maximaler Grip

vollkommene Agilität

dynamische Kontrolle

Landmann

Er schläft nicht mehr. Sieht der Zeit dabei zu, wie sie vergeht. Hellgrüne Ziffern auf schwarzem Grund, auf der Uhr unter dem Fernseher.

Gegen sieben, als er gerade in Betracht zieht, frühstücken zu gehen, schläft er doch ein. Der Schlaf trifft ihn wie der Schlag eines Hammers. Es ist mehr Bewusstlosigkeit als Schlaf. Er hört Barbaras Stimme. Sie spricht mit ihm. Leise, ruhig, klar. Worte, die alles erklären. Schon im Traum spürt er, dass er sie versteht, aber nicht wird festhalten können. Er wird die Sprache, die Barbara spricht, eine andere, neue Sprache, nur beherrschen, solange der Traum andauert. Deshalb möchte er den Traum festhalten, wohl wissend, dass es ein Traum ist, der der Realität nicht standhalten wird. Wohl wissend, dass Erlösung nur in der Realität, im gelebten Leben, denkbar erscheint. Wenn überhaupt. Die einzige Alternative wäre, weiterzuträumen. Einen Traum, der nicht endet.

Erst als er die Augen öffnet, wird ihm bewusst, dass er längst erwacht ist.

Als sie die Augen schließt, spürt sie, dass sie endlich wird schlafen können. Sie liegt auf dem Bett, in ihrem Zimmer. Der Polizist, Ben Neven, hat nicht zurückgerufen, aber es ist ja noch früh am Morgen. Sehr früh.

Lederer

Durch die Fenster im Großraumbüro bricht die Sonne, kühl noch, so als würde sie eine Brise Wind hereintragen, aber der Tag wird heiß, das weiß Lederer. Bis zu 38 Grad lautete die Vorhersage, er ruft die Wetter-App auf, die aktuell sogar 39 Grad für den Mittag prognostiziert.

Für Momente rasten die Zahlen ein. 38 und 39. Der feine Unterschied, der dazwischen liegt. Der Gedanke hat ihn in der Nacht beschäftigt, hat ihn wach gehalten. Dass nur eine feine Trennlinie ist zwischen dem Rätsel und der Lösung. Den Fall betreffend. Jannis. Dawit. Es ist ein Fall, eine Ermittlung, die ihm sehr nahegeht. Er hat darüber nachgedacht, warum.

Er hat keine Kinder. Lebt allein. Obwohl er das eigentlich ändern möchte, aber er weiß nicht, wie. Zumindest im Moment nicht. Beziehungen scheinen inzwischen vorwiegend über Onlinebörsen angebahnt zu werden. Das ist nicht so sein Ding. Um es vorsichtig zu formulieren.

Er heftet seinen Blick auf den Bildschirm des PCs, der aus dem Ruhemodus hochgefahren ist, die Fallakte Jannis ist noch geöffnet. Lederer ist extra früh gekommen, weil er gestern am späten Abend nicht mehr alles hat aktualisieren können. Er war einfach zu müde. Und ein Gedanke hatte sich eingeschlichen, den er abstreifen wollte, aber es gelang ihm nicht, nicht ganz. Dass alles keinen Sinn hat. Dass sie Jannis nicht finden werden. Dawit auch nicht.

Was ist dann eigentlich?, denkt Lederer. Was bedeutet es, was genau, wenn die Unschuld ermordet wird?

Landmann

Er geht frühstücken. Setzt sich an einen Tisch am Fenster, mit Blick auf den Saal. Eine junge Frau bringt eine Kanne Kaffee. Er gießt sich eine Tasse ein, trinkt.

Draußen ein sonniger Morgen. Jahrhundertsommer. Er sieht Gesichter, die er kennt. Vage, von irgendwoher. Er spürt einen Stich im Magen, ein Brennen hinter den Augen. Die beiden kommen auf ihn zu, mit schnellen Schritten. Zielstrebig, als sei da ein Ziel.

»Wir haben uns erkundigt, wo Sie sind. Der Polizist nannte uns das Hotel.«

Landmann nickt. Lisa und Lara. L plus L. Zwei von Barbaras Mitbewohnerinnen. Sind zurückgekehrt, vorzeitig, aus dem Urlaub. In Italien.

»Wir … können es nicht glauben«, sagt eine der beiden. Landmann versucht, sie zuzuordnen. Sie sehen sich eigenartigerweise sogar ähnlich. Lisa, denkt er. Das war Lisa.

Er schweigt. Hat für Momente das Gefühl, die beiden trösten zu müssen. Den Impuls, ihnen gut zuzureden, sie zu beruhigen. Er schweigt.

»Als wir losgefahren sind, war eigentlich alles gut«, sagt Lara. »Barbara war guter Dinge. Sie hatte sogar überlegt, mit uns zu kommen, aber sie war ein bisschen knapp bei Kasse.«

Ja, denkt Landmann. Einmal, vor einigen Wochen, hatte sie ihn gefragt. Wegen Geld. Er hat gesagt, dass sie irgendwann lernen müsse, mit dem zurechtzukommen, was sie habe. Dass sie lernen müsse, anzusparen. Das hat er wirklich gesagt. Hat er das? Er schüttelt den Kopf, um den Gedanken abzustreifen.

»Aber irgendwie wollte sie auch nicht richtig mit. Sie wollte sich ja zum Lehramtsstudium einschreiben und ein paar Sachen recherchieren.«

»Wann habt ihr denn zuletzt von ihr gehört?«, fragt Landmann. Erst jetzt, als er die Frage gestellt hat, wird ihm bewusst, wie sehr sie ihn beschäftigt.

»Darf ich sehen?«, fragt Landmann. Gleich, denkt er. Gleich werde ich alles besser verstehen können.

»Ja, sicher. Moment.« Lisa zieht ihr Handy aus der Tasche ihrer Shorts. Sie tippt, scrollt, hält inne. »Hier«, sagt sie. »Das war die letzte Nachricht.«

Letzte Nachricht, denkt Landmann.

Er starrt das Display an. Kneift die Augen zusammen. Öffnet sie weit. Konzentriert sich.

Barbara hat einen Daumen nach oben gesendet. Um zu signalisieren, dass sie die Fotos, die Lisa geschickt hat, mag. Fotos aus Italien. 16.35 Uhr, vor einer Woche. Am Abend desselben Tages hat Landmann seine letzte Nachricht an sie gesendet. Einen Daumen.

Da sind noch mehr Fotos. Lisa hat noch mal welche gesendet, einige Tage später. Lisa und Lara, lachend am Strand. Aber sie haben ihre Empfängerin nicht mehr gefunden.

Er gibt Lisa ihr Handy zurück. Legt es in ihre geöffnete Hand.

»Danke«, sagt er.

Sie stehen sich gegenüber. Landmann möchte sich setzen. Ausruhen.

»Setzt euch doch«, sagt er.

Die beiden bleiben stehen, unschlüssig. Wechseln Blicke. Wie traurig sie sind, denkt Landmann. Sie haben Barbara gemocht. Natürlich. Wer hätte Barbara nicht mögen können?

»Wussten Sie …«, sagt Lisa.

Lara nickt.

Er sieht sie an. Etwas passiert. Da ist eine Tür. Er steht davor. Sobald er den Raum betritt, werden sich die Wände auflösen.

»Wir wissen nicht, ob es wichtig ist, aber Barbara hatte vor einigen Monaten ein paar Probleme … Angststörungen. Sie hatte zwei oder drei Gespräche mit einer Ärztin.«

»Sie hat gesagt, dass ihr Kopf platzt«, ergänzt Lara.

Probleme, denkt Landmann. Würfel. Zeit.

»Uns fiel das ein, als wir nach Hause fuhren. Im Zug. Gestern Nacht. Wir wissen nicht, ob es vielleicht doch wichtig sein könnte.«

Landmann nickt. Nickt und nickt und nickt.

»Wussten Sie …«

»Nein«, sagt er. »Nein, das …«

Nein. Nein.

»Nein, das hat sie mir nicht gesagt«, sagt er.

Sie lacht gern. Lacht gern, lacht gern. Liebt es, fröhlich zu sein. Er spürt ein Brennen hinter den Augen. Ein Lächeln auf seinem Gesicht. Ein fremdes Lächeln.

»Der Polizist hatte uns nach so was gefragt, aber uns fiel irgendwie erst auf der Rückreise ein, dass Barbara diese Termine hatte. Sie hat das dann gleich wieder abgebrochen und gesagt, dass alles wieder gut sei.«

Das sagt Lisa. Und Lara nickt.

»Ja«, sagt Landmann.

»Das wollten wir Ihnen sagen«, sagt Lisa. »Falls es vielleicht doch wichtig ist.«

»Ja«, sagt er. »Danke.«

»Ja … wir … müssen dann los.«

Sein Kopf will platzen. Jetzt. In diesem Moment.

»Wann«, fragt er, die beiden haben sich schon abgewendet. »Wann genau war das?«

Sie wenden sich noch einmal ihm zu.

»Wann hatte Barbara diese Termine?«, fragt er.

»Im Frühling. Vor zwei, drei Monaten«, sagt Lisa.

»Gut, danke.« In seinem Hirn überschlagen sich Gedanken. Plötzlich ist alles beschleunigt. Alles anders.

»Die Ärztin … also … diese …«, sagt Lara.

»Psychotherapeutin«, sagt Landmann.

»Ja, genau, die heißt Vogel. Frau Dr. Vogel. In der Steinstraße. Ich hatte Barbara einmal hingefahren.«

»Ah. Ja. Danke.«

Die beiden nicken, lächeln. Tieftraurig.

»Danke. Bis bald«, sagt Landmann.

Dann gehen sie. Zwei Frauen, beide in Barbaras Alter, von ähnlicher Statur, sie durchqueren den sonnenbeschienenen Frühstückssaal. Landmann sieht ihnen nach.

Irgendwann, vor langer Zeit, hat Barbara mal gesagt, dass er die Fähigkeit besitze, alles gutzumachen. Und das sei schön.

Er hat geschwiegen. Gelächelt. Hat sich darüber gefreut, dass seine Tochter so etwas sagt.

So etwas Liebes, Kluges, Dummes.

Am Morgen versucht er, Sarah Meininger zu erreichen. Nachdem es dreimal geklingelt hat, unterbricht er die Verbindung, erleichtert. Er hofft, dass er sie nicht mit diesem idiotischen Anruf geweckt hat.

Nein. Sie schläft, er ist sich plötzlich ganz sicher, dass es so ist. Sie schläft und schläft und schläft, und er hat noch ein wenig Zeit, die Sache zu klären. Jannis zu finden, bevor Sarah aufwacht.

Als er ankommt, ist Lederer schon da. Murmelt einen Morgengruß. »Um zwölf gehen die Taucher noch mal in den See, auf der anderen Uferseite«, sagt er.

Ben nickt.

»Die Kollegen aus Österreich haben den Standbesitzer ermittelt. Also den, der im Frühjahr diese Teddys verkauft hat, auf dem Tivoli in Innsbruck.«

Ben hebt den Blick. »Und?«

»Sie haben ein Protokoll der Befragung gesendet. Der Mann hat Mühe, überhaupt zu begreifen, was Sie von ihm wollen.«

Ben nickt.

»Er hat den Stand mit seiner Frau betrieben. Beide können sich nicht erinnern, an wen die Riesenteddys gingen. Man konnte sie gewinnen oder erwerben. Also, die Teddys waren sowohl Gewinne bei einer Verlosung als auch standen sie einfach zum Verkauf.«

Gewinnen oder erwerben, denkt Ben.

»Okay.«

»Das bringt uns alles nichts.«

Ben schweigt.

»Der Innsbrucker Kollege hat am Ende noch was gesagt, hat mich überrascht.«

»Ja?«

»Er hat sich entschuldigt. Hat gesagt, dass sie es nicht gut gemacht haben, dass sie schlecht ermittelt haben, in den Wochen nach Dawits Verschwinden.«

Die Wochen nach Dawits Verschwinden, denkt Ben. Wie lange ist es her? Im Fall von Jannis. Bald eine Woche? Entschuldigung, denkt er. Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung. Dann denkt er an Svea. Die bald zurückkehren wird, aus L.A. Aber es wird ein wenig dauern, allein der Flug beansprucht die wachen Stunden eines ganzen Tages. Wann fliegt sie? Er weiß es nicht.

Er denkt an Marlene. Ferien. Durchlebte Nächte, verschlafene Tage. Sie hat Spaß, ist unbeschwert, guter Dinge, voller Zuversicht.

Christian

Gegen Mittag gehen die Taucher ins Wasser. Alles ist spiegelverkehrt. Alles neu, alles anderes, alles so, wie es war. Taucher, Wasser, See. Das andere Ufer, da, wo gestern die Kinder ins Wasser gesprungen sind, von der Brücke.

Das möchte Christian auch. Aber er versucht es gar nicht. Der Gedanke an Nadine ist übergroß geworden, so groß, dass er einfach nicht mehr reinpasst ins Hirn. Deshalb konzentriert er sich auf das, was er sieht. Auf das, was wirklich da ist, wirklich vorhanden. Das Boot der Taucher zum Beispiel, und die Taucher selbst. Der erste springt ins Wasser, der zweite, der dritte.

»Wenn ich den Jungen mit mir nehme, mit ihm laufe, in den Wald, ins Gebüsch. Und wenn ich dann durchdrehe, den Jungen töte, damit alles nicht stattgefunden hat, damit alles so weitergehen kann wie bisher, dann … dann denke ich, würde ich den toten Jungen hier in diesem See versenken«, sagt Malvi, der herangetreten ist, wie gestern. Alles gleich, alles anders. Christian wendet sich Malvi zu, sucht seinen Blick, aber Malvi betrachtet den See. Christian lässt seinen Blick auf Malvis Gesicht ruhen. Er sieht, was er vorher nie gesehen hat. Zweifel. Trauer? Wehmut? Genau kann er es nicht benennen.

»Möglich ist es«, sagt Christian. Sein Blick wandert über die Brücke. Gestern sind hier die Jungen ins Wasser gesprungen. Wo sind sie jetzt? Stehen sie irgendwo in der Nähe, neugierig beobachtend, was da vor sich geht, an ihrem Strand, an ihrem See?

Er läuft, zur Brücke. Geht die Stufen nach oben, steht auf der Plattform, es ist genau wie damals, sein letzter Sprung,

Er betrachtet Malvi, der unten am Wasser steht, die Taucher beobachtend. Entweder hat er nicht bemerkt, dass Christian zur Brücke gelaufen ist oder er misst dem keine Bedeutung bei. Malvi beobachtet konzentriert die Wasserfläche. Hofft er darauf, dass sie einen toten Jungen bergen? Einfach, um eine Antwort zu erhalten?

Das ist es, denkt Christian, das ist es, was anders war, damals. Was ihn schon damals von den anderen unterschieden hat. Die feine Trennlinie. Vielleicht hat er deshalb nie einen besten Freund gehabt. Vielleicht hat er sich deshalb immer hier, am schönen See, besonders fremd gefühlt, ohne das zu Ende denken, ohne sich das eingestehen zu können.

Wenn die anderen abgesprungen sind, wenn sie die Augen geschlossen haben und ins Wasser eingetaucht sind, dann standen für sie, senkrecht, unausgesprochen, den Himmel teilend, Antworten im Raum. Das war der Unterschied, die anderen hatten Antworten. Er hatte nur eine Frage.

Landmann

Den Mittag verbringt er auf dem Balkon seines Hotelzimmers. Einen Anruf erwartend. Obwohl er weiß, dass dieser Anruf erst später kommen kann. Frühestens am Nachmittag. Er betrachtet das Schwimmbad. Das Wasser glitzert unter der Sonne. Kinder springen vom Rand rein, werfen einen roten Ball, lachend.

»Ich wollte mich ja melden«, sagt Brunner.

Landmann wartet.

»Die Obduktion hat ein erstes Ergebnis erbracht«, sagt er.

Ergebnis. Erstes.

»Es gibt Hinweise auf Medikamenteneinnahme. Eine Art …«

»Cocktail«, sagt Landmann. Da ist ein Summen. Hinter seiner Stirn, hinter den Augen.

Brunner schweigt, einige Sekunden lang. »Ja. Kein Drogenmissbrauch, sondern, dem ersten Anschein nach …«

»Suizid«, sagt Landmann.

Eine alte Dame schwimmt Bahnen. Langsam, mit der Geduld eines Engels.

»Wobei wir in der Wohnung nichts gefunden haben«, sagt Brunner. »Sie hat die Medikamente möglicherweise vorher an einem anderen Ort eingenommen.«

In einem Café?, denkt Landmann. Vielleicht in dem, in dem wir manchmal zusammen waren? Barbara? Wir? Roten Wein trinkend?

»Ja«, sagt Landmann.

Er erinnert sich an die Angst, die aufkeimte, am Tag zuvor. Als er ankam. Als er in der Wohnung stand. In der Schwebe. Dass er den Fall nie wird lösen können.

»Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald der ausführliche Bericht vorliegt. Wollte aber schon mal eine erste Rückmeldung geben.«

»Ja. Danke dafür«, sagt Landmann. Brunner, denkt er.

Barbara lacht.

Dein Kopf platzt? Barbara?

Barbara, sie sitzt am Tisch in der Küche. Vor einigen Monaten. Im Winter.

Gut, sagt sie, als er sie fragt, wie es ihr gehe.

Eine Gleichung geht auf, immer vorausgesetzt, dass die Anzahl der Variablen nicht ihren engen Rahmen sprengt.