Traumsommer

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Marko

Er ist im Spielzeugladen gewesen, hat eingekauft. Zwei Stofftiere. Als er gegangen ist, mit den Tieren unter dem Arm, ist ihm wieder bewusst geworden, dass die Tiere ziemlich groß sind. Ein wenig hinderlich. Aber große Stofftiere bereiten Freude. Je größer die Tiere, desto größer die Freude. Er ist losgefahren. Ausgestiegen.

Jetzt läuft er durch den flirrenden Sommer. Die Wärme prallt ab. Er versucht, sie aufzufangen, wie einen Ball, wirft sie zurück an die Wände der grauen Häuser. Ihm ist warm und kalt, kalt und warm. Flauschiger Stoff an seinen Händen, er betastet ihn mit den Fingerspitzen.

Auf dem Hof der Schule herrscht Lärm. Betriebsamkeit, denkt er. Das Wort geht ihm durch den Kopf. Komisches Wort. Die Stofftiere fühlen sich zu groß an. Hindern ihn. Er wusste es. Er läuft an kreischenden Kindern vorüber zu einem weißen, schmalen, langen Tisch. Eine Reihe von Tischen, dahinter stehen lächelnde Frauen. Er legt eines der Tiere ab. Hält sich am anderen fest.

Die Stimme kommt von unten. Streicht an seinen Hüften entlang. Eine helle Stimme. Er nickt. Betrachtet den kleinen Jungen.

»Ja«, sagt er.

Er reicht dem Jungen den Teddy, nimmt seine Hand. Etwas rastet ein. Seine Hand in der Hand des Jungen und noch etwas. Etwas anderes.

Sie laufen. Er spricht. Er erklärt dem Jungen, warum sie laufen. Die grauen Wände der Häuser sind jetzt auf der anderen Seite, spiegelverkehrt. Alles ist anders, alles neu. Die Wände sind so grau wie früher, aber die Wärme prallt nicht mehr ab, sie schmiegt sich an ihn, hüllt ihn ein. Der Junge läuft an seiner Hand, als sei er sein Sohn.

Im Hintergrund verebbt das Gerede der Menschen, das Gekreische der Kinder, das Lachen.

Sein Wagen steht in einer Seitenstraße. Er versetzt dem Jungen einen Schlag gegen die Schläfe, bevor er ihn auf die Rückbank legt.

Er steigt ein, startet den Motor, fährt los. Entfernt sich. Die grauen Wände werden klein.

Kleiner und kleiner, verschwinden ganz.

Ben

Ein weites Feld. Er steht allein. Hält inne, bewegt sich nicht. Ist auf der Hut. Niemand ist da, niemand zu sehen, niemand zu hören. Niemand. Er ist allein auf der Welt. Steht

Das Mobiltelefon spielt eine Melodie, die er häufig gehört hat, ohne sie je zu kennen. Sie war bereits da, als er das Telefon gekauft hat. In einem Medienmarkt. Bunte Lichter. Menschen, die sich ihre Wünsche erfüllen. Ohne eine Freude, ohne eine Regung zu zeigen.

»Ja?«, sagt er.

»Dein freier Tag fällt aus«, sagt Christian. »Ein Kind ist vermisst. Ein Junge.«

Ben schweigt. Christians Worte wabern durch den Raum. Zähflüssig. Kind, Junge, vermisst.

»Ben?«

»Ja?«

»Hast du es mitbekommen? Bist du wach?«

»Ja.«

Er spürt Sveas Berührung an seinem Arm.

»Schschscht, alles gut«, sagt er. »Christian ist dran. Schlaf weiter.«

»Musst du weg?«

»Ja, gleich. Schlaf weiter.«

Er hebt sich aus dem Bett. Sein Blick streift Svea, während er zur Tür läuft. Dann steht er in einem neuen Raum, Sonne hinter den Fenstern.

»Ben?«, fragt Christian.

»Ja. Entschuldige. Ich bin aus dem Zimmer raus, Svea schläft.«

»Mittagsschlaf?«

»Ah. Okay. Hast du mitbekommen, was ich gesagt habe?«

»Ja. Wo ist das?«

»Holunderweg 11. Eine Grundschule. Da ist ein Flohmarkt heute. Wiesbaden-Biebrich. Bis dann.«

Bis dann, denkt Ben.

Christian

Christian lässt das Smartphone in seine Hosentasche gleiten, betrachtet die Szenerie.

Frauen, Kinder. Ein ratloser Hausmeister. Der Hausmeister sieht aus, als sei er einem Film entsprungen. Einem Film, der Klischees bedient. Er trägt einen blauen Handwerker-Overall, ist korpulent, hat eine Halbglatze. Einige der Frauen reden aufeinander ein, andere stehen still am Rand, in sich gekehrt, aber auch sie in Aufregung.

Ein Junge ist verschwunden. Christian spürt ein Brennen hinter den Augen. Er schließt sie. Öffnet sie. Uniformierte Kollegen und Kolleginnen stehen in der Szene. Er, Christian, leitet den Einsatz. Vorläufig allein, bis zum Eintreffen von Ben, der inzwischen sicher bereits auf dem Weg ist, aber noch eine Weile brauchen wird, um die Wegstrecke zurückzulegen.

Von hier nach dort. Aus dem Mittagsschlaf kommend. Aus Träumen an einen Ort des Verschwindens.

Christian fragt sich, was Ben geträumt hat. Ob es schön war oder nicht. Eine Frage der Perspektive. Traumlos, das

Gleich, wenn er in die Szene hineintreten wird, muss er in der Lage sein, seinen Text aufzusagen. Fehlerfrei.

Er läuft ein paar Schritte, behutsam, stellt sich vor, ein ermittelnder Beamter zu sein. In einem Vermisstenfall. Möglicherweise einem Entführungsfall. Ein Brennen ist hinter seinen Augen, ein stummes Lachen vibriert auf seinen Lippen. Einige Sekunden lang, dann zieht es sich zurück. Er läuft. Stellt sich vor, der leitende Ermittler zu sein, der er tatsächlich ist.

Ben

Ben durchquert den Sommer. Fährt einmal mittendurch. Seine Geschwindigkeit ist moderat, seine Gedanken kreisen im Ungefähren.

Nachmittag. Bald vier. Die Schule ist ein flacher, langer Bau. Helles Grau im Sonnenlicht. Verkaufsstände auf einer grünen Wiese. Bunt bekleidete Menschen.

Er steigt aus, sieht Christian, der kaum merklich auf und ab wippt, mit seinen schlaksigen Beinen, während er den Ausführungen eines untersetzten Mannes lauscht. Der Mann sieht aus wie ein Hausmeister.

Ben nähert sich an, beginnt, die Worte zu erahnen, die der Mann spricht. Dann hört er sie.

»Ah, Ben«, sagt Christian.

»Hallo«, sagt Ben.

»Herr Schäfer ist Hausmeister an dieser Schule. Er hat nichts mitbekommen. Er weiß nicht, auf welche Weise der Junge verschwinden konnte.«

»Wie alt ist der Junge? Wie heißt er?«, fragt Ben.

»Fünf. Jannis. Er war mit seiner Mutter und seiner Schwester hier. Lea Meininger und Tochter. Die Tochter war Schülerin an dieser Schule. Da hinten sind sie.«

Ben folgt Christians Blick. Unter einem Baum, im Schatten, stehen eine Frau und ein Mädchen. Beide in Weiß und Rosa. Partnerlook. Mutter und Tochter. Er fragt sich vage, welche Farbe die Kleidung des Jungen hatte.

»Das Ganze begann um halb zwölf. Traditioneller Sommerflohmarkt. Eltern und Lehrerschaft verkaufen Sachen für gute Zwecke. Gegen Viertel vor zwölf war der Junge, Jannis, plötzlich weg. Die Leute haben ihn gesucht, neben anderen auch Herr Schäfer.«

Herr Schäfer, der Hausmeister, nickt.

»Nach etwa einer Stunde vergeblichen Suchens hat die Mutter die Polizei verständigt.«

Ben wartet.

»Inzwischen sind seit dem Verschwinden des Jungen etwa drei Stunden vergangen. Eine Fahndung auf Basis eines Fotos aus dem Bestand der Mutter ist gerade rausgegangen.«

Ben nickt, Christian reicht ihm ein Foto. Es zeigt Jannis, mit einem gestellten Lächeln, vor einer kleinen Tafel, auf der in Kreideweiß Dinosaurier geschrieben steht.

»Ja«, sagt er.

»Mark Lederer ist in dem Parkhaus da hinten. Die haben möglicherweise Bilder von den Überwachungskameras.«

Ben dreht sich um, sieht das mehrstöckige Parkhaus, das Teil eines großen Einkaufszentrums ist. Wie ein stiller Koloss ruht das ovale Gebäude unter der Sonne. Bunte Werbebanner kleben an der grauen Fassade. Burger King, New Yorker MaxiDaxi, CineMAX.

»Das ist ein Stück weit weg, aber wenn wir Glück haben, ist der Junge in die Richtung verschwunden.«

Ben nickt. Glück haben, denkt er.

Er sieht die Mutter und die Schwester. Rosa und weiß. Ein schöner Tag. Dinge verkaufen, die Freude bereiten, für den guten Zweck. Er läuft schon, Schritt für Schritt, den beiden entgegen.

Lea

Sie sieht den Mann erst, als er schon bei ihnen ist. Vor ihnen steht. Sie hat ihn nicht kommen sehen, ebenso wenig, wie sie Jannis hat gehen sehen.

»Frau Meininger?«

»Mein Name ist Neven. Ben Neven. Ich bin einer der Ermittler, die …«

»Es geht um Jannis, meinen Sohn.«

»Frau Meininger, sagen Sie mir bitte noch mal, wie es passiert ist. Wann haben Sie Jannis zuletzt gesehen? Und wo genau?«

»Jannis ist weg.«

»Frau Meininger, bitte sagen Sie mir doch noch mal …«

»Wir sind hier angekommen. Ich bin rein, um unsere Sachen abzugeben, für den Flohmarkt. Das hat nicht mal eine Minute gedauert.«

Ben nickt. Sieht sich um. »Also da rein.« Er deutet auf den Haupteingang, über dem in breiten Lettern der Name der Schule prangt.

»Ja«, sagt sie. »Gleich rechts im ersten Klassenraum werden die Sachen gesammelt, bevor sie dann zu den Verkaufsständen kommen.«

»Ja. Verstehe«, sagt Ben. »Und Ihr Sohn, Jannis, war …«

»War bei mir. Bei uns.« Sie sieht die Tochter an, die seinen Blick auffängt.

»Meine Tochter, Sarah«, sagt sie.

»Ich habe auch Sachen reingebracht«, sagt Sarah. »Jannis war eigentlich dabei. Er hat sogar irgendwas getragen.«

»Ja, stimmt. Er hatte ein altes Playmobil-Schiff. Er hat noch in den vergangenen Tagen damit gespielt und dann gesagt, dass er es trotzdem zum Flohmarkt bringen will. Damit andere Kinder auch Spaß daran haben.«

»Ich dachte, dass er da ist, dass er hinter uns herkommt«, sagt die Tochter. Sarah.

Ben lässt seinen Blick auf ihr ruhen.

»Dieses Schiff …«, murmelt er.

»Er muss es reingetragen haben und dann irgendwie weggerannt sein. Ich weiß es nicht«, sagt die Mutter. »Ich hatte kurz mit einer der Lehrerinnen gesprochen, die den Flohmarkt organisiert.«

»Gut. Wer ist das? Diese Lehrerin?«

»Frau Spahn. Ich glaube, dass sie drin ist. Sie hat blonde Haare. Helle Haare. Also, fast weiß.«

»Ah. Gut, erst mal danke.«

Er läuft, entfernt sich.

Rosa und weiß. Sommer. Ein Junge, der andere an seiner Freude teilhaben lassen möchte. Er betritt das Gebäude, angenehme Kühle umspielt ihn.

In dem Klassenraum kann er keine Frau entdecken, die helle Haare hat, aber er sieht sofort, auf einem grauen Tisch, neben anderen Gegenständen, das dunkelbraune Piratenschiff, das er selbst als Kind besessen hat und an dem eine Flagge mit Totenkopf weht.