let autumn live

another dream

Landmann

Es ist hell und klar und warm. Die Konturen der Dinge scharfkantig und zum Greifen nah.

Landmann fährt einige Minuten lang schmale Wege entlang, biegt mehrfach ab, spürt beiläufig einen Schmerz in den Armen, wenn er lenkt. Dann, nachdem er die Autobahnauffahrt hinter sich gelassen hat und auf die weite Fläche geglitten ist, muss er nicht mehr lenken. Immer geradeaus. Bunte Gefährte fahren, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, auf drei breiten grauen Spuren. Alle folgen derselben Richtung.

Es fühlt sich an, als würde es kein Zurück geben, aber das ist ein falsches Gefühl, denn links von ihm befindet sich eine dreispurige Autobahn, die zurück nach Wiesbaden führt. Würde er die nächste Ausfahrt nehmen, wäre er bald zurück. Wäre es die übernächste, würde es entsprechend länger dauern. Und so weiter.

Der Zweifel, den er empfindet, hat keinen Bestand. Natürlich nicht. Er denkt darüber nach, in Kreisen, in kreisrunden Bahnen, während er sich langsam annähert. Minute um Minute, Kilometer für Kilometer. Dann verschwimmen die Minuten, die Kilometer fransen aus. Alles wird beliebiger, weicher, während die Sonne müde am Himmel hängt.

Mathematik, denkt er. Es hat eine Zeit gegeben, in der er die Mathematik für sich entdeckt hat. Als Mathematiker galt er auch den Kollegen. Es schmeichelte ihm. Er war der Klardenker. Der Analyst. Bei Tatort-Begehungen hat er irgendwann begonnen, diesen Mann, den Klarsichtigen, bewusst zu verkörpern. Er hat begonnen, sich selbst zu spielen. Den Menschen, der er tatsächlich ist, in einer Art Überhöhung zu interpretieren. Das war manchmal anstrengend, hat aber seinen Nimbus befördert, seinen Ruf gestärkt, fast einen kleinen Mythos begründet. Hat die Art und Weise geprägt, wie andere ihn sehen. Bis heute sehen, seit seiner Pensionierung eher noch mehr als in der Zeit seiner Tätigkeit. Landmann. Hauptkommissar a.D. Mathematik.

Als er ankommt, sind Stunden vergangen. Zeit hat sich aufgelöst. Ist verflossen, um nicht zurückzukehren. Für Momente stellt er sich vor, einen Würfel Zeit in der Hand zu halten, genau den Würfel Zeit, der vergangen ist, während er aus Wiesbaden hierhergefahren ist.

Dann hat er, für Sekunden, Barbara vor Augen. Auch sie materialisiert sich, wird Masse, gewinnt Gestalt. Steht ihm vor Augen, grau auf schwarz. Ihre Konturen, ihre Silhouette. Eine Ahnung von ihr. Einmal hat sie gesagt, dass er sie gar nicht kennt. Dass er keine Ahnung davon hat, wie sie wirklich ist. Das hat ihn überrascht.

Er hat geschwiegen und an ihr vorbei in den Himmel gesehen und dann auf den dunkelblauen See, in dem Barbara gerne geschwommen ist, vor allem als Kind. Die Sonne schien hell. Fast, als wolle sie ihn blenden.

Er nimmt die Reisetasche aus dem Kofferraum, sie wiegt leicht, als er sie über die Schulter wirft. Er hat nur das Nötigste eingepackt. Er kann sich gar nicht daran erinnern, was in der Tasche ist, was er hineingelegt hat. Vielleicht ist sie leer. Vielleicht hat er nur eine Tasche mitgenommen, das Gepäck vergessen.

Die Türen öffnen sich wie von Geisterhand, als er näher tritt. Das Gebäude saugt ihn ein, die Lobby ist weitläufig und liegt im Schatten. Es ist angenehm kühl, sommerlich kühl. Eine Kühle, die von der Hitze erzählt, die unter der Sonne herrscht.

Die junge Frau an der Rezeption trägt eine Uniform. Orange. Sie lächelt. Ein wenig wie der Wettermann.

»Hallo«, sagt sie.

Er sieht sie an. Sucht ihren Blick.

»Landmann«, sagt er. »Es müsste reserviert sein. Ich habe angerufen, heute früh.«

»Ja, genau«, sagt sie. »Herr Landmann.«

Er nickt.

Sie betrachtet einen Bildschirm, reicht ihm eine weiße Karte.

»Zimmer 57«, sagt sie. »Fünfter Stock. Die Aufzüge sind hier gleich links, da finden Sie auch unser Restaurant. Frühstück von 6.30 bis 10 Uhr. Das WLAN ist kostenfrei.«

»Gerne«, sagt sie.

Er läuft zum Aufzug, wartet, steigt ein, wird angehoben. Läuft durch den Flur im fünften Stock, sein Blick streift die Nummern der Zimmer. 51, 52, 53, 54.

Der Flur ist weinrot.

Rot wie der Wein, den er getrunken hat, mit Barbara.

Zimmer 57.

Irgendwann.

In einem Würfel, er war angefüllt mit Zeit.

Ben

Hauptbahnhof Berlin. Überall Menschen, die er nicht kennt, aber er hat das Gefühl, sie würden ihn erkennen. Starren ihn an, lächelnd, böse, beiläufig. Dann sieht er tatsächlich ein bekanntes Gesicht. Jetzt ist er es, der den anderen anstarrt. Er kann ihn nicht zuordnen. Kennt ihn, ohne ihn zu kennen.

Er begreift. Es fühlt sich nach Erleuchtung an. Erleuchtung, die kein Licht bringt. Eine Stimme, die ihr Gesicht nicht findet.

»Herr Meininger«, sagt Ben.

Der Mann wendet sich von den Gleisen ab. Betrachtet ihn, mit gerunzelter Stirn.

»Mein Name ist Neven«, sagt Ben. »Ich bin Polizist. Und

Der Mann, Dirk Meininger, nickt. Schweigt. Im Fall Ihres Sohnes, denkt Ben. Bilder zucken auf, aus der Nacht. Er hat im Hotel auf dem Bett gesessen. Der Laptop zugeklappt auf dem Tisch, der Fernseher stumm. Die Stille war mit Worten durchmischt. Worte, die gesprochen worden waren. In der Talksendung. Er hat noch einmal alles ablaufen lassen, wie von einem Tonband, aber leise, wie geflüstert.

»Ja«, sagt Dirk Meininger.

Ben streckt die Hand aus, reicht sie ihm. Meiningers Hand liegt weich in seiner. Entzieht sich, aber behutsam, so, als wolle Meininger in Wirklichkeit nicht loslassen. Nie mehr loslassen.

»Sie … hatten auch zu tun, in Berlin?«, fragt Ben.

»Ja«, sagt Meininger. »Ja.«

Ben nickt. Dann begreift er, dass es keine weiteren Worte gibt. Nicht ein einziges. Meininger nickt. Der Zug fährt ein. Für Momente denkt Ben, dass der Lärm alles wegschwemmen wird. Einfach alles. Sobald sich der Lärm gelegt hat, werden sie gemeinsam im Nichts stehen, er und Dirk Meininger. Das Nichts ist ein weißer Raum. Oder blau, grün, gelb. Grau.

»Ja«, sagt Meininger dann, während die Türen sich öffnen und die ersten einsteigen. »Ich suche dann mal …«

Ben nickt, und Meininger ist schon einige Meter weit gelaufen. Um seinen Platz zu suchen. Den er nicht finden kann. Weil die Worte fehlen. Weil nur noch eines da ist, das auszusprechen sich verbietet. Jannis.

Ein neuer Tag. Ein neuer Morgen, der dem Mittag weicht. Ein neuer Mittag, der vergeht. Pommes mit Ketchup. Menschen sitzen vor ihren Wohnwagen und grillen, Kinder springen ins giftgrüne Wasser des Sees.

Wenn er nicht aufpasst, wird auch der Nachmittag sich verabschieden, ohne dass eine verdammte Sache erledigt ist. Weil seine Gedanken stillstehen. Weil er sie einfach nicht in Bewegung bekommt. Also, die Sache ist die: Möge die verdammte Dreckssonne endlich untergehen. Aber nein, das wird sie nicht. Nicht so bald.

Er wendet den Blick dem Fenster zu. Dem kleinen Quadrat, das am Himmel zu kleben scheint, weil die helle Fassade des Hochhauses in der Sonne verblasst. Holdner stellt sich Folgendes vor: Er könnte dieses kleine Quadrat, dieses Fenster, in seine Hände nehmen, und mit ihm den ganzen Raum, der sich dahinter verbirgt, nämlich Markos Zweizimmerwohnung, und dann könnte er das ganze quadratische Paket hinübertragen zum grünen See, in dem vereinzelte Camper-Kinder baden, und in den Untiefen dieses Wassers würde er die ganze kleine Wohnung einfach versenken.

Auf Nimmerwiedersehen. Mitsamt ihrem einzigen Bewohner, Marko. Und allem, was sich sonst noch so darin befindet. An diesem schönen Sonnentag.

Der Gedanke kommt und geht, verblasst, trübt sich ein, wie die Fassade des Hochhauses.

»Kriegen wir Geld für Eis?«, ruft Laura vom Spielplatz.

Laura kommt angerannt. Nimmt die Münzen, die Holdner ihr reicht. Für den Bruchteil einer Sekunde ihre Haut an seiner Hand.

»Danke!«, sagt sie und ist schon wieder weg.

Er sieht den beiden nach, Laura und Simona, sieht, wie sie um die Ecke rasen, zum See, zum Kiosk. Eis. Vermutlich Wassereis. Am Stil. Waldmeister, Zitrone. Himbeere. Das mag Laura am liebsten.

Holdner schließt die Augen. Spürt umso intensiver die Sonne auf seinem Gesicht. Er weiß, dass er eine kleine Fahrt unternehmen muss. Eine Spritztour ins Grüne. Vorkehrungen treffen.

Er ist lange nicht an diesem Ort gewesen, da, wo der Wald sich eröffnet, als wolle er sich von sich selbst befreien, vom Dickicht. Dort, wo der Wald einen freien Raum preisgibt, eine unerwartete Lichtung, einen hellen, lichten Moment, nur für ihn, Holdner.

Landmann

Er sitzt auf dem weißen Bett. Wartet auf einen Impuls. Worte bahnen sich einen Weg, klingen dumpf in ihm nach. Worte, die er gehört hat, am Morgen. Er hat wenig gesprochen, mehr zugehört, als der Polizist anrief. Der Polizist hat seinen Namen genannt, aber Landmann hat ihn vergessen. Das ist ihm selten passiert. Vielleicht nie. Er hat ein sehr gutes Gedächtnis. Nicht zuletzt für Namen.

»Ja«, hat er entgegnet.

»Wir haben das Handy von Frau Haller ausgewertet. Barbara Haller. Ist es richtig, dass Sie der Vater sind?«

»Ja«, hat er entgegnet. Hat dem Wort nachgelauscht.

Dann hat der Polizist berichtet. Landmann hat zugehört. Worte, die im Raum schweben, ihren Platz finden, eine Aussage kristallisiert sich heraus, eine Nachricht.

Er hat geschwiegen.

»Herr Landmann?«

»Ja.«

Der Polizist, am anderen Ende der Leitung, hat gezögert.

»Ja, ich verstehe«, hat Landmann gesagt.

»Wir würden gerne, wenn das möglich ist, mit Ihnen …«

»Das ist möglich«, hat er gesagt. »Ich fahre gleich los. In zehn Minuten.«

Während er am Fenster gestanden hat, mit dem Telefon in der Hand, hat er darüber nachgedacht, warum er das gesagt hat. Warum zehn Minuten? Warum nicht zwanzig? Dreißig? Fünfzehn? Fünf?

Zehn Minuten, das ist wenig Zeit. Aber ausreichend. Er hat nicht auf die Uhr gesehen, aber wenn er jetzt zurückdenkt, wenn er versucht, einzuschätzen, wie viel Zeit er tatsächlich benötigt hat, dann vermutet er, dass es weniger war. Er hat für eine Weile am Fenster gestanden. Dann, nachdem er sich vom Fenster abgewendet hatte, mit einem Ruck, der durch seinen Körper ging, hat er vermutlich nur noch wenige Minuten gebraucht, bevor er in den Wagen gestiegen und losgefahren ist. Hat nur eine Tasche gepackt.

Jetzt steht er auf, tritt ans Fenster heran. Ein anderes Fenster, eine andere Tageszeit. Am Morgen hat er in Wiesbaden am Fenster gestanden. Jetzt steht er hier. Am Fenster seines Hotelzimmers, das funktional und sauber ist.

Ein Flachbildfernseher, ein Teekocher, eine Minibar. Gummibärchen auf weißen Kissen, zur Begrüßung. Für Momente schießt ihm durch den Kopf, dass er sie Barbara mitbringen könnte. Die Tüte mit den Gummibärchen. Barbara hat gerne Gummibärchen gegessen. In einer anderen Zeit, an einem anderen Tag. Aber wer einmal gerne Gummibärchen isst, isst immer gerne Gummibärchen. Würde er Barbara die Gummibärchen mitbringen und könnte Barbara sie entgegennehmen, würde sie sich vermutlich freuen. Würden sie ihr vermutlich schmecken.

Er betrachtet die bunten Gummibärchen, auf dem weißen Kissen. Bunt ungleich weiß.

Er wendet sich ab und läuft. Zur Tür. Öffnet sie, den Flur entlang zum Aufzug, in der Lobby streift sein Blick die junge Frau an der Rezeption. Er tritt ins Freie, läuft zu seinem Wagen. Barbaras Handy haben sie ausgewertet. Die Polizisten. Er versucht, sich die Polizisten vorzustellen. Die Szenerie. Ein Handy auswerten. Barbara hat ihre PIN immer auf die Rückseite ihrer Smartphones geklebt. Weil sie so vergesslich war.

Sie haben dann also seine Nummer gefunden. Vermutlich auch die letzte Nachricht, die er versendet hat. Eine Nachricht, die ihren Empfänger nicht fand. Er hat es

Seine letzte Nachricht war ein Daumen, der nach oben deutete. Nachdem Barbara ihm geschrieben hatte, dass sie jetzt klarer sehe. Dass sie die Schauspielschule abbrechen werde, um etwas Neues zu beginnen. Was denn? Hat er gefragt. Habe ein paar Sachen vor Augen, hat sie geantwortet. Daraufhin hat er einen Daumen nach oben versendet. Barbara fand es lustig, dass er Emojis schickte. Keiner in ihrem Freundeskreis schicke so viele Emojis wie er. Und die seien alle jünger. Logischerweise.

Keine Sonne und keine Blume. Vielleicht wäre das besser gewesen, eine Sonne zu verschicken.

Eine Blume.

Ein lächelndes Gesicht.

Ben

Der Zug fährt zügig voran, durchstößt die Sekunden, lässt die Minuten zur Seite wegsacken, beiläufig, wie lästige Kieselsteine. Ben studiert die aktualisierte Fallakte im Intranet, die Verbindung ist schlecht, aber ausreichend. Von Zeit zu Zeit streift ihn der Gedanke, dass der Mann, für den dieser Fall ein ganzes Leben ist, nur wenige Meter entfernt in einem Waggon dieses Zuges sitzt. Dirk Meininger. Vielleicht macht er sich gerade auf den Weg, in den Speisewagen, um einen Kaffee zu trinken. Oder ein kühles Wasser.

Ben trinkt beides, einen Kaffee, ein Wasser. Er ordert

Er widmet sich wieder der Akte, liest, dass inzwischen die konkreteren Hinweise gegengeprüft wurden. Weder der Junge, Lars May, noch die ältere Dame, die ausgesagt hat, Jannis Meininger und den Unbekannten in der Umgebung der Schule gesehen zu haben, konnten einen der Männer, die aus den Hinweisen herausgefiltert wurden, zweifelsfrei zuordnen. Natürlich nicht. Wie soll Lars May, konfrontiert mit einer Reihe von Fotos, den Mann wiedererkennen, dessen Blick ihn gestreift hat, vor Jahren? Den er als Teddybären abgespeichert hat, als Bären, der ihm einen Tiger schenken wollte. Inzwischen liegt eine Liste der Ketten vor, die die Teddys verkaufen. In Deutschland. In Österreich. Es sind recht viele, allein in Wiesbaden und Umgebung mehr als zwanzig.

Der Zug fährt träge an. Nimmt Fahrt auf. Dann rast er, als sei er auf der Flucht. Als Ben den Blick vom Display seines Handys abwendet, blickt er in die Augen von Dirk Meininger. Zum ersten Mal erkennt er unmittelbar die Ähnlichkeit. Vater und Sohn. Der Sohn hat Dirks Augen. Kein Kuckuckskind, denkt Ben. Als sei damit immerhin schon etwas geklärt, als sei er einen Schritt vorangekommen. Er weiß nicht, wer zuerst den Blick abwendet, Meininger oder

Jannis

Er ist in einem Zwischenraum. Zwischen der Sonne und dem Schatten. Zwischen der Schule und dem, was danach kam. Zwischen dem Tag und der Nacht. Die Schule ist grau, der Rasen grün, die Tische weiß, die Leute sind hell, die Sonne ist gelb.

Der Raum, in den er das Playmobilschiff gebracht hat, ist dunkel. Aber nicht unangenehm dunkel. Eher angenehm kühl, weil es draußen so heiß ist. Da sind Mama, Sarah und eine Frau, die mit Mama redet. Sarah sieht sich die Sachen an, die es zu kaufen gibt. Kaut einen Kaugummi. Ihr Lächeln streift ihn, dann rennt er nach draußen. Raus, in die Hitze, ins Helle. Er läuft an den Tischen entlang, überall bunt. Bunte Sachen. Bunt. Alles ist bunt. Die ganze Welt. Der Teddy ist hell, hellgrau, fast weiß. Heller als alles andere. Jannis ist wie geblendet.

Er läuft, nimmt den Teddy, nimmt die Hand, denkt darüber nach, was er sagen wird, wie er allen sagen wird, dass das sein Teddy ist, dass er ihn gewonnen hat, weil er bei irgendetwas der Beste war, bei irgendeinem Wettbewerb. Seine Gedanken verlieren sich, und dann denkt er noch, dass er gar nicht hier laufen sollte, dass er sich entfernt von den anderen, von den Tischen, von der Schule, von Mama, Sarah, dann wird es komplett dunkel.

Landmann

Als er ankommt, erkennt er das Haus sofort wieder. Ein Mehrfamilienhaus, die WG ist im ersten Stock. Als er zuletzt hier gewesen ist, hat Barbara mit drei Mitstudentinnen aus der Schauspielschule hier gewohnt. Wie lange ist das her?

Er geht die Monate in Gedanken durch, reist in der Zeit zurück. Früh im Jahr, Schnee. Januar. Mitte Januar. Sie haben am Küchentisch gesessen und über Barbaras Pläne gesprochen. Sie hat ihm erzählt, dass sie im Mai in einem Theaterstück an der städtischen Bühne mitwirken werde. Er hat in Erwägung gezogen, zur Premiere zu kommen. Er weiß nicht mehr, warum er es nicht getan hat.

Hat sie ihn noch einmal daran erinnert?

Er fährt an dem Haus vorüber. Sieht, dass die Eingangstür offen steht, sieht Männer, die nur Polizisten sein können. Zwei kommen heraus, einer geht hinein. Sie nicken einander zu, wechseln Worte.

Worte, denkt er, während er den Parkplatz ansteuert. Was hat der Polizist gesagt, am Vormittag, am Telefon?

»Ja«, hat er entgegnet.

»Der Nachname …«

»Sie trägt den Nachnamen ihrer Mutter. Wir waren nicht verheiratet. Was …«

»Ich muss Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass wir Ihre Tochter tot aufgefunden haben. In ihrer Wohnung.«

Er hat geschwiegen. Nicht verstanden, obwohl die Aussage eindeutig war.

»In der Sandgasse 15«, hat der Polizist gesagt, am anderen Ende der Leitung.

»Ja«, hat er gesagt. Genau, da wohnt sie, hat er gedacht. Er hat den Namen der Straße immer irgendwie als eigenartig empfunden. Als sei ein Strand in der Nähe, aber die Straße ist mitten in der Stadt. Er hat geschwiegen, keine Worte gehabt.

»Wir wissen noch nicht, was genau passiert ist. Es gibt aber keine Hinweise auf Fremdverschulden.«

Er hat die Augen zusammengekniffen. Fremdverschulden? Was?

»Um ehrlich zu sein, wir wissen einfach noch nicht, was passiert ist. Wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu Frau Haller?«

Er hat darüber nachgedacht. »Vor etwa einer Woche«, hat er gesagt.

»Haben Sie sie getroffen?«

»Nein. Nein. Wir haben Nachrichten gewechselt. Auf dem Handy.«

»Verstehe.«

Eine Woche, hat Landmann gedacht. Seit einer Woche

»Ich habe seit einigen Tagen versucht, Barbara zu erreichen. Das Handy war auch angeschaltet, aber … ja … sie ging nicht ran.«

»Das Handy hing am Strom«, hat der Polizist gesagt.

Der Satz hallt nach. Die Bedeutung dahinter. Wenn das Handy am Strom hängt, wird der Akku nicht entladen. Warum sagt der Polizist das? Wann … wann …

Wann …

»Ich muss Ihnen sagen, dass Ihre … Tochter für einige Zeit in der Wohnung gelegen hat«, sagt der Polizist.

Ein Gedanke ist eingerastet. Der Gedanke ist schwarz gewesen.

Landmann hat gewartet. Auf irgendein Wort.

»Herr Landmann?«, hat der Polizist gesagt.

Jetzt steigt er aus dem Wagen und fragt sich, ob er den Mann, mit dem er telefoniert hat, erkennen wird. Die Stimme klang jung, aber das muss nichts heißen.

Er geht auf das Haus zu. Es gewinnt an Größe, mit jedem Schritt, den er macht. Ein gelbes Haus, angestrahlt von einer hellen Sonne. Dann steht er davor. Unschlüssig. Fragend. Unfähig, den nächsten Schritt zu machen. Vage Erinnerungen zucken auf.

»Herr Landmann?«

Er dreht sich um. Sieht einen jungen Mann. Erkennt die Stimme.

»Ja«, sagt er.

»Wir haben telefoniert. Jens Brunner.«

»Ist Barbara …«

»Sie ist bereits in der Gerichtsmedizin. Sie wird morgen obduziert. Eine Identifizierung auf Basis von Fotos in der Wohnung war möglich, aber wir würden Sie dennoch darum bitten wollen …«

»Natürlich«, sagt Landmann.

Natürlich. Natürlich. Natürlich. Er nickt. »Kann ich die Wohnung sehen?«

»Ja. Sicher«, sagt der junge Polizist. Brunner. Jens. Jetzt hat er den Namen vor Augen, um ihn nie wieder zu vergessen.

Er läuft. Er geht voran. Der junge Polizist folgt ihm, und Landmann kneift die Augen zusammen, ist plötzlich in seinem Element, ist der Leiter der Ermittlungen, nimmt zwei Stufen mit einem Schritt, betritt die Wohnung. Dann verpufft der Moment. Er hält inne, weicht zurück, steht auf der Schwelle. Er betrachtet die schweigenden Männer, die im Raum stehen. Augen sind auf ihn gerichtet.

»Das ist Herr Landmann«, sagt Jens Brunner, der jetzt neben ihm steht. »Der Vater der Toten.«

Etwas in ihm zerbricht.

Vater der Toten.

»Herr Landmann?«

Das ist Brunners Stimme. Sie wabert aus der Ferne auf ihn zu. Landmann kneift wieder die Augen zusammen, stellt seinen Fokus neu ein. Der Flur, rechts die Küche, links hinten das erste Schlafzimmer, daneben das zweite, daneben das dritte, rechts hinten das Badezimmer. Er spult

»Es geht«, sagt er. »Danke.«

Er läuft. Ein Gedanke steht im Raum, eine Frage. Er geht in die Küche, hört Brunners Schritte in seinem Rücken.

In der Küche bleibt er stehen, betrachtet den schmalen Tisch. Am Kühlschrank kleben kleine quadratische Zettel in allen Farben. Mit krakeligen Notizen.

»Ihre Tochter war allein in der Wohnung«, sagt Brunner. »Wir haben zwei ihrer Mitbewohnerinnen im Urlaub erreicht. Sie sind gemeinsam in Italien.«

Landmann nickt.

»Die dritte, Frau Bahia, haben wir noch nicht erreicht, aber nach Aussage der beiden anderen ist sie bei Verwandten in Tunesien.«

»Ja«, sagt Landmann. Lea Bahia. Sie stammt aus Tunesien. Die beiden anderen? Lisa und Lara. L plus L plus L. Barbara hat darüber gelacht, als sie ihm vor einigen Monaten von ihren aktuellen Mitbewohnerinnen erzählt hat. Im Januar. Sie haben am Tisch in der Küche gesessen, roten Wein getrunken, draußen fiel weiß und flockig Schnee.

»Die beiden, die wir erreicht haben, wollen ihren Urlaub abbrechen. Sie waren … zutiefst schockiert«, sagt Brunner.

Landmann sieht ihn an. Er hat Fragen. Oder nicht? Eine steht im Raum. Nein, sie liegt. Liegt quer.

»Wo … wurde sie … aufgefunden?«

»Hier. In der Küche«, sagt Brunner.

Stille. Brunner schweigt und seine Kollegen, zwei in weißen Überwürfen der Kriminaltechnik, halten inne.

»Hat Ihre Tochter, als Sie zuletzt mit ihr sprachen, irgendwas gesagt, das uns weiterhelfen könnte?«, fragt Brunner.

Die Worte klingen nach. Er gleicht sie mit seinen eigenen ab. Ähnlich hat er die Frage gestellt. Ungezählte Male. Er war Ermittler. Er hat Menschen befragt, denen Schlimmes widerfahren ist.

Was, denkt er.

Was. Ist. Passiert?

»Nein«, sagt er.

»Wir wissen, wie gesagt, noch nicht, wie genau Frau Haller … Ihre Tochter … aber können Sie uns sagen, ob sie irgendwann einmal in Behandlung war? Möglicherweise im Kontext einer klinischen Depression?«

Nein, denkt er. Aber er wartet. Horcht in sich hinein. Ist er sich sicher? Was weiß er eigentlich? »Nein. Meines Wissens nicht. Absolut nicht, sie war sehr fröhlich.«

Das stimmt. Er speichert den Gedanken ab, weil er stimmt. Hinterlegt ihn. Um ihn später weiterdenken zu können.

»Gibt es denn …«

»Nein«, sagt Brunner.

Er versteht meine Fragen, bevor ich sie stelle. Wie die Frau an der Rezeption im Hotel.

»Nein, wir haben nichts gefunden. Keinen Abschiedsbrief«, sagt Brunner. »Es ist möglich, dass es ein Unfall war. Es ist im Moment unsere wahrscheinlichste Option.«

Kein Abschiedsbrief.

»Die Kohlenmonoxid-Konzentration in der Wohnung war zum Zeitpunkt des Auffindens leicht erhöht. Allerdings haben die Techniker bislang keinen Defekt an der Gastherme feststellen können.«

Des Auffindens, denkt Landmann. Zeitpunkt. Die Worte bleiben kleben, hinter der Stirn.

»Ich muss gestehen, dass ich mich damit nicht auskenne und hier auf die Expertise der Techniker angewiesen bin«, sagt Brunner. »Die Obduktion des Leichnams ist auf morgen Vormittag terminiert.«

Leichnams.

Terminiert.

Rätsel, denkt er. Rätsel. Er ist ja derjenige, der die Rätsel löst. Er ist Landmann, der Klardenker, der Mathematiker. Aber was, wenn …

Eine Angst keimt auf, noch nicht ganz greifbar. Dass er den Fall nie lösen wird. Ausgerechnet diesen. Diesen einen.

»Ich war auch Polizist«, murmelt er.

Holdner

Nachmittag. Bald wird die Erde schmelzen. Der blaue Himmel wird sich herabsenken, die grelle Sonne ihre Arme ausstrecken und diesen Planeten einfach zermalmen. Dann ist ohnehin alles egal.

Das Bild hängt schief in seinem Hirn, unvollendet. In

Er sitzt in seinem glühend heißen Wagen und sucht die Umgebung ab. Die weite Fläche, den schmalen Pfad, der direkt auf die akkurat stehenden Bäume zusteuert, auf den Rand des Waldes. Der Wald wird ihn verschlucken, wird ihn zerkauen und ausspeien. Wenn er jetzt losfährt, auf die Bäume zu, in den Wald hinein.

Er fragt sich, woher diese Bilder kommen. Übersteigerte Fantasien, überdosiert. Hysterisch? Ist er außer Kontrolle? Darüber sollte er in aller Ruhe nachdenken. In aller Ruhe in Betracht ziehen, dass er hysterisch ist, dass ihn die Angst gepackt hat, dass sie ihn am Wickel hat. Wie man so sagt.

Oder? Er lacht. Auch Lachen kann eine Folge von Hysterie sein. Man lacht, um die Panik zu überspielen. Man lacht oder man schweigt oder man steht einfach nur da und nickt, so wie Marko, dieser Volldepp.

Hat genickt und die Polizisten angestiert, als sei er nicht ganz bei Trost. Was er natürlich auch nicht ist. Wo ist Marko? Im Supermarkt. Holdner hat ihm noch nichts gesagt. Wird ihn später in seine Pläne einweihen. Wenn die Zeit reif ist. Er kann jetzt keinen Idioten an seiner Seite brauchen, der dumme Fragen stellt.

Marko ist im Supermarkt, Getränkekisten stapelnd. Das ist ganz in Ordnung so.

Dem Jungen hat er etwas zu trinken und zu essen gebracht. Er war halb wach. Benommen. Hat ihn kaum wahrgenommen. Holdner hat geschwiegen, seine Maske getragen. Gleich anschließend ist er in sein Büro gegangen und

Sein nächster Schritt führt in den Wald hinein. Es ist eine fast gerade Strecke, er wird sie fahren, Schritt an Schritt reihen, in Schrittgeschwindigkeit. Er steigt aus, blickt sich noch einmal um. Eine weite Fläche, weit und breit niemand. Er steigt ein, fährt los. Die Bäume nähern sich an, still und schweigend, Verbündete. Als er in ihren Schatten eintaucht, ist das Gefühl plötzlich ein gutes, anderes. Er wird nicht verschluckt, um ausgespuckt zu werden, nein, er verschmilzt mit Schatten, die ihn willkommen heißen. Er fährt, in die Dunkelheit hinein, wohl wissend, was ihn am Ende des Weges erwartet. Er weiß es, sieht es vor Augen, Sekunden, bevor er ankommt, und er denkt, dass er zu lange nicht hier gewesen ist.

Die Lichtung.

Es ist wie Zauberei. Eine Zauberwiese. Etwas, das gar nicht da sein kann, aber es ist da. Sein Raum, eine Lichtung, die heller ist als der andere Raum, der, in dem er losgefahren ist. Es ist Jahrzehnte her, seitdem er diesen Ort entdeckt hat, zufällig, damals war er mit dem Fahrrad unterwegs, allein, als ihn seine Gedanken eingeengt haben und er das Gefühl hatte, rauszumüssen, weg. Und gefunden hat er diese, von Sonne angestrahlte, strahlend helle Lichtung in einem dunklen Wald, ein wenig außerhalb, eine knappe Stunde entfernt von allem anderen, ein Wald, den nur er zu kennen scheint.

Er steigt aus, bleibt für eine Weile stehen, betrachtet die Fläche, schließt die Augen, öffnet sie. Dann geht er zur

Der Gedanke fühlt sich merkwürdig angenehm an, bedeutend angenehmer, als er befürchtet hat.

Landmann

Sie fahren eine breite Straße entlang. Er sitzt auf dem Beifahrersitz. Brunner schweigt. Dann biegt er auf einen großen Parkplatz ab. Landmann betrachtet den flachen Bau, den er sofort zuordnen kann, obwohl er hier noch nie gewesen ist. Er sieht, dass in diesem Gebäude eine Gerichtsmedizin untergebracht ist.

Er folgt Brunner zum Eingang. Brunner telefoniert, er hört bruchstückhaft seinen Anteil am Dialog. Ja, sind da. Nein. Ja. Morgen Vormittag, das ist schon … ja … gut. Bis gleich.

Dann laufen sie einen Gang entlang, im kühlen Schatten. Vor einer Schwenktür hält Brunner inne. Landmann begreift etwas, aber es spielt keine Rolle mehr. Zu spät. Zu spät, um umzukehren.

Wohin würde er gehen, von hier aus?

Brunner wirft Landmann einen Blick zu, bevor er die Tür öffnet. Landmann läuft. Eine Frau kommt ihm entgegen. Mittleren Alters, klein, mit offenem Blick. Er gibt ihr die Hand. Sie spricht ihr Beileid aus.

»Ja. Danke«, sagt er. Vage geht ihm durch den Kopf, dass

Dann gleitet sein Blick ab. Senkt sich hinab auf ein neues Feld. So fühlt es sich an. Er müsste stehen, wo Brunner steht. Er kennt Brunners Gesichtsausdruck, hat ihn gespürt, auf seinem eigenen Gesicht, wenn er neben den Menschen in der Gerichtsmedizin stand. Mitfühlend, empathisch. Er hat sich diese Empfindung nie abringen müssen.

Jetzt ist es Brunner, der ihm zur Seite steht. Er, Landmann, steht am falschen Platz. Im falschen Moment. In der falschen Stadt.

Die Gerichtsmedizinerin hebt ein Tuch an.

Er verliert sich.

Findet sich wieder, für Momente, tritt näher heran, richtet seinen Fokus aus. Öffnet die Augen, schließt sie, öffnet sie.

Nein, denkt er.

Dann verliert er sich wieder.

Verschmilzt, wird eins mit dem leeren Raum, in den er hineingreift, mit beiden Händen, während er fällt.

Christian

Am Nachmittag gehen die Taucher ins Wasser. Mit einem kleinen Boot fahren sie raus, schweigsam, konzentriert. Christian steht am Ufer des Sees, der größer ist, als er in Erinnerung hatte. Er ist hier schon einige Male gewesen, das

Ein Naturschutzgebiet, eigentlich ist das Baden hier untersagt, aber er ist dennoch geschwommen, damals, mit seinen Freunden, nachdem sie hergezogen waren. Sein Vater hatte eine Stelle in Wiesbaden angetreten. Jetzt erinnert er sich. Er ist sogar von der schmalen Brücke gesprungen, die recht hoch über dem Wasser hängt, auf der anderen Seite, er kann die Brücke sehen, er sieht auch, dass jetzt, in diesem Moment, Kinder darauf balancieren, bereit zu springen. Sie haben gar nicht mitbekommen, dass hier, am anderen Ende des Sees, ein Polizeieinsatz stattfindet, und die polizeiliche Absperrung reicht bei Weitem nicht bis zu ihnen hinüber.

Zwei Welten, denkt Christian. In der einen springen Kinder lachend ins Wasser, in der anderen suchen Taucher nach einem toten Kind.

Er erinnert sich daran, an die Monate und Jahre nach Natalies Tod. Er ist mit Freunden hier gewesen. Ist eingetaucht. Er erinnert sich. Manchmal, nicht immer, aber manchmal hat er im Moment des Eintauchens an Natalie gedacht und daran, dass auch sie eingetaucht ist, in eine andere Welt, die er nicht kennt. Eingetaucht, um nicht zurückzukehren.

Dann ist er aufgetaucht, seine Freunde haben seinen Sprung kommentiert. A- und B-Note. Launiges Gerede, müßige Tage, kühles Wasser, später ein Eis essen.

»Schwimmen dahinten Kinder?«, fragt Malvi, der herangetreten ist, Christian hat ihn nicht kommen hören.

»Das ist doch hier verboten. Wieso ist denn die Absperrung nicht auf das ganze Gelände ausgeweitet worden?«

Christian schweigt. Er sucht das Wasser nach den Tauchern ab, die unter der Oberfläche verschwunden sind. Ein Bild schiebt sich vor seine Augen, er stellt sich vor, dass die Taucher fündig werden. Sie schieben einen Körper über das Wasser, zu zweit, behutsam, es ist nicht Jannis, es ist Natalie. So wie er sie in Erinnerung hat. Eine Silhouette, eine Ahnung. Die Taucher schweigen. Schweigend heben sie Natalie ins Boot. Christian möchte hinüberlaufen, aber er kann sich nicht bewegen.

»Tja«, sagt Malvi.

Das Bild vor Christians Augen zerplatzt. Malvi, denkt er.

Malvi.

Fünf.

Er wendet sich Malvi zu. Folgt seinem Blick.

Einer der Taucher ist aufgetaucht. Schüttelt den Kopf, um zu signalisieren, dass er vorläufig nichts gefunden hat. Kein Kind, keinen Jungen, niemanden.

Landmann

Er liegt am Boden. Hebt den Blick. Sieht die Gerichtsmedizinerin, die ihm ein Glas anreicht. Ein Glas mit Wasser. Oder Wodka? Einmal kam Barbara sturzbetrunken nach Hause, zwischen Nacht und Morgen, er hatte sich Sorgen gemacht.

Wie alt ist sie gewesen? An diesem Tag? Siebzehn, denkt er. Siebzehn oder sechzehn.

Er richtet sich auf. Findet Brunners Augen. Brunner sitzt in der Hocke. »Geht es?«, fragt er.

Landmann nickt, trinkt einen Schluck Wasser. Das Wasser schmeckt glasklar. So klar, dass er für Momente sicher ist, gleich zu begreifen. Alles. Klar zu sehen. Aber der Moment vergeht, und als er noch einen Schluck von dem Wasser trinkt, ist es einfach nur Wasser.

Eine Weile später sitzen sie in Brunners Büro. Die Sonne flutet in flachen Strahlen durch die Jalousien am Fenster. Landmann kann sich nicht daran erinnern, wie sie hierhergekommen sind.

»Herr Landmann, ich möchte einige Fragen stellen, zu Frau Haller«, sagt Brunner.

Landmann sieht ihn an. »Barbara«, sagt er.

»Ja. Barbara.«

Landmann nickt.

»Barbaras Mutter, Elise, ist kurz nach der Geburt verstorben. Ist das richtig?«

Landmann nickt. »Vor 26 Jahren.«

»Dann hat Barbara bei Ihnen gelebt.«

Aus a folgt b folgt c folgt d.

»Ja«, sagt Landmann.

Folgt e folgt f.

»Ging das denn? Sie als Polizist …«

»Das ging tatsächlich«, sagt Landmann. »Alles andere ist Klischee.«

»Ich hatte phasenweise eine Lebenspartnerin. Wir haben es ganz gut hinbekommen, denke ich.«

Phasenweise. Lebenspartnerin. Keines dieser Worte entspricht ihm, er drückt sich eigentlich anders aus. Weniger gestelzt. Aus seinem Mund spricht ein Fremder. Er fragt sich, ob Brunner das wahrnimmt. Ob er es erkennen kann. Ob Brunner ein guter Polizist ist. Ein Polizist, der in der Lage sein könnte, den Fall zu lösen. Aber welchen Fall?

Was. Ist. Passiert?

Eine Erinnerung zuckt auf. Elise. Der Moment, in dem er die Nachricht erhält, dass sie verstorben ist, wenige Tage nach der Geburt. Eine seltene Komplikation. Dieser Tag, die Tage danach. Der Tag, an dem er Barbara zum Auto trägt und nach Hause fährt, unter den Blicken der Krankenschwestern.

Die Jahre danach. Verschüttet. Er weiß nur noch, dass er irgendwann glücklich war. Glücklich, weil Barbara lebte.

Elises Tod, Barbaras Leben. X gleich y. An dem Tag, an dem Barbara gelernt hat zu lächeln, hat er gelernt zu weinen.

Holdner

Er arbeitet verbissen. So ist es immer gewesen. Wenn, dann richtig. Keine Kompromisse. Ganz oder gar nicht. Er rammt die Schaufel in die trockene Erde.

Er pusht sich, feuert sich an. Stöhnt, schreit. Aber leise, er fängt den Schrei ein, dämpft ihn ab, stellt sicher, dass er auf der Lichtung verweilt, so wie er selbst, nur sie beide, allein, er selbst und der Schrei.

Irgendwann richtet er sich auf, verlässt die Grube, steht am Rand, blickt hinab. Einen Meter und achtzig tief will er graben. Alles soll seine Ordnung haben. Er hebt den Blick, lässt ihn schweifen, lässt ihn wandern, über die Gräser, die kahlen Wege, bis hin zu den hohen grünen Bäumen, die still stehen.

Grillen zirpen. Laut. Merkwürdig, dass er es bislang nicht gehört hat. Grillen oder Insekten ähnlicher Herkunft. Jetzt richtet sich seine ganze Wahrnehmung darauf aus, während er den Blick weiter wandern lässt über die weite, trockene Fläche Boden. Dann betrachtet er wieder die Grube, fragt sich, wie es ihm gelungen ist, sie auszuheben. Er schwitzt kaum, ihm ist eher kalt. Vermutlich ist der Schweiß irgendwie eingetrocknet, bewirkt jetzt das Gegenteil von dem, was man erwarten sollte.

Alles ist anders als erwartet, das mag er nicht. Er mag es, wenn die Dinge einen geregelten Gang nehmen, im Rahmen seiner Wünsche und Vorstellungen. Nur nicht krank werden jetzt, denkt er. Keine Sommergrippe oder so einen Mist.

Er macht einen Sprung, zurück in die Grube. Für Momente denkt er, dass er umknickt, sich den Knöchel

Sarah

Am Abend kommt Papa nach Hause, Mama sitzt auf dem Sofa, und sie geht, ohne sich zu verabschieden.

Sie läuft zur Bushaltestelle. Der Bus kommt nach wenigen Minuten. Sie steigt ein, setzt sich in die hinterste Reihe und bemerkt beiläufig, dass sie ihre Monatskarte nicht dabeihat. Die ist in ihrem Schulrucksack. Sie ist sich sofort sicher, dass heute die Fahrkarten kontrolliert werden, was eigentlich eher selten passiert, alle paar Wochen mal.

Sie lehnt sich zurück. Weiter vorne sitzt Lukas, ein Junge aus einer der Parallelklassen. Wirft er hastige Blicke? Wendet sich ab? Einige Minuten vergehen, dann steigt der Mann zu, der die Fahrkarten kontrolliert. Sie muss unwillkürlich lächeln. Dann nistet sich ein Gedanke ein, ganz unmittelbar. Dass sie das gewusst hat. Wenn sie das weiß, dann kann sie auch andere Sachen wissen. Dann kann sie wissen, wo Jannis ist. Sie muss sich nur anstrengen, sie muss endlich nachdenken. Der Mann trägt eine Art Uniform und ein Gerät, mit dem er Karten scannen kann. Er steht bei ihr. Schweigt. Sie wartet.

»Fahrkarte?«, sagt er.

»Brauche ich nicht«, sagt sie.

»Fahrkarte bitte«, sagt er. Nicht freundlich, nicht unfreundlich. Aber freudlos, und das freudlose Lächeln ist auch schon wieder weg. Zum ersten Mal denkt sie darüber nach, wie dieser Mann eigentlich so lebt. Was er macht, wenn er nicht in diesem Bus die Fahrkarten kontrolliert. Wahrscheinlich Fahrkarten kontrollieren. In anderen Bussen.

»Mein Bruder ist verschwunden. Entführt. Vielleicht tot. Ich brauche keine Karte«, sagt sie.

Er steht einfach nur da. Nichts an ihm verändert sich, aber sie sieht, dass sich alles verändert. Eine Weile vergeht. Sie fängt einen Blick des Jungen auf, aus der Parallelklasse, Lukas. Der Junge wendet sich ab. Der Mann steht still. Ihr geht durch den Kopf, dass er so etwas noch nie gehört hat. Ausreden hat er vermutlich viele gehört, Erklärungen, vor allem von jüngeren Menschen, für die das sehr viel Geld ist, wenn sie Strafe zahlen müssen. Sarah hätte das Geld sowieso nicht. Beförderungserschleichung, so heißt das. So hat es der Mann mal genannt, als eine ihrer Freundinnen, Mia, schwarzgefahren war. Und es hat sechzig Euro gekostet. Hatte Mia eine Ausrede? Sarah weiß es gar nicht mehr genau, es ist eine Weile her, Jannis war noch da an diesem Tag, und es war früher Morgen, sie waren auf dem Weg zur Schule.

»Das …«, sagt der Mann.

»Es muss Ihnen nicht leidtun«, sagt Sarah. »Sie kennen meinen Bruder ja gar nicht.«

Der Mann steht regungslos. Es arbeitet in ihm. Der Bus

Sarah sieht aus dem Fenster, die Stadt gleitet vorüber, die Vororte, dann die Innenstadt. Endstation. Der Kontrolleur steigt aus. Lukas steigt aus. Der Fahrer dreht sich geduldig eine Zigarette, dann steigt auch er aus, und sie geht als Letzte.

Ben

Am Abend fährt er bei Landmann vorbei und findet das Haus verlassen vor. Landmanns Wagen ist weg.

Ben steht lange in der Einfahrt, betrachtet den glatten blauen See. Versucht, ihn telefonisch zu erreichen, aber es ist wieder nur die Mailbox. Er spricht eine Nachricht auf. Fügt ein, dass die Suche in einem an die Schule angrenzenden See nichts erbracht habe. Wartet. Dann unterbricht er die Verbindung, lässt das Telefon sinken und geht um das Haus herum. Eigentlich ist es merkwürdig, dass das noch nie passiert ist. Wann immer Ben Landmann besucht,

Er geht zur Terrasse, sucht die Fläche hinter den Fensterscheiben ab, obwohl klar ist, dass Landmann nicht da sein kann, denn sein Wagen ist auch weg. Auf dem Tisch im Wohnzimmer steht eine Tasse neben der aufgeschlagenen Tageszeitung. Ist er schon morgens losgefahren? Ohne die Tasse in die Küche zu bringen? Er wählt noch mal Landmanns Nummer, bricht ab. Setzt sich auf einen der Gartenstühle, mit Blick auf den See.

Für Momente zuckt der Gedanke auf, dass sie Jannis ja auch hier finden könnten, in diesem See. Dem schönsten See, den Ben kennt. Landmanns See. Obwohl es natürlich nicht Landmanns See ist, er grenzt nur unmittelbar an sein Grundstück an. Marlene hat hier vor einigen Jahren Schwimmen gelernt. Sie waren nicht oft alle zusammen bei Landmann zu Besuch, aber in diesem einen Sommer, vor einigen Jahren, kurz nachdem Landmann in Rente gegangen war, einige Male. Landmann hat Marlene erklärt, wie der Brustbeinschlag funktioniert. Marlene wollte lieber Freistil schwimmen, im wahren Wortsinn.

Ben lehnt sich zurück. Er wird noch eine Weile hier sitzen bleiben. Warten, obwohl er spürt, dass Landmann nicht kommen wird.

In der Nacht erwacht er mit dem Gedanken, dass es nicht gut ist, zu schlafen. Nicht richtig. Er richtet sich auf, unmittelbar hellwach. Die Nummer hat er in seinen Kontakten notiert, am späten Nachmittag, bevor er sich verabschiedet hat und mit dem Taxi zum Hotel gefahren ist. Brunner wollte ihn bringen, aber er hat abgelehnt.

Er tippt die Ziffern ein, wartet. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist leise und ein wenig belegt.

»Ja. Hallo?«

»Landmann hier. Es tut mir leid, um diese Zeit zu stören. Es geht um Barbara.«

Brunner schweigt.

»Ich habe versäumt, heute eine Reihe von Fragen zu stellen. Ich brauche einige Antworten.«

»Fragen Sie«, sagt Brunner.

»Unter welchen Umständen wurde meine Tochter aufgefunden? Wer hat die Polizei verständigt?«

Brunner schweigt. Zögert.

»Ein Nachbar hat einen merkwürdigen Geruch wahrgenommen«, sagt er schließlich.

Die Worte senken sich herab, rasten ein.

»Ja«, sagt Landmann. »Ich frage mich die ganze Zeit …« Er hält inne. Er weiß nicht, was er sich fragt. Was, was, was.

WAS. IST. PASSIERT.

»Ich verstehe das«, sagt Brunner.

»Ich verstehe, dass Sie in verschiedene Richtungen denken. Und es tut mir leid, dass ich Ihnen zurzeit einfach nicht sagen kann, was genau …«, sagte Brunner.

WAS. IST. PASSIERT.

»Wir stehen am Anfang«, sagt Brunner.

Anfang. Ende.

»Was wurde in der Küche gefunden? Im Bad? Medikamente? Alkohol? Irgendein …« Landmann schweigt. Nichts stimmt, denkt er. Nichts davon stimmt.

»Irgendwas … irgendeine Notiz.«

»Nein. Wie gesagt, kein Abschiedsbrief … falls Sie in diese Richtung …«

»Ja. Genau.«

»Ich hoffe, dass die Obduktion morgen näheren Aufschluss erbringen wird.«

Aufschluss. Erbringen.

»Wissen Sie, ob Ihre Tochter Drogen konsumiert hat?«

Stille. Auf der Schwelle. Zwischen Nacht und Morgen.

»Ja«, sagt Landmann.

»Ja?«

»Ja, das weiß ich. Sie hat keine Drogen konsumiert.«

»Sie sagen das mit großer Bestimmtheit.«

»Ja, die habe ich.« Tatsächlich. Endlich etwas, das er mit Gewissheit sagen kann. Er braucht mehr davon. »Ja, sie hasst Drogen. Sie ist so eine Art militante Gegnerin. Das wussten alle, auch die Freundinnen. Sie ist da sehr … ich weiß gar nicht genau, warum. Ich habe sie eigentlich nie in dieser Richtung beeinflusst, es war einfach so.«

Natürlich. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie haltlos Worte sind. Wie hinfällig. Jetzt begreift er es. Er mag Brunner. Intuitiv. Er glaubt an ihn. Ein guter Ermittler. Er hat ein Gespür dafür, er hat lange genug Ermittler ausgebildet. Hat ihnen gesagt, worum es geht.

Was Wahrheit ist.

Und wie sie einen Weg ans Licht finden kann.

Er stellt sich die Polizisten vor, die zuerst vor Ort waren. Uniformierte Polizisten, die nach dem Rechten sehen wollen, nachdem Nachbarn Alarm geschlagen haben. Die Polizisten betreten die Wohnung. Dann bleiben sie stehen, überrascht, auf der Schwelle zur Küche.

Landmann weiß nicht, warum, aber er stellt sich vor, dass es eine Frau und ein Mann waren. Eine Polizistin und ein Polizist. Beide haben nicht damit gerechnet. Haben vermutet, ein totes Tier zu finden. Dann hätte sich bald herausgestellt, dass die Bewohnerinnen der Wohngemeinschaft auf Reisen waren. Alle. Irgendwo. Am Meer. Mit Rucksäcken. Zelten am Strand.

Im Hintergrund steht ein Hausverwalter, der die Wohnungstür geöffnet hat. Was ist denn? Fragt er. Gehen Sie bitte, sagt die Polizistin. Warum denn? Fragt der Hausverwalter. Wir kommen auf Sie zu, sagt die Polizistin. Halten Sie sich bitte zur Verfügung. Ihr Kollege verständigt bereits die Kriminaltechnik. Ein Fundort. Potenzieller Tatort. Schauplatz eines tragischen Unfalls? Der Hausverwalter zieht sich

Landmann öffnet die Augen. Er ist in seinem Hotelzimmer. Auf dem Bett. Weiß das Bett. Das Telefon in seiner Hand. Am anderen Ende der Leitung schweigt Brunner. Am Fenster steht Barbara. Wendet ihm den Rücken zu. Er sieht ihre Silhouette. Ihren Schatten. Gleich wird sie aus dem Schatten heraustreten, auf ihn zukommen. Lachend.

»Herr Landmann?«, fragt Brunner.

»Sie hat gerne gelacht«, sagt Landmann und unterbricht die Verbindung.

Ben

Allein zu Hause. Svea hat eine Nachricht hinterlassen, sie musste kurzfristig auf Langstrecke, Los Angeles. Marlene übernachtet bei einer Freundin. Sie hat zwei Nachrichten geschickt, lächelnde Emojis, hat berichtet, dass die Freundin eine eigene Wasserrutsche im Garten hat und dass sie die Nacht über wach bleiben werden. Er hat mit einem lächelnden Gesicht und einem angehobenen Daumen geantwortet.

Er hat vergeblich versucht, Landmann zu erreichen. Hat die Verbindung unterbunden, sobald sich die Mailbox eingeschaltet hat. Dann ist er auf dem Sofa eingeschlafen, um mitten in der Nacht zu erwachen. Er weiß sofort, dass an Schlaf nicht mehr zu denken ist.

Erst mit einigen Sekunden Verzögerung begreift er, dass

Es ist Sarah Meininger.

Er wartet, bis die Melodie verstummt.

Sekunden vergehen, dann wird ihm die Ankunft einer Sprachnachricht angezeigt.

Er steht auf, geht nach unten, in sein Arbeitszimmer. Fährt den Laptop hoch, setzt den Speicherstick ein, lässt die Bilder laufen, lässt die Lust zu, schaltet seine Gedanken aus.

Später, als der Morgen schon dämmert, hört er Sarahs Nachricht ab. Hallo, hier ist Sarah Meininger. Ich wollte hören, ob es was Neues gibt. Ich war in der Stadt, habe aber Jannis nicht gefunden. Ich bin zum ersten Mal schwarzgefahren, im Bus, und niemand hatte etwas dagegen. Ich versuche es dann morgen noch mal. Also, nicht das Schwarzfahren, sondern anzurufen.

Christian

Als er ankommt, ist Nadine nicht da. Er bleibt für eine Weile im Wagen sitzen, sieht den Taxis dabei zu, wie sie Fahrgäste aufnehmen oder freigeben, der Nacht ausliefern. Zwei ältere Frauen laufen mit Rollkoffern auf das Hotel neben dem Bahnhofsgebäude zu, dessen Fassade in den dunklen Himmel hineinragt.

Der Platz neben dem Parkscheinautomaten ist leer. Niemand da. Für Momente zuckt der Gedanke auf, dass es der

Natürlich ist das ein Trugschluss, das Gelände ist videoüberwacht. Es würde vermutlich nur Minuten dauern, bis die Polizei eingreifen und ihn zur Strecke bringen würde. Er würde seine Marke zücken und darauf verweisen, dass er lediglich Beweismaterial habe sicherstellen wollen. Oder irgendetwas dergleichen. Vielleicht würde ihm sogar die Flucht gelingen, aber nur vorläufig, solange, bis die Bilder der Kameras ihn überführen würden. Es sei denn, sie wären so verwackelt und unbrauchbar wie die aus der Tiefgarage, von Jannis und dem Unbekannten. Der sein Gesicht abgewendet hat, im richtigen, falschen Moment.

Christian sucht die Fläche ab. Ein Parkscheinautomat, umgeben von Leere. Er lässt seinen Blick bis zu dem Fast-Food-Restaurant wandern, blickt durch die beleuchteten Fenster. Vereinzelte Silhouetten, aber Nadine ist nicht dabei. Sie ist nicht da, er weiß es.

Er muss nicht aussteigen und sich davon überzeugen, aber er steigt aus und läuft, betritt das Restaurant, blickt in gelangweilte Gesichter, die angehoben und sofort wieder abgesenkt werden. Der Geruch von Burgern und Pommes. Salz, Ketchup. Er verspürt plötzlichen Durst, aber er wendet sich ab und geht.

Läuft jetzt schneller, zurück zum Wagen, er steigt ein, fährt los. Sie ist nicht da, denkt er. Am Anfang, als er ankam, ist es nur ein Gedanke gewesen, aber jetzt beginnt er, sich auszugestalten, Form anzunehmen.

Er beschleunigt, hofft, dass der Gedanke zurückbleiben wird, dass er sich Meter für Meter von ihm entfernen

Holdner

Er sitzt vor seinem Wohnwagen, es ist schwülwarm, aber nicht mehr ganz so schlimm wie am Tag. Alles ist dunkel, alle schlafen. Das Quadrat, hinter dem sich Markos Wohnung verbirgt, ist schwarz.

Plötzlich hat Holdner vor Augen, dass sich hinter dem schwarzen Quadrat ein riesiger Raum eröffnet, ein Schloss mit weiten Gängen, großen Sälen und einem verzweigten unterirdischen Tunnelsystem, das nur Marko kennt, Marko, der in Wirklichkeit ein König ist, er trägt ein Zepter und eine Krone und lächelt wissend. Das ist natürlich alles Unsinn. Offenbar hat Holdner zu viel gearbeitet, zu viel und zu hart, auf der Lichtung, der zauberhaften Wiese, im vergessenen Wald.

Er hat Marko am Abend abgepasst, als er vom Getränkemarkt kam. Hat ihm in einfachen Sätzen skizziert, wie es weitergehen wird. Nicht im Detail, sondern so, dass Marko es verstehen kann, ohne überfordert zu werden.

Holdner schließt die Augen. Er spürt, dass der Morgen anbricht. Laura schläft bei ihrer Freundin, Simona, die Eltern haben eine Wohnung im Hochhaus. Fünfter Stock, ziemlich genau unter Markos Fensterquadrat. Auch da ist

Wenn die Sache geklärt ist, wenn alles wieder seinen geregelten Gang nehmen wird, das Leben, alles, was er sich viele Jahre lang aufgebaut hat. Er wird nicht zulassen, dass ein Typ wie Marko kommt und alles kaputt macht.

Er denkt an den Jungen. Jannis. Hat sich den Namen, der durch die Nachrichten geistert, eingeprägt. Er hat diese Homo-Scheiße nie begriffen. Nicht ansatzweise. Hätte natürlich sofort hellhörig werden müssen, als Marko zu erkennen gab, dass er Jungen bevorzugt. Aber irgendwie war das auch okay, in Holdners Sinne. Arbeitsteilung gewissermaßen.

Lust keimt auf, er erstickt sie, indem er aufsteht und läuft. Um den Wohnwagen herum. Einmal, zweimal. Dreimal. Er murmelt vor sich hin. Dann weiß er nicht mehr, was er gemurmelt hat. Er setzt sich, schlägt das Boulevardblatt vom Vortag auf, ein Bierfleck auf Seite drei. Er betrachtet die Headline, ohne zu lesen.

Was er nicht vergessen darf: Heute unbedingt einen Mittagsschlaf machen, er muss fit sein und glasklar im Kopf, sobald die Nacht zurückkehrt.

Nadine

Sie wartet lange, bevor sie näher tritt. Setzt ihre Schritte behutsam. Hätte er sie gesehen, wäre sie vielleicht einfach herausgekommen, hätte so getan, als sei alles ein Scherz

Sie hat ihn beobachtet, verborgen in einem Winkel im ersten Stock des Bahnhofsgebäudes, von dem aus sie den Taxistand und den Parkplatz sehr gut einsehen kann. Während sie ihm dabei zugesehen hat, wie er sucht, nach ihr, hat sie ihn studiert. Jede seiner Bewegungen.

Er ist im Wagen geblieben, einige Minuten lang, dann ist er ausgestiegen, zum Restaurant gelaufen, den Blick fokussiert, sie hat darüber nachgedacht, dass dieser Blick tatsächlich der eines Polizisten sein könnte.

Eigenartig, dass er behauptet hat, Polizist zu sein. Alles ist eigenartig. Alles. Nur die Geschichte nicht, die er ihr erzählt hat. Von seiner Schulfreundin, Natalie. Die Geschichte ist das Einzige, woran sie wirklich glauben kann. Und auch das ist eigenartig. Dass sie zum ersten Mal seit langer Zeit an etwas glaubt. Das ist eigenartig und vielleicht schön, aber es ist bei Weitem nicht genug.

Als sie ganz sicher ist, dass er weg ist, setzt sie sich an ihren Platz. Die Nacht weicht schon dem Morgen. Sie wird sich einen neuen Platz suchen müssen, aber das hat noch ein wenig Zeit. Bald kommt der Tag, bald wird sie schlafen können.