ihr Instagram-Profil ist weiter online.
Die Tote hat inzwischen mehr als 100000 Follower.
Iphone unboxing –
wie ist das Display?
Später Nachmittag im Hotel. Durch das Fenster blickt das Bergmonster in Christians Zimmer hinein. Christian erwidert seinen Blick. Er sitzt auf dem Bett, vor der aufgeblätterten Akte, die der Innsbrucker Kollege, Greilinger, ihnen ausgehändigt hat.
Er fühlt sich merkwürdig fokussiert. Konzentriert. Er verspürt kein Lächeln, kein Bild stellt sich ein, kein Gedanke, der ihn, auf dem Bett sitzend, spiegelt. Kein Wechsel der Farben, kein ironisches Sprachbild, das sich annähert, verdichtet, verfestigt und geflüstert seine Lippen überschreitet.
Vielleicht liegt es an Dawit. Daran, dass dieser Junge plötzlich so gegenwärtig ist in seiner Abwesenheit, in seinem Verschwinden. Vielleicht liegt es auch daran, dass kein einziges Wort in dieser Ermittlungsakte den Eindruck vermittelt, dass es irgendwann mal darum ging, den Jungen zu finden.
Die Akte liest sich eher wie eine Tätersuche. Eine Suche, die sich schon nach wenigen Tagen auf einen einzigen Verdächtigen versteift, den entfernten Familienangehörigen,
Christian lehnt sich zurück, gegen das weiße Kissen. Betrachtet das von der grellen Sonne umspielte Bergmassiv hinter dem Fenster.
Er denkt an einen Moment, der einige Minuten lang angedauert hat, heute früher, am Mittag. Als sie im ICE saßen, zwischen Frankfurt und Innsbruck. Auf halber Strecke, in einer Stadt, in der er lange nicht gewesen ist. Für diesen einen langen Moment, während der Zug im Bahnhof stillstand, hat Christian gegen den Impuls angekämpft, auszusteigen. Im wahrsten Sinne. Auszusteigen und sich anderen Dingen zuzuwenden, denen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.
Er richtet sich abrupt auf. Betrachtet die zusammengehefteten Blätter. Er wartet einige Minuten lang, dann wühlt sich endlich leise das Kichern durch seinen Körper, nähert sich seinem Rachen, seinen mahlenden Kieferknochen, platzt auf.
Er geht zum breiten Fenster, zur Glastür, öffnet sie, betritt den kleinen Balkon. Lacht sich das Lachen von den Lippen, lauthals.
»Friss mich!«, denkt er.
Das Bergmonster schweigt, unberührt.
Ben sitzt im Schatten seines Zimmers, er hat den Vorhang vor das Fenster geschoben. Die Akte liegt auf dem schmalen Tisch, auf dem erhöht hängenden TV-Bildschirm flimmert eine Seifenoper. Er sitzt vor dem Notebook. Hat den USB-Stick angeschlossen.
Er ringt mit sich. Zögert. Lässt die Finger auf der Tastatur ruhen. Hält inne. Dann aktiviert er die Bilder, lässt sie ablaufen. Würde er es nicht tun, würde er verrückt werden.
Er weiß das, er weiß auch, dass niemand das versteht. Niemand würde es verstehen. Niemand weiß davon.
Die nackten Jungen spielen am Strand. Lachen in die Kamera. Räkeln sich. Die Bilder verwackeln, verschwimmen, dann sind sie wieder scharf.
Seine Gedanken kreisen, entfernen sich, nähern sich dem Tag, an dem er den Stick an sich genommen hat. Ein Tag, der lange vergangen ist. Er war allein, umgeben von Beweismitteln. Der Stick war eines davon, nicht das Wichtigste, in einem Missbrauchsfall, den er nicht persönlich bearbeitet hat. Die Aufnahmen tragen den Titel: Nudist Beach Russia – boys.
Ben öffnet seine Hose, lässt seine Hand im Schritt ruhen.
Die Jungen wirken fröhlich. Sie spielen Ball, unbekleidet.
Das Handy vibriert. Ben kennt die Nummer. Dieses Mal kennt er sie, dieses Mal ergeben die Ziffern unmittelbar
»Sarah«, sagt er.
»Ja. Hallo«, sagt sie.
»Möchtest du hören, wie wir vorankommen?«
»Ja«, sagt sie.
»Wir sind unterwegs«, sagt er. »Wir ermitteln, wir tun alles.«
»Aber es gibt nichts Neues? Also, Sie haben Jannis nicht … gefunden?«
Er schweigt. Jannis, denkt er.
Jannis und Dawit.
Sie haben Teddybären gefunden, aber die Jungen sind weg. Verschwunden. Spurlos.
»Nein, noch nicht«, sagt er.
Sie schweigt.
»Die Suche dauert an. Inzwischen sucht eine sogenannte Hundertschaft. Das sind … sehr viele Polizisten.«
»Okay«, sagt Sarah.
Er spürt einen plötzlichen Schwindel, hinter der Stirn und auf Höhe der Schläfen. Er setzt sich auf das Bett.
»Ruf an, wann immer du magst«, sagt er.
»Ja«, sagt sie. »Danke.«
»Bis bald«, sagt Ben.
Er legt das Handy auf die Bettdecke. Geht zum Laptop, nimmt den Stick, läuft ins Bad, wirft den Stick in die Toilette, ins Wasser. Lässt seine Hand auf der Spülung ruhen. Minuten vergehen. Minuten, in denen nichts ist, nicht einmal ein Gedanke. Der letzte Impuls bleibt aus.
Am Abend trinkt er Bier in der Hotelbar. Gemeinsam mit Ben, der aber nur Wasser trinkt und schweigsam ist.
Das Gespräch über die Ermittlung der österreichischen Kollegen versandet bald. Im Raum stehen bleibt ein Schatten. Der Schatten eines Jungen. Dawit.
Die Akte enthält ein Foto von ihm, Christian hat es sich eingeprägt, sieht es vor Augen. Es ist ein buntes Bild, aber Christian sieht es grau. Dunkelgrau das Gesicht des Jungen.
Er sieht den Schatten wirklich. Er steht neben dem Gitarristen der kleinen Live-Band, die in einem Winkel der Bar musiziert. Dawits Schatten wiegt sich im Rhythmus. Ein dunkelhäutiger grauer Junge tanzt Country. Der Gitarrist trägt einen Cowboyhut. Er richtet sich auf, schließt die Augen, beugt sich über das Mikrofon und singt die erste Textzeile eines Songs von Johnny Cash. I was a highwayman. Along the coach roads I did ride.
Christian stimmt ein. Intuitiv, er bemerkt es erst, als Ben fragt, was er gesagt habe.
»Was?«
»Was sagst du?«
»Nichts. Ich singe.«
»Ich mag den Song. Highwayman. Johnny Cash.«
Ben nickt. Er scheint zu lauschen. Versucht er, nachzuvollziehen, was Christian hört? Zu begreifen, was er daran mag? Jetzt wiegt sich auch Ben im Rhythmus. Und in dem Winkel, am Ende der Bar, ist ein zweiter Schatten hinzugetreten. Jannis.
»Gut«, sagt Ben. »Gefällt mir.«
Christian lächelt. Ein echtes Lächeln. Echte Musik. Natalie machte sie dennoch immer nervös. Oder gerade deshalb? Vielleicht hat Natalie diese Musik nervös gemacht, weil sie so echt ist, so unverfälscht. Denn auch Natalie selbst ist echt und unverfälscht. Sie hat auch gerne mal geflunkert, in den wenigen Wochen, die sie gehabt haben, aber das dann immer konsequent, aus echter Überzeugung.
Niemand kann ehrlicher lügen als Natalie.
Vielleicht kann die echte Musik von Johnny Cash nur derjenige ertragen, der selbst in einer schiefen Ebene hängt.
Der Song endet. Niemand applaudiert. Doch. Ben. Er klatscht in die Hände. Christian stimmt ein. Der singende Gitarrist lächelt sie an, prostet ihnen zu. Der Bassist zupft ein neues Intro, der Schlagzeuger etabliert einen neuen Beat. Metronom. Tempo fünfundneunzig, denkt Christian. Und daran, dass er lange nicht Klavier gespielt hat.
»Wie geht es dir eigentlich?«, fragt Ben.
Christian wendet sich ihm zu.
Ich habe lange nicht Klavier gespielt, denkt er. Er schweigt.
Ben wendet sich ab, betrachtet den Countrysänger, der Johnny Cash nicht ähnlich sieht, trotz des Cowboyhutes.
»Gut«, sagt Christian.
»Ich habe mit Lederer gesprochen«, sagt er etwas lauter, die Musik übertönend. »Malvi hat die Suchaktion weiter ausgeweitet. Viel mehr geht dann nicht.«
Ben nickt.
»Unser Zug morgen nach Rosenheim geht um 8 Uhr 24.«
»Okay«, sagt Ben. »Gut.«
Christians Gedanken verschmelzen mit der Melodie, die der Gitarrist spielt, ein angenehm unprätentiöses Solo. Er ist seit langer Zeit nicht so müde gewesen. Die Nacht hat sich angeschlichen, ist längst da, hat sich eingenistet.
»Schlafen?«, sagt Ben. Es ist weniger eine Frage als eine Feststellung.
Christian nickt. Während sie durch das warme, dämmrig beleuchtete Foyer zum Aufzug laufen, versucht er, nach dem erlösenden Gedanken zu greifen, der alles hinfällig macht. Weil nichts von Bedeutung ist, egal was passiert. Er versucht ein Lächeln. Versucht, es auf seine Lippen zu heben, aber es ist nicht da. Abwesend, wie Jannis. Wie Dawit. Es hat sich zurückgezogen, in den Schildkrötenpanzer.
Er denkt an Natalie, daran, dass sie auf ihn wartet, aber nur vielleicht, auf einem anderen Planeten.