und Mann singen das gewissermaßen, wie im Duett«, sagt der Mann hinter der Scheibe.
Dirk Meininger setzt den Kopfhörer ab. Atmet durch. Die Stimme des Mannes hört er jetzt dumpf. »Alles okay, Dirk?«
Jetzt ist er es, der den Daumen hebt. »Alles gut«, sagt er.
Er setzt den Kopfhörer auf.
»Dann noch mal, ja?«, fragt der Mann hinter der Scheibe.
»Ja«, sagt Dirk.
»Und … bitte«, sagt der Mann.
»Ihren Traumsommer … gibt es jetzt … zum günstigen … Früh … bucher … preis.«
Stille.
Der Mann hinter der Scheibe gleicht die Aufnahme mit der bereits vorliegenden der Sprecherin ab. Dirk Meininger spürt einen Schwindel, der sich von der Stirn in hintere Regionen seines Kopfes ausbreitet. Er wandert weiter in den Nacken.
»Top!«, sagt der Mann. Hinter der Scheibe.
Dirk lächelt. Es kommt wie von selbst.
»Wir machen Mittagspause und danach noch ein, zwei takes, okay?«, sagt der Mann.
Zurückkehren, denkt Dirk. In den anderen Raum, den, der jenseits der Scheibe ist. »Okay«, sagt er.
Er bleibt sitzen, eine Minute, zwei Minuten lang. Es ist ein Gebot der Stunde, das zu tun. Er betrachtet den leeren Raum, in dem der Dienstwagen der Kriminalpolizisten gestanden hat. Er betrachtet die Mädchen, die spielen. Schaukeln, rutschen, schaukeln. Klettern.
Dann steht er auf. Spürt unmittelbar die Energie. Er läuft zügig, jetzt hat er das Gefühl, allein auf der Welt zu sein, allein in einem schmalen, eng anliegenden Fokus, einem Gang, der sich vor ihm auftut, einem von Sonnenlicht gefluteten Tunnel.
Er betritt das Hochhaus, Kühle umfängt ihn, er geht direkt runter, in sein Herbst- und Winterbüro. Er ist für eine Weile nicht hier drin gewesen, es gab keinen Anlass. Jetzt gibt es einen. Marko, denkt er. Die Polizisten haben ihm den Naivling abgenommen. Weil er einer ist. Wäre Holdner der Meinung, Marko habe eine Rolle gespielt, wäre er versucht, ihm einen Preis zu verleihen. Aber Marko hat keine Rolle gespielt. Marko war einfach er selbst.
Vielleicht hat Marko, als sie vor dem Getränkemarkt standen, unter der Hitze, die der Himmel abstrahlt, unter der Sommerglocke, einfach vergessen, dass in seiner Wohnung ein betäubter Junge liegt.
Holdner fährt den Computer hoch, schaltet die Überwachungskameras ein, orientiert sich. Ganz ruhig, denkt er.
Er lässt die Bilder ablaufen, rückwärts. Menschen in der Tiefgarage des Hochhauses, sie reisen in der Zeit zurück, es wird Morgen, es wird Nacht, Abend, Nachmittag, Mittag, Vormittag, früher Morgen … gelebtes Leben im Zeitraffer, Menschen kommen und gehen, gehen und kommen. Und dann Markos Auto.
Der mattgelbe Kleinwagen. Holdner atmet ein, hält die Luft an. Verlangsamt die Bilder, lässt Marko aus dem Wagen steigen. Kurz zögern. Zum Kofferraum gehen. Es sieht auf dem Videobild nicht weiter dramatisch aus, so grau und still. Marko öffnet den Kofferraum. Holdner sucht den weiten, verwinkelten Raum ab. Die Tiefgarage. Heller Tag. Holdner beugt sich vor, kneift die Augen zusammen, dann reißt er sie auf, sucht jeden Winkel des Bildes ab, während Marko den Kofferraum öffnet und mit Wucht einen großen Koffer anhebt. Heller Tag. In einem Koffer. Der Junge. Marko stolpert zu den Aufzügen. Schritt für Schritt. Das Bild verschwimmt vor Holdners Augen. Marko, auf dem grauen Bild, betritt den Aufzug. Niemand tritt ihm entgegen, niemand rennt, um den Aufzug noch zu erwischen, niemand kommt, um zu fragen, ob Marko verreist war und warum der Koffer so schwer ist.
Dann ist Marko weg, das Bild steht still.
Holdner lehnt sich zurück, den Blick immer noch scharf auf den Bildschirm gerichtet. Da ist niemand. Gut.
Gut, gut, gut.
Er löst sich. Tippt etwas in die Tastatur ein, sucht, zielstrebig. Öffnet ein anderes Bild. Flur, zehnter Stock. Wieder reisen Menschen in der Zeit zurück. Auch Marko ist dabei, er verlässt seine Wohnung, von Zeit zu Zeit, läuft, schlurfend, dem vergangenen Freitag entgegen, Tag für Tag, Holdner setzt sich aufrecht, versteift seinen Rücken, stößt ein leises Stöhnen oder Seufzen aus, während der Moment näher rückt, er weiß nicht, woher dieses Stöhnen kommt, kann es nicht zuordnen. Dann ist da Marko, er hievt den Koffer aus dem Lift, steht auf dem Flur. Beginnt zu laufen. Wie ein Betrunkener, torkelnd. Aber zielsicher. Heimlich getrieben. Von allen unbemerkt. Nur er, Holdner, weiß davon. Was ist es eigentlich, das Marko treibt? Das weiß Holdner nicht. Zumindest nicht genau.
Marko setzt den Koffer ab, sucht nach seinen Schlüsseln, findet sie, öffnet enervierend langsam die Tür zu seiner Wohnung. Niemand.
Niemand läuft vorüber. Niemand kommt aus einer Wohnung, niemand verwickelt Marko in ein Gespräch. Über den heißen Sommer und das Gewicht von Koffern. Dann ist Marko verschwunden, hinter der Tür. In einem Raum, den keine Kamera einfängt.
Holdner lehnt sich zurück. Bleibt so. Spürt die Müdigkeit, die Schwere hinter der Stirn, die sich aufzulösen beginnt, die Schwere wird ganz leicht, binnen einiger Minuten. Er könnte schlafen. Das wird er auch machen. Nachdem er den Mist hier, diese Schmierenkomödie mit dem Titel Marko und der Koffer, beseitigt hat.
Als Ben ankommt, wartet bereits ein Fahrer mit einem Namensschild. Ben Neven, Kripo Wiesbaden, Gesprächsgast Schiller. Das steht auf dem Schild, das der groß gewachsene Mann in den Händen hält. Neven, das bin ich, denkt Ben vage, während er die letzten Schritte auf den Mann zumacht und ihm die Hand schüttelt. »Das bin ich«, sagt er. Der Mann nickt.
Dann laufen sie durch die Bahnhofshalle, durch das Gewusel, Gesprächsfetzen bleiben hängen, fallen ab, segeln zu Boden wie Notizzettel. Mit Notizen, die Ben nicht versteht.
»Ich stehe direkt draußen, bei den Taxis«, ruft der Mann über die Schulter.
»Gut«, ruft Ben. Er hat seine Reisetasche geschultert, läuft zügig, dem Tempo entsprechend, das der Mann vorgibt, dann sind sie draußen. In der Weite. Zwei Straßenmusiker spielen Flamenco, auf akustischen Gitarren, sie spielen gegen das Hupen der Taxis an, und gegen das Desinteresse der Menschen, die Blicke werfen, nach links und rechts, Ziele ansteuernd.
»Da hinten«, ruft der Mann, überquert den Vorplatz, öffnet schon im Gehen die Türen der schwarzen Limousine. Ben steigt ein. Sitzt auf dem Rücksitz. Es ist angenehm kühl, der Fahrer hat, vielleicht in weiser Voraussicht, die Klimaanlage vorarbeiten lassen, während er auf die wenige Minuten verspätete Ankunft des Zuges aus Wiesbaden gewartet hat.
Sie fahren durch die Stadt, entfernen sich, befahren flächigere Straßen, offenere Regionen. Ben schließt die Augen, gleitet ab. Betritt einen Traum, in dem er Vater von Drillingen ist. Svea lächelt ihn an, nennt die Namen der drei, die in blauen Kinderwagen liegen, neugeboren. Ben, Ben und Ben, sagt Svea …
»Da sind wir, Herr Neven«; sagt der Fahrer. Für Momente sind die Worte Teil des Traums, den Ben träumt.
Dreimal Ben, denkt er, während er sich aus dem Traum herauswühlt. Zurück an die Oberfläche, in die Sonne. Nein, viermal, die Drillinge und er selbst. Vier.
»Wir sind da, Herr Neven.«
Ben öffnet die Augen, und der Fahrer lächelt Sveas Lächeln, das Lächeln, das Svea im Traum gelächelt hat.
Am frühen Abend sind sie wieder im Besprechungsraum, nur Ben fehlt, der nach Berlin gefahren ist. 312 der 367 Hinweise sind verifiziert worden, 135 neue sind hinzugekommen.
»Unter den 312 Hinweisen, denen bislang nachgegangen wurde, ist keiner dabei, der eine Tür geöffnet hat«, sagt Lederer.
Malvi nickt, schweigt. Christian denkt an den Tag, der vorübergeglitten ist, während sie Telefonate geführt, Internetrecherchen betrieben und einige Male auch rausgefahren sind zu den Menschen, denen ein Verdacht gekommen ist, und zu denen, denen der Verdacht gegolten hat.
Für eine Weile denkt er an den Mittag zurück, der weit weg zu sein scheint. Die pralle Sonne, der rote Getränkemarkt. Christian hat dem kargen Social-Media-Profil ein Foto entnommen und es der Akte beigefügt, die noch einmal dem Jungen vorgelegt werden wird, Lars May. Und der alten Dame, der Anwohnerin der Schule. Sechzehn Männer beinhaltet diese Akte, sechzehn Fotos, wobei gegen keinen ein Verdacht vorliegt, juristisch betrachtet nicht einmal ein Anfangsverdacht.
Die alte Dame hat den Mann nur im Vorübergehen gesehen, und auch Lars May hat gesagt, dass er vermutlich den Mann, der ihm vor zwei Jahren einen Tiger aus Stoff schenken wollte, nicht mehr erkennen wird. Es war nur ein Moment. Ein Unbekannter, der eine komische Frage stellt. Ein Junge, der die richtige Antwort gibt. Die, die ihm möglicherweise das Leben gerettet hat.
Christian kehrt aus seinen Gedanken zurück, hört jetzt wieder Lederers ruhige Stimme, er ist noch immer damit beschäftigt, die Ermittlung des Tages zusammenzufassen. Er schließt mit den Worten, die Christian vor Sekunden gedacht hat.
»Letztlich hält bisher keiner der Hinweise der Überprüfung stand. Keiner der von extern Angeschuldigten ist aktenkundig, keiner zuvor in irgendeiner Weise auffällig geworden. Juristisch rechtfertigt keiner dieser Ansätze einen Anfangsverdacht.«
Malvi nickt.
»Wie gesagt, 135 neue Hinweise sind eingegangen, das war der Stand, als ich das Büro verlassen habe. Gut möglich, dass es bis morgen noch mal so viele sind. Einige Boulevardmedien haben begonnen, den Fall … tja … zu featuren.«
»Ja«, sagt Malvi.
»Die Suche im an die Schule angrenzenden Waldgebiet wurde unterbrochen, kann aber wieder aufgenommen werden. Etwa vier Kilometer entfernt ist ein See, morgen Nachmittag werden dort die Taucher zum Einsatz kommen.«
Malvi nickt.
»Allerdings ist das nur ein Versuch, die Suchhunde haben im Umfeld des Sees keine Signale gesetzt.«
Nur ein Versuch, denkt Christian. Malvi nickt und nickt, ohne etwas zu sagen.
»Dann wollen wir Sie mal fein machen«, sagt die blonde Frau, sie hat wirre Haare. Wirr, aber doch so, als stehe jedes in eine ganz bestimmte Richtung ab, als sei sie sich dessen bewusst. Durchdachtes Chaos.
Fein machen, denkt Ben. Schön machen.
Der Gedanke bleibt haften, ebenso wie die Ankündigung einer Redaktions-Assistentin haften geblieben ist, die ihm schon vor einer Viertelstunde mitgeteilt hatte, dass sie gleich in die Maske gehen würden. Maske.
Die blonde Frau spricht. Stellt Fragen, die er beantwortet. Er spricht über seine Arbeit als Polizist, die Worte kommen und gehen. Er muss gar nichts tun. Er spricht Worte, während ihm Worte vor Augen stehen. Maske, schön, fein. Wird er sich noch erkennen können, wenn sie mit ihm fertig ist?
»Das klingt spannend«, sagt sie. Lächelt.
»Vielleicht spannender, als es ist«, entgegnet er. Spannend? Was hat er eigentlich gesagt? Vielleicht hat sie es nur so dahingesagt, spannend. Um das Gespräch am Leben zu halten.
»Die kleine Entzündung hier würde ich abdecken«, sagt sie.
Er hebt den Blick. Sucht sein Gesicht im Spiegel nach einer Entzündung ab.
»Hier, an der Wange. Kleine Sache«, sagt sie.
Kleine Sache, denkt er.
»Ja?«, fragt sie.
»Entschuldigung?«
»Kann ich das abdecken?«
»Ach so, ja … sicher«, sagt er.
Jetzt beginnen die Gedanken, auseinanderzutreiben. Kleine Sache. Eine Frau betritt den Raum, die er kennt. Die er nicht zuordnen kann. Sie nickt ihm zu, lächelt. Dann sitzt sie neben ihm, auch sie in der Maske. Sie schließt die Augen, während eine rothaarige Frau ihr das Gesicht pudert.
»So, jetzt sind Sie schön«, sagt die andere Frau, die blonde. Er hebt den Blick, begreift, dass er gehen kann. Und dass sie es vermutlich sogar ernst meint. Dass sie tatsächlich glaubt, er sei jetzt gut aussehend, dank ihr.
»Ja, danke«, murmelt er.
»Bestens«, sagt die Redakteurin, die schweigend gewartet hat.
Er erhebt sich, läuft. Im Gehen begreift er, wer die Frau ist, die vor dem Spiegel sitzt, es ist die Justizministerin. Er hat gar nicht daran gedacht, die Liste der anderen Talkgäste zu studieren. Er läuft, einen orangen Flur entlang. Folgt der Redakteurin. Er verliert sich, verliert den Faden. Die Redakteurin führt ihn zurück in den Raum, in dem er schon gewesen ist, an der Wand stehen Körbe mit Obst, Limonaden in allen Farben, ein kleines kaltes Büfett.
»Machen Sie es sich bequem«, sagt die Redakteurin. »Sie haben noch etwas Zeit.« Sie lächelt, wendet sich ab, geht. Noch etwas Zeit, denkt Ben.
Die Gedanken kreisen, bis ihm schwindlig ist. Er öffnet seinen Aktenkoffer, der neben dem Sofa steht. Neben Materialien der Polizei-Pressestelle enthält der Koffer auch die kleine Dose, in der seine Kopfschmerztabletten liegen. Er nimmt eine Tablette, schluckt sie ohne Wasser. Dann setzt er sich auf ein hellblaues Sofa. Schließt die Augen. Sieht Bilder, grau auf weiß. Konturen. Ahnungen. Er fragt sich, wo Jannis ist, wo Dawit ist, hat das Gefühl, dass sie einfach weg sind, körperlos, als wären sie nie da gewesen, nie wirklich, schon immer Illusion.
Am Abend sitzt sie auf dem Sofa, der Fernseher flimmert. Irgendwann rastet die Sekunde ein, weil sich ein Bild vor ihre Augen legt. Jannis.
Die Worte hört sie nicht, sie sind eine klebrige Masse. Der Mann, der sie ausspricht, der Moderator des Nachrichtenmagazins, scheint zu lächeln. Kaum merklich, unterschwellig. Dann öffnet sich sein Blick weiter, er scheint guter Laune zu sein, sagt den nächsten Beitrag an, es geht um eine sehenswerte Filmkomödie. Jetzt hört Lea die Worte überdeutlich. Jedes ist, wie in feinen Schnitten, vom anderen abgegrenzt.
Der Kinofilm wird sehr positiv besprochen. Sie stellt sich vor, dass sie reingehen könnten, sie und Dirk. Vielleicht kommt auch Sarah mit.
Die Sendung endet mit dem Wetter.
Es wird warm bleiben. Warm und trocken.
Der Moderator sagt das Folgende an, eine Talksendung zum Thema »Kindesmissbrauch«. Noch immer ist jedes Wort klar, kristallklar. Der Moderator sagt, dass neben der Diskussion über einen Sportler auch ein aktueller Fall Teil der Diskussion sein werde. Das Verschwinden zweier Jungen.
Die vertraute Melodie erklingt, die Moderatorin der Gesprächsrunde begrüßt ihre Gäste und das Publikum. Dezent lächelnd. Inge Schiller. Lea erkennt eine Politikerin und einen Mann, den sie für Sekunden nicht zuordnen kann. Dann erkennt sie auch ihn, er ist ganz nah. Ein Mensch aus ihrem Leben. Es fühlt sich an, als würde er direkt hier neben ihr sitzen. Das ist der Polizist, der nach Jannis sucht. Ben Neven.
Die Moderatorin eröffnet das Gespräch. Da ist jetzt wirklich jemand neben ihr. Nicht der Polizist, Neven, der sitzt in einem Fernsehstudio. Es ist Sarah. Sie hat sich neben sie gesetzt. Schweigt.
Gemeinsam hören sie, was die Moderatorin sagt. Die Worte verschwimmen wieder, dann verkleben sie, trocknen in Sekundenschnelle, sind hart und undurchdringlich wie Beton.
Er hat gedacht, dass ihm schwindlig sein wird, dass er sich konzentrieren wird müssen, dass er ins Schwitzen geraten wird. Aber jetzt sieht er alles ganz klar, ist hellwach und ruhig.
Er hört zu. Die Moderatorin stellt Fragen, die Justizministerin antwortet. Ein Psychologe antwortet. Ein Kolumnist einer politischen Wochenzeitschrift antwortet. Er selbst war noch nicht dran. Er lehnt sich zurück, stellt sich vor, dass es einfach so bleiben wird. Er wird einfach die ganze Zeit nur zuhören, aufmerksam.
»Ich möchte nun auch den vierten Gast in unserer Runde begrüßen«, sagt die Moderatorin. Inge Schiller. Sie schenkt ihm ein Lächeln, als er den Blick hebt. »Ben Neven von der Kriminalpolizei in Wiesbaden. Er ist befasst mit einem Fall, der uns in diesen Tagen beschäftigt. Es geht um das Verschwinden eines Jungen in Wiesbaden und auch um das Verschwinden eines Jungen vor einigen Monaten in Innsbruck in Österreich. Guten Abend, Herr Neven.«
Er nickt.
»Herr Neven, haben Sie, aus Ihrer Ermittlerperspektive, einen Schlüssel? Ein Begreifen dafür, wie es zu einer solchen Gewalt kommen kann? Gewalt, die sich gegen Kinder richtet?«
Er schweigt. Nickt. Atmet ein und aus. »Letztlich … bin ich eben genau das, Ermittler«, sagt er dann. »Gemeinsam mit meinen Kollegen versuche ich, herauszufinden, was passiert ist. Und natürlich, in einem Fall wie dem aktuellen versuchen wir, herauszufinden, wo die gesuchten Jungen sind, wo sie sich befinden. Wir tun alles, um unsere Ermittlung voranzubringen, da bleibt letztlich gar nicht viel Zeit, um über andere Dinge nachzudenken.«
Die Justizministerin schaltet sich ein. Jetzt muss sich Ben ein wenig konzentrieren, er schließt die Augen, richtet den Fokus auf die Worte der Politikerin aus. Sie lobt ihn, hebt hervor, wie wichtig es ist, gute Polizisten zu haben. Gute Polizisten wie ihn.
Das Gespräch entfernt sich wieder, von ihm, von der Ermittlung. Es kreist um den Sportler, einen der populärsten des Landes, der seit etwa einer Woche in den Schlagzeilen ist wegen des Besitzes von Kinderpornografie. Der Journalist, der den Fall aufgedeckt hat, erzählt ein wenig davon, wie ihm das gelungen ist. Die Frage wird gestreift, ob es rechtens sei, denn das Verfahren bewegt sich noch in Vorstufen, offenbar wurden seitens der Staatsanwaltschaft vertrauliche Informationen an die Medien weitergetragen. Insbesondere an den Journalisten, der Ben gegenübersitzt.
»Wäre es Ihnen denn lieber gewesen, das Ganze wäre unter den Teppich gekehrt worden?«, fragt der Journalist. Wen fragt er eigentlich? Die Moderatorin vermutlich, sie hat eine Frage gestellt. Ben hat den Fall nur beiläufig verfolgt. Nein, eigentlich hat er davon gar nichts hören wollen. Die beiden, Journalist und Moderatorin, reden noch ein wenig hin und her, es ist, als würden sie sich Bälle zuwerfen.
»Natürlich ist es wichtig, dass ein solches Verfahren rechtsstaatlich ist, dazu gehört auch, dass sich Vorverurteilungen verbieten.«
Die Worte stehen im Raum. Für Momente ist Ben wirklich sicher, dass irgendjemand gesprochen hat. Ein anderer in der Runde oder vielleicht sogar ein Zuhörer, der aufgestanden ist und das Wort ergriffen hat, aber das ist Unsinn, denn er selbst ist es gewesen. Er hat gesprochen.
Der Journalist lacht kurz. Fühlt er sich angegriffen? Vermutlich.
»Grundsätzlich halte ich das für bedeutsam«, hört Ben sich sagen. »Es bringt uns allen nichts, im Vorfeld etwas wissen zu wollen, was Gerichte noch nicht mal in Augenschein genommen haben.« Wort für Wort, denkt Ben. Konzentrier dich. »Es steht für mich außer Zweifel, dass sich Menschen, die Kinderpornografie in ihren Besitz bringen, mit den Tätern gemein machen. Wir sind uns sicher einig, dass das unerträglich ist.«
Unerträglich, denkt er. Unerträglich, unerträglich, unerträglich. Er treibt voran, spricht schon weiter, denkt und spricht. »Die Staatsanwaltschaft muss ihre Arbeit machen. Nur wenn die Grundsätze des Rechtsstaates eingehalten werden, können wir mittelfristig etwas verbessern, etwas zum Positiven wenden, gerade wenn es um diese Tabuthemen in einer Gesellschaft geht.«
Er schweigt. Glaubt, verhaltenen Applaus zu hören. Vielleicht täuscht er sich. Unerträglich. Sich mit den Tätern gemein zu machen. Inakzeptabel. Die Ministerin spricht. Der Psychologe spricht. Der Journalist spricht. Ein Lächeln der Ministerin streift ihn. Die Moderatorin sagt einen Einspieler an, der noch einmal eine Chronologie der Ereignisse liefert, den Sportler betreffend. Ben lehnt sich zurück. Lauscht den Worten nach, die er gesprochen hat. Die Kopfschmerzen haben sich zurückgezogen. Haben sich ins Gegenteil verkehrt, sein Kopf fühlt sich ganz leicht an. Fast als könne er wegschweben, Ben stellt es sich vor. Illusionen, denkt er. Sein Torso bleibt sitzen, sein Kopf entschwebt.
Das Gespräch wabert voran, Ben hört nach wie vor die Worte, aber nicht mehr so deutlich, eher wie im Traum. Dann strafft er sich, wappnet sich, denn die Moderatorin schwenkt noch einmal auf seinen Fall um, den Fall der vermissten Jungen. Bilder von Jannis und Dawit werden gezeigt, auch die Nummer wird verlesen, unter der zu viele Hinweise eingehen. Die Moderatorin fragt etwas.
»Es ist schwer«, sagt er. »Das muss ich ehrlich eingestehen. Natürlich fühlen wir häufig auch … ja … Hass. Auf Menschen, die Kindern etwas antun. In erster Linie … geht es uns darum, unsere Arbeit zu leisten. In der Hoffnung, dass … alles wieder gut wird.«
Alles wieder gut.
Weitere Worte werden gesprochen, aber Ben entgleiten sie jetzt, auch seine eigenen. Dawit, Jannis. Ein Journalist mit kantigem Gesicht. Das Lächeln der Justizministerin ist weich. Der Psychologe spricht bedächtig, so leise, dass Ben ihn am schlechtesten hören kann. Oder will er ihn nicht hören? Weist er seine Worte ab? Dann passiert etwas, das er nicht begreift. Inge Schiller beginnt ihre Abmoderation. Sie verweist die Zuschauer auf die nachfolgende Sendung. Einen Spielfilm aus vergangenen Zeiten.
Das Publikum applaudiert. Lichter erlöschen. Ist die Zeit schon um? Die Diskutanten stehen auf, der Journalist entfernt sich schnell, die Ministerin spricht noch mit Frau Schiller. Ben erhebt sich, es fällt schwer. Sein Kopf ist leicht, aber sein Körper scheint eine Tonne zu wiegen. Er läuft, folgt der Ministerin. Hat das Gefühl, dass er irgendwo anknüpfen muss, irgendjemandem muss er sich anschließen, aber die Gruppe ist schon zerfasert, die Redakteurin streift ihn mit einem kurzen Dank, sie lächelt. Die Ministerin geht mit schnellen Schritten einen Gang entlang, Richtung Ausgang, in Begleitung von vier Personenschützern. Ben erreicht den Cateringraum, auf dem Sofa sitzt der Psychologe, er trinkt ein Glas Orangensaft.
Ben wählt einen Energydrink, eine pink schillernde Dose. Er öffnet sie, trinkt. Gierig.
Inge Schiller betritt den Raum. Sie wirkt aufgekratzt. »Danke Ihnen, das war gut, richtig gut«, sagt sie. Der Psychologe sagt etwas, Inge Schiller antwortet, die beiden lachen gemeinsam. Ben kann sie nicht hören. Es ist, als würde kein einziges weiteres Wort in sein Hirn hineinpassen.
Er nimmt seinen Aktenkoffer, verabschiedet sich von den beiden, mechanisch, aber die beiden lächeln ihn an, als sei alles in Ordnung.
Er läuft den Gang entlang, hinter breiten Glasfenstern sieht er schon die Lichter der Stadt, vor dem Studio stehen Fahrer bereit, einer wird ihn ins Hotel bringen. Sein Handy vibriert. Svea.
»Ja?«
»Ben?«
»Hallo, Svea«, sagt er.
»Ich wollte nur kurz sagen, dass es uns gefallen hat. Was du gesagt hast.«
Er schweigt.
»Marlene wollte unbedingt mitschauen. Ich glaube, sie war stolz auf ihren Papa.«
Er nickt.
»Ben?«
»Ja, das freut mich.«
»Du hast kluge Sachen gesagt. Wir waren ganz beeindruckt.«
»Okay.«
»Da ist sicher die Hölle los, also komm erst mal zur Ruhe und schlaf schön später.«
»Ja … ihr auch«, sagt Ben. »Schlaft gut, drück Marlene von mir.«
Er lässt das Handy sinken. Läuft die breite Treppe hinunter zu einer der schwarzen Limousinen, die mit laufenden Motoren warten. Er steigt ein. Nennt den Namen seines Hotels. »Weiß schon Bescheid«, sagt der Fahrer.
Weiß schon Bescheid.
Während der Fahrer anfährt, hat Ben das Gefühl, eins zu werden mit der Nacht.
Der Anruf weckt ihn, er liegt auf dem Sofa, auf der Schwelle zwischen Nacht und Morgen. Aber die Sonne scheint schon.
Er ist eingeschlafen, nachdem die Talksendung zu Ende gegangen war. Mit einem Gedanken daran, dass er Ben etwas fragen muss. Er weiß nicht, was. Er muss noch herausfinden, wie die Frage lautet. Es war nur dieser Gedanke da, während Ben gesprochen hat. Etwas an seinen Worten, an der Art, wie er sie ausgesprochen hat, hat ihn beschäftigt. Vielleicht den Mathematiker in ihm. Als sei in Bens Worten eine verborgene Gleichung angelegt. Eine, die nicht aufgeht. Nicht ganz.
Während er zum Telefon läuft, denkt er, dass die Sonne schon scheint. Er denkt es mehr, als dass er es wahrnimmt, aber es stimmt. Die Sonne bricht durch die Fenster, sanft, auf leisen Sohlen. Er hält für Sekunden inne, als er sieht, dass er nichts sieht. Ein Anrufer ohne Rufnummernkennung. Dann nimmt er das Gespräch entgegen. Lauscht. Für eine Weile.
»Ja«, sagt er dann.
Der Raum verengt sich. Die Wände steuern auf ihn zu. Langsam. Behutsam, wie die Sonne draußen, die sich schleichend mit dem anbrechenden Tag vereint.
»Ja«, sagt er noch einmal.
Hört zu. Kneift die Augen zusammen. Schließt sie. Steht für eine Weile so da. Betrachtet den Teppich draußen, den See. Erinnerungen zucken auf, graue Bilder, grau auf gelb, auf dunkelblau.
Reisen, denkt er. In der Zeit. Der Gedanke weicht nicht, obwohl er vage bleibt. Reisen. Ankommen. Etwas Neues tun, etwas anderes. Eine Gleichung lösen, die nicht aufgeht, eine Aufgabe, deren Fragestellung einen Fehler enthält.
Einen Ort suchen, den es nie gab.