and into the wild

there by the lake

a submarine’s diving

Christian

Der Tag fliegt vorüber. In Zeitlupe. Ein wenig, als wären sie auf einem Schiff. Einem trägen Kreuzfahrtdampfer, Menschen vertrödeln ihre Zeit, in Shops, auf der Tanzfläche, am Büfett.

Aber davon sieht Christian nichts, das ist weit weg, irgendwo anders. Sie sind in einem anderen Bereich des Schiffes, weiter unten. Weit unten, im Maschinenraum. Dennoch scheint merkwürdigerweise die Sonne.

Abendsonne.

Flutet den Raum.

Den Besprechungsraum, in dem Informationen ausgetauscht, verifiziert, vermittelt, verworfen, vergegenwärtigt, neu sortiert werden. Gerhardt, Marko. Holdner, Anton.

Der eine tot, der andere schweigt.

Aber es gibt eine Zeugin. Nicht für die Geschehnisse der vergangenen Tage, sondern für etwas, das länger zurückliegt. Ein Bild beginnt, sich herauszukristallisieren. Weil er, Christian, ein Bild geschenkt bekommen hat. Von Holdner, dem Hausverwalter.

Das andere Bild, das sich herauskristallisiert, ist so eigenartig, so schrecklich, dass es Christian noch

Sie heißt Anne. Den Nachnamen hat er gleich wieder vergessen. Weil er genug damit zu tun hatte, aus Nadine Anne zu machen. Eine Zeugin.

Sie hat ausgesagt, während er unterwegs war, mit Ben. Dann ist sie gegangen. Aber die Beamtin, die ihre Aussage aufgenommen hat, hat natürlich die persönlichen Daten erfasst. Christian fragt sich, ob Anne eine Wohnadresse angegeben hat. Und wenn ja, welche.

Anne. Nadine. Anne.

Manchmal kommt das Bild, für Sekunden. Das Bild hinter dem Bild, das, was Anne angetan wurde, vor einer Reihe von Jahren, von diesem Mann. Von diesen Männern? War Gerhardt damals schon dabei? Er hat ihre Aussage noch nicht gelesen. Noch nicht die Kraft gefunden und eigentlich nicht einmal die Zeit, weil alles so schnell geht. Anne, Nadine, Ben.

Was ist los, Ben? Was … ist … ein neues Bild zuckt auf, es zeigt Ben. Ben, der aus dem Wagen steigt, zielstrebig läuft, da ist diese Lichtung, wie ein fremder Ort, auf einem fremden Planeten, das Gras blass türkis und weich und gelb, und Ben …

Dann ein neuer Gedanke. Könnte es sein, dass das Mädchen, Laura, die Enkeltochter des Verwalters, Holdner … könnte es sein, dass sie das Bild absichtlich so gemalt hat? Den Wohnwagen, die Wiese, den Spielplatz? In der Hoffnung, dass es irgendwann einen Weg findet, nach draußen? Dass es gesehen wird, von einem Menschen, der versteht, was es zeigt? Christian denkt an Frau Poulsen. Die helfen wollte und die am Ende tatsächlich geholfen hat. Sehr sogar.

Einiges, noch nicht alles, hat Kontur gewonnen. Marko Gerhardt hat im vergangenen Jahr einige Zeit bei einer älteren Schwester verbracht, die in Sölden lebt, nicht weit von Innsbruck. Angereist ist er mit dem eigenen Pkw, abgereist ist er überraschend nach wenigen Tagen unter dem Vorwand, zu Hause etwas Wichtiges zu tun zu haben. Gerhardt … Holdner … Ben … der Gedanke kommt, geht. Worte dringen durch. Malvi führt ein Gespräch, die Worte streifen Christians Ohr.

Malvi räuspert sich. Seufzt er?

Christian sucht seinen Blick, Malvi steht am Fenster, umgeben von Licht.

»Ja«, sagt Malvi. Räuspert sich noch mal. »Ja, wir haben … die Techniker haben … ein weiteres Grab gefunden. In der Umgebung des anderen. Die Techniker … ja.« Malvis Stimme bricht. Er sammelt sich. Setzt sich auf einen der Stühle. Schweigt, lange.

»Christian, Ben, fahrt ihr da bitte hin?«, sagt er schließlich. »Wir … müssen das öffnen.«

Ben

Der Raum hinter der Windschutzscheibe ist überbelichtet. Wie in einem Comic, in einem Cartoon. Er ist Teil dessen. Nicht mehr, nicht weniger. Einfach nur eine Figur, in diesem Cartoon.

Der Ort fühlt sich ungeheuer vertraut an. Weil er so fremd ist.

Kennengelernt hat er diesen Ort am frühen Morgen.

Jetzt begegnet er ihm wieder, abends.

Die Kriminaltechniker stehen in der freien Fläche. Weite, freie Fläche. Hat er von dieser hier geträumt? Vor einigen Tagen?

Er läuft. Folgt Christian, der vorangeht. Die Farben werden schwächer, wahrhaftiger, schieben sich wie ein Filter vor sein Sichtfeld, jetzt sieht er klarer. Der Cartoon, das Überzeichnete, Überbelichtete, ist weg, hat sich zurückgezogen. Er steht tatsächlich hier, neben Christian, der mit einem der Techniker spricht. Er hört die Worte nicht, hat ein anderes im Ohr, das immer wiederkehrt.

Marlene.

Er denkt an Christian. Beäugt die Techniker. Versucht zu erahnen, ob sie ihn beäugen. Er hat nicht den Eindruck. Niemand zweifelt den Ablauf der Ereignisse an. Die Version, die Christian am Vormittag in einer ersten Stellungnahme etabliert und die Ben, mit gesenktem Kopf und rasend stillstehenden Gedanken, bestätigt hat. In allen Punkten. Ben wird der internen Ermittlung beruhigt entgegensehen dürfen. Dank Christian.

Marlene, denkt er. Er fragt sich, ob auch Christian an Marlene gedacht hat. Als er berichtet hat. Was hier, genau hier, nicht passiert ist.

Dann denkt Ben, dass hier noch mehr davon sind. Weitere Gräber. Unzählige. Nein. Nein, das ist nur ein Gedanke.

Christian steht einige Meter entfernt, vor dem Grab, nickt. Hat er schon Gewissheit? Gewissheit über das, was sofort Gewissheit war? Nachdem Malvi berichtet hatte? Ist es ein Kleidungsstück, das Gewissheit bringt?

Marlene, Marlene, Marlene.

Christian nickt, wendet sich ab, läuft. Läuft und läuft, auf die andere Seite der Lichtung. Wird immer kleiner. Setzt sich auf eine Bank, die am Rand eines Weges steht, am Rand der Lichtung, als habe sie irgendwer genau da abgestellt, abstellen wollen, vor langer Zeit, wohl wissend, dass Christian sie eines Tages ansteuern wird.

Christian

Die Nummer entnimmt er der Intranet-Akte. Er beugt sich vor, wählt, schließt die Augen.

Es ist der Vater, der abnimmt. Er hat sofort sein Bild vor Augen. Ein liebenswerter Mensch. Das hat er gedacht. Weit war er gefahren, um nach seinem Sohn zu fragen. Er war mit dem Taxi gekommen, Fahrgast und Fahrer zugleich. Christian wechselt ins Englische.

»Herr Gebreselassie, hier ist Christian Sandner. Von der Polizei in Wiesbaden.«

Eyob Gebreselassie schweigt.

Er greift nach seiner Stirn, bohrt die Finger in die Haut, neben den Schläfen. »Ihr Sohn, Dawit, ist nicht mehr am Leben. Es tut mir … so leid. Ich werde in den kommenden Tagen zu Ihnen kommen. Ich hoffe, Ihnen dann … Fragen beantworten zu können, die Sie vielleicht … haben.«

Stille. Dann Grillenzirpen.

»Ich danke Ihnen«, sagt Eyob Gebreselassie.

Dann ist die Verbindung unterbrochen.

Christian lässt das Handy sinken. Lehnt sich ein wenig zurück, auf der etwas wackeligen Bank aus Holz. Er denkt an Feven und Eyob, an Dawit.

Fragen beantworten können, denkt er.

Lehnt sich noch weiter zurück, lehnt sich an, beginnt zu weinen.

Ben

Am Abend, als er nach Hause kommt, steht Svea in der Einfahrt. Er steigt aus. Geht auf sie zu.

»Wie ist es?«, fragt sie.

Er nickt. Er hat ihr gesagt, was passiert ist. Nicht die Wahrheit, nur die Fakten.

»Wir machen einen ruhigen Abend«, sagt sie.

»Ja.«

Marlene kommt angelaufen, sie ist guter Laune. Svea hat

Svea hat Marlenes Lieblingsnudeln gekocht. Als sie am Tisch sitzen und er Marlene lachen sieht, spürt er ein Lächeln auf seinem Gesicht.

Später sieht sich Marlene in ihrem Zimmer einen Film auf dem Tablet an, Svea hat sich schon hingelegt, liest ein wenig. Er sitzt auf dem Sofa. Der Fernseher ist stumm.

Sein Handy spielt die Melodie, er wartet, bis sie verklingt, dann geht eine Sprachnachricht ein. Er hört sie ab. Sarah Meininger hier. Er schließt die Augen. Fragt sich, was sie sagen wird. Weiß es eigentlich schon. Keine Ursache, denkt er. Gar keine. Und Sarah Meininger sagt:

Danke.

Anne

Er kommt in etwa zu der Zeit, zu der sie ihn erwartet hat. Steigt aus, läuft, steht ihr gegenüber.

»Hallo«, sagt er.

»Hallo.«

»Anne«, sagt er.

Sie schweigt. Lauscht dem Nachhall. »Macht es dir was aus, mich Nadine zu nennen?«, fragt sie.

Er sieht sie an. Überrascht? Hat er viele Fragen? Zu viele? Wird er sie stellen? Macht es ihm etwas aus?

Sie wartet.

»Dann gut«, sagt sie.

»Okay«, sagt er. »Wollen wir …«

»Wie wäre es mit Kino?«

»Kino?«

»Irgendeinen Film schauen. Mitternachtsvorstellung. Einen, der gut ausgeht.«

»Ich fürchte, um die Zeit laufen nur … na ja … irgendwelche Horrorstreifen.«

Sie lacht. Ungezwungen, ohne Vorbehalt, das gefällt ihr. »Dann eben einen Horrorstreifen«, sagt sie.

»Hm«, sagt er.

»Einen, der gut ausgeht«, sagt sie.