DURCH DAS ALL

Kann Timmy uns wirklich

gefährlich werden?!

Ben

Früh am Morgen fahren sie nach Rosenheim. Die Welt gleitet an Ben vorüber. Christian schläft für eine Weile auf dem Platz neben ihm. Er sieht ihn an. Betrachtet ihn, in aller Ruhe, ohne bestimmte Gedanken zu hegen.

Als sie ankommen, ist der Tag so blau und gelb wie die vorangegangenen. Die Stadt breitet ein pittoreskes Bild vor ihm aus, fast als wolle sie ihn veranlassen, etwas dazu zu sagen. Einen Kommentar abzugeben.

Ein redseliger Taxifahrer führt sie, auf wenig befahrenen Straßen, in einen von Hochhäusern und Firmengebäuden dominierten Vorort. Er stammt aus der Türkei, ist aber schon vor Jahrzehnten eingewandert und inzwischen leidenschaftlicher Skifahrer. Vergangenes Jahr war er zum ersten Mal Zuschauer bei der legendären Streif-Hahnenkamm-Abfahrt in Kitzbühel. »Die Schönen, die Reichen und … ich«, sagt der Fahrer und lacht schallend.

Ben stellt es sich unwillkürlich vor, auch er spürt ein Lächeln auf seinem Gesicht. Bei dem Gedanken, dass dieser lustige Taxifahrer Skipisten hinunterrast. Im Höchsttempo Klischees ad absurdum führend.

»Ja … der Winter darf kommen«, sagt der Fahrer zum

»Ich habe mit der Mutter telefoniert. Sie hat wenig gesprochen«, sagt Christian, der seinem Blick gefolgt ist. »Aber sie hat versichert, dass sie da sein wird.«

Ben nickt. Ein Flimmern hat sich vor seine Augen gelegt. Er denkt darüber nach. Dass Dawits Mutter da sein wird und Dawit verschwunden.

Feven

Das Klingeln der Türglocke löst etwas in ihr aus. Verschiedenes, das nicht zusammenpasst. Müdigkeit, Nervosität, Trauer, Hoffnung. Angst. Ein Lachen. Ein Weinen.

All das begleitet sie, während sie durch den schmalen Flur zur Tür läuft, um zu öffnen.

Die zwei Männer sind anders als das Bild, das sie sich von ihnen gemacht hat. Beide recht jung. Deutsche. Das denkt sie. Sie weiß nicht, ob ihr das Mut machen oder Sorge bereiten soll. In jedem Fall sehen sie aus wie Deutsche.

»Frau Gebreselassie?«, fragt der eine. Der Große, Schlaksige.

Sie nickt.

»Wir hatten telefoniert. Sandner. Christian Sandner von der Polizei in Wiesbaden.«

»Ja. Hallo. Kommen Sie …«

»Neven. Ben Neven«, sagt der andere.

Im Wohnzimmer hat Ermias den Kopf gehoben. Auf dem Bildschirm des Fernsehers flimmert ein Film, Feven sieht jetzt erst hin, sieht, dass Häuser explodieren und Autos durch die Luft fliegen. »Mein Sohn, Ermias«, sagt sie.

Die beiden deutschen Polizisten sehen Ermias an. Nicken.

Sie spürt ein Brennen hinter den Augen.

»Mein anderer Sohn«, sagt sie.

Ben

Bruce Wayne, sagt der smarte Mann.

Alias Batman, sagt ein anderer.

Ben versucht unwillkürlich, die Stimmen zuzuordnen. Versucht, die Stimme von Dirk Meininger herauszuhören. Eigentlich rechnet er damit. Aber nein, das sind andere Stimmen. Dirk Meininger ist der Wrestler, nicht Batman.

»Was schaust du da?«, fragt er den Jungen. Dawits älterer Bruder. Aber er ist nicht viel älter, vielleicht neun oder zehn.

»Batman«, sagt der Junge. Wie war der Name? Ermias. »Batman und Superman. Beide. Superman kommt zurück.«

Ben nickt.

»Von den Toten. Superman wird … so …«

»Zum Leben erweckt?«, sagt Ben.

»Ja«, sagt Ermias.

»Ich habe Kaffee«, sagt seine Mutter.

Feven. Feven Gebreselassie, denkt Ben. Der Name ist so fremd, aber die Frau, die in der schmalen Küchenzeile steht, ist ihm nah. So nah, dass er sie am liebsten umarmen würde. Ben sieht ihr dabei zu, wie sie Tassen befüllt.

»Für mich auch eine Tasse, gerne«, murmelt er.

Ermias hat sich abgewendet, konzentriert sich wieder auf den Film. Auf die Geschichte, die vermutlich gut ausgehen wird. Nein, ganz sicher, auch wenn die andauernden Explosionen das Gegenteil befürchten lassen.

Er geht ein paar Schritte, setzt sich neben Christian an den Tisch, auf dem ein bunt verzierter Teller mit Keksen steht.

»Ja. Mein Mann ist arbeiten. Er … kann nicht freimachen.«

»Natürlich«, sagt Ben. »Was macht er?«

»Taxi«, sagt sie.

Für einige Sekunden denkt Ben, dass sie ihn also schon kennengelernt haben. Aber nein, Dawits Vater rast nicht lachend über Skipisten, er stammt auch nicht aus der Türkei. Dawits Vater ist ein anderer Taxifahrer, einer, den er nicht kennt.

»Seit zwei Monaten. Eine gute Arbeit«, sagt sie. »Mein Mann macht die Arbeit gerne.«

Ben nickt. Feven Gebreselassie bringt die Tassen an den Tisch. Christian hat sich einen Keks genommen, beißt hinein.

»Ja«, sagt Ben. »Wir sind gekommen, um noch einmal … ein Bild zu bekommen von dem Tag, an dem Ihr Sohn Dawit …«

»Erzählen Sie noch einmal aus Ihrer Erinnerung, wie Sie die Situation erlebt haben«, sagt Christian.

Hat er ihre Augen nicht gesehen? Hat er nicht gesehen, dass sie ein Gespräch führen, das nicht geführt werden kann? Ben strafft sich, schließt und öffnet die Augen. Er wartet, und Feven Gebreselassie beginnt zu sprechen. Leise, behutsam. Jedes Wort abwägend. Er lauscht. Hört ihr zu, während sie sagt, dass es einfach so passiert ist. Von einem Moment auf den anderen. Ein Kippmoment, der alles verändert. Und niemand hat es kommen sehen.

»Wir waren bei einem Termin … es ging um unsere Weiterreise nach Deutschland. Mein Mann hat drinnen gewartet, er hatte so eine … Nummer … eine Wartemarke, genau. Die zieht man aus einem Automaten und wartet dann, bis man drankommt.«

»Gut. Und Sie und Dawit …«

»Ich war mit den Kindern in ein Café gegangen, wir haben Kakao geholt.«

Ben nickt. Er schmeckt unwillkürlich Kakao auf der Zunge. Bitter, süß. Unendlich schokoladig.

»Ermias wollte zur Toilette, da bin ich mit ihm gegangen, um danach zu sehen … zu suchen … das war höchstens … zwei Minuten.«

»Und Dawit war in der Cafeteria?«

»Ja. Ich habe ihm gesagt, dass er da sitzen bleiben soll.

»Raus, ins Freie? Sie meinen, dass er das Gebäude verlassen haben könnte?«

»Vielleicht. Er war so unruhig. Ich glaube, Sie sagen … hibbelig. Und es war ja … draußen war dieses Fest, alles bunt, und …«

Sommer bei Nacht, denkt Ben plötzlich, er weiß nicht, warum.

»Es war ja ein schöner, heller Tag«, sagt Dawits Mutter.

Lea

Gegen Nachmittag verlässt sie das Haus. Läuft. Über den Kies zum Tor, auf den Gehweg. Sie wendet sich nach links und nach rechts. Hält inne.

Dann wendet sie sich nach links, in Richtung Stadt. Sie läuft an den vertrauten Häusern vorüber. Die Namen der Nachbarn fliegen vorbei, wie Gedanken, vor ihren Augen, die mit Tränen benetzt sind. Aber sie weint nicht, es ist eher eine Reizung, vielleicht durch die Sommerluft.

Schöner, heller Tag. Sind ihre Augen nicht mehr daran gewöhnt, von Sommerluft umspielt zu sein? Hat sie so lange gezögert? So lange im Haus gesessen, auf dem Sofa?

Frau Mertens, die Nachbarin zur Rechten, hebt den Blick von Blumen, während sie vorübergeht. Frau Mertens hat einen Gruß auf den Lippen, aber sie hält inne, zögert. Es hat ihr die Sprache verschlagen.

Sie wollten doch auch längst weg sein. Oder?

Ja, doch, sie hatten gebucht. Die ganze Familie. Der Gedanke ist vage. Hat Dirk die Reise storniert? Nein. Verfällt sie jetzt? Kostenpflichtig? Wohin wollten sie eigentlich? Auf die Kanaren. Ja. Wann? Erste Ferienwoche. Wann genau? Sie weiß es nicht. Heute? Morgen? Oder doch erst kommende Woche?

Ohnehin ist die Reise zu Ende. Hier an dieser Kreuzung. Nicht weit von zu Hause. Sie hat Jannis nicht gefunden. Er war nicht hier, hat nicht vor einem der Nachbarhäuser gestanden, mit einem der Kinder, hat keinen Ball gegen eine der Garagenwände gekickt.

Sie kehrt um. Als sie am Garten der Familie Mertens vorübergeht, sieht sie den kleinen Sohn. Er spielt Fußball im Garten.

»Kommt Jannis vorbei?!«, ruft er, als Lea den Blick hebt.

Sie sieht, dass Frau Mertens, neben dem Blumenbeet, zusammenzuckt.

Lea sucht nach einer Antwort auf ihren Lippen. Betrachtet den Jungen.

»Nein, heute nicht«, ruft sie ihm zu.

»Okay«, ruft der Junge.

Okay, denkt sie.

Läuft, über den Kies, zurück ins Glashaus.