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Das friedliche Glück von Kirchzarten, dem Dorf im oberen Dreisamtal – dort, wo wir wohnten, in der Höfener Straße mit freier Sicht auf die tannenbewaldeten Berge, sommers in bläulichem Dunst, leuchtend gelbrot in jedem Herbst und Winter für Winter in atemberaubendem Weiß –, blieb noch ein bisschen erhalten in dem Haus mit der Nummer vierundzwanzig, wie für Heiligabend geschaffen, auch wenn der, von dem alles Glück abhing, mein Vater, innerlich schon nach etwas anderem gestrebt hat, einem Neuanfang, beruflich und überhaupt. Die Kinder merkten davon nichts, sie gingen ganz in ihrem Reich von Haus und Garten auf, in einer Gegenwart, die ihnen unendlich erschien, während die Eltern im Grunde noch immer Davongekommene waren, zwei Gestrige wider Willen, jeder auf seine Art nicht erholt vom Krieg und der Anstrengung, ihn in sich und um sich herum ungeschehen zu machen.
Friedliches Glück – da gab es Streifzüge durch schon wogende Felder, die kitzelnden Halme und Ähren, oder das Gehen über quellende Wiesen mit Wasserläufen, darin Molche, die sich fangen ließen; und da gab es den nahen Wald, voller Laute, voller Atem, wenn man morgens im Frühsommer zur Höfener Hütte aufbrach. Es gab die Wege mit den Kreuzen am Rand, gut zum Fahrradfahren, und die Brücken über rauschende Bäche, darin Forellen unter Steinen, auch die konnte man schnappen, und es gab das alte Dorf, in mancher Straße schon der schwarze Teerwagen mit seinem Duft. Es gab Mistkarren, gezogen von Ochsen, und hellen Peitschenknall, und es gab die Gasthöfe, den Hirschen, die Krone, die Sonne, den Löwen, die Fortuna, manche mit Musikbox, Freddy sang das Lied Heimweh (nach Memories Are Made of This), Dort, wo die Blumen blühn, dort, wo die Täler grün, dort war ich einmal zu Hause. Wo ich die Liebste fand, da liegt mein Heimatland – das konnte man hören auf dem Weg durchs Dorf. Aber es gab auch die Läden mit den Namen ihrer Besitzer wie Elektro-Kümmerle, Optik-Eckmann, Fahrrad-Rombach, Eisen-Kromer, Süßwaren-Dengler, Salon Zimmermann oder Auto-Wunderle; und nicht zu vergessen die Dreisam-Lichtspiele mit dem Schaukasten am Gasthof Löwen, jeweils montags neue Bilder, die Filme bis zur Wochenmitte nur für Erwachsene, frei ab achtzehn. Im Löwen selbst gab es das Jägerschnitzel und neben der Garderobe ein Schild: Zu den Aborten. Und zum Schnitzel gab es Bier, frei ab sechs, wenn unsere Hüterin dabei war, und später den Rotamint-Automaten, an dem wir spielen durften. Alles in allem ein still in den Adern zirkulierendes, erst Jahre danach bemerktes Glück, das für uns Kinder schon ein Rückhalt war (für die Geschwister mit den seltsamen Namen – niemand im Dorf hieß ja wie wir, was mit dazu beitrug, dass wir Geschwister wurden).
Das unbemerkte, stille Glück; für mich ist es die unendlich erscheinende Gegenwart in dem Reich von Garten und Schuppen, die Freiheit, dort zu tun, was ich will, und die Herrschaft über jeden, der sich an meinen Spielen beteiligt. Ich klettere auf die hohe Birke, dorthin, wo niemand mir folgen kann, und bin stolz auf das Alleinsein im Wipfel. Ich fessele meine kleine Schwester an einen Pfahl und sage ihr, wie sie sich befreien kann, und fühle mich als großer Bruder, wenn es ihr schließlich gelingt, alle Fesseln zu lösen. Ich locke Kinder aus der Nachbarschaft in meine Schuppengeisterbahn, sie müssen sogar zehn Pfennig Eintritt zahlen für ihr Hindurchkriechen, und wenn sie danach vor Grausen benommen sind, kann ich sie an Ort und Stelle, verkleidet als gespenstischer Arzt, mit einem Stöckchen nach Belieben untersuchen – Dokterles heißt dieses Spiel im Dorf. Und auch das Dorf ist noch Teil meiner Welt, der gefährliche, dem ich es zeigen will. Ich presche durch die unteren, alten Dorfstraßen, ein Messer in der Tasche, ich bin glorreich. Bis plötzlich ältere Jungs auftauchen, vor dem Gasthof Sonne, wo aus der offenen Tür laute Musik kommt, Ciao Ciao Bambina, von dem gläsernen Kasten mit dem Fächer der schwarzen Schallplatten, und ich mich davonmache, gar nicht mehr glorreich. Und wieder zurück im geschützten Garten verstümmle ich mit dem Messer Blumen und ritze Baumrinden auf, dass ein Saft am Stamm herunterrinnt; ich zertrete Käfer und Nacktschnecken, um mich in meiner Verdrossenheit zu erschöpfen. So vergeht der lange Nachmittag, bis am Abend, wenn es schon dunkel ist, das Motorgeräusch des VWs, sein feines Klirren, ehe der Motor erstirbt, meinen Vater ankündigt. Er kommt ins Haus und streicht mir und der Schwester, ihr länger als mir, über den Kopf. Dann essen wir, was auf dem Tisch steht, und später, wenn ich schon im Bett liege, höre ich das mütterliche Tippen, ich schlafe ein damit. An nächsten Morgen wieder die Schule, die anderen aus meiner Klasse, und bei jeder Annäherung, etwa beim Kicken auf dem Pausenhof, das Gefühl, als liege zwischen mir und den anderen eine kleine, aber unüberschreitbare und eben darum unendliche Kluft, ohne dass mein stilles Glück damit ernsthaft gestört wäre; nur ist es eben allein das meine in der maßlosen Gegenwart dieser Zeit.
Das Jahr neunzehnhundertachtundfünfzig, es schien gar nicht zu enden, nicht für mich, auch wenn darin, unübersehbar, etwas zu Ende ging. Die Firma AAP war in letzter Sekunde mit erträglichen Schulden in andere Hände übergegangen, und ihr Gründer war jetzt ihr Angestellter. Mein Vater leitete die Geschäfte der übernommenen Firma aus einem Büro in Freiburg, immer noch in der Lage, die große Blechpresse in der kleinen Fabrikhalle und auch die Spritzlackiererei für ein besonderes Weihnachtsgeschenk an seine Frau einzuspannen, die plötzliche Mutter und Hausfrau mit zwei Kindern und einer Schreibmaschine und der lauten Sehnsucht nach Glück. Wenn er ihr schon kein Vaterersatz war und auch nicht der Mann, der die Liebe dauerhaft durch eine Sprache der Liebe bejahte, sollte sie wenigstens den Gegenstand bekommen, der es ihr erlaubte, sich selbst zu bejahen. Und so stand an Heiligabend im Bescherungszimmer ein singulärer, alles gestalterische Vermögen des Hausherrn wiedergebender Toilettentisch aus Stahlblech, flamingofarben, mit gerundeten Seitenflügeln, kleinen und großen Laden und einer raffinierten Beleuchtung, vor allem aber schwenkbaren Seitenspiegeln, die es ermöglichten, sich bis ins Unendliche darin zu erkennen. Und die hellen Rufe der Entzückung, als die Beschenkte ihr Geschenk sah und im Schein der brennenden Kerzen am Baum zum ersten Mal davor Platz nahm, sind mir noch so im Gedächtnis wie die eigenen ersten Blicke in einen der Spiegel, in dem immer wieder mein Gesicht im Profil auftauchte, kleiner und kleiner werdend, aber nicht endend, so, als führte es einmal um den Erdball, um aus dem anderen Seitenspiegel wieder herauszukommen – wie ein Modell zur Erprobung von Weltruhm.
Der Toilettentisch der unendlichen Perspektive, er kam ins Elternschlafzimmer und war ein Sinnbild für die Perspektive des Familienglücks, ebenso meine von Jahr zu Jahr wachsende, wie für die Ewigkeit geschaffene Märklin-Eisenbahn mit einer von Vaterhand gestalteten Landschaft auf großer Holzplatte, darunter versteckt sämtliche Kabel, verlegt vom Elektriker der Firma, mein Vater dagegen der Meister des Sichtbaren – unvergessen, wie wir aus Leim und altem Zeitungspapier einen Berg mit Tunnel geformt haben, er ihn bemalt hat und an Heiligabend die grüne Güterlok, bekannt als das Krokodil, vorn mit drei Lämpchen, erstmals hindurchfährt, mitbestaunt von der kleinen Schwester, die ihr Kleines fast schon abgelegt hat. Noch ist sie treue Assistentin der Spiele des Bruders im Schuppen, aber auch schon die flach auf dem Schlitten Liegende mit dem Mut zur Schussfahrt – Bahn frei, Kartoffelbrei! –, und kein halbes Jahr später springt sie kopfüber vom Dreimeterbrett. Nun staunt der Bruder, ja gibt mit ihr an, und der Vater spendiert ein Eis – fehlt bloß noch der große blaue Nivea-Ball, um das Glück abzurunden, aber der Ball, den nur wenige haben, ist zu teuer für ein Alltagsgeschenk, also träumt man davon, wie auch von einem Tacho am Rad, einer Luftpistole oder gar dem Luftgewehr. Und trotz dieser Träume, eher aber, weil sie sich mit den Jahreszeiten verbinden, erleben die Geschwister zusammen den Sommer der Sommer, jeden Tag im Freibad, und den Winter der Winter, jeden Tag im Schnee, und am Ende des Winters, während der Fasnet, den Schrecken der Schrecken, wenn Hexen und Teufel durch die Straßen ziehen, die Kirchzartener Höllenzunft; dazu kommt der Herbst der Herbste mit seinen lodernden Farben und schließlich die Weihnachtszeit der Weihnachtszeiten – nie wieder hat sich ein Erleben so mit seinem Plural verknüpft wie in diesen wenigen Elternhausjahren (und der, der sich zurückerinnert, kann nur mit mangelnder Logik davon erzählen, weil die Ereignisse in ihm keine Reihenfolge ergeben, sondern ein Mosaik sind).
In der Volksschule regiert der Knüppel, von den meisten Eltern nicht nur gebilligt, sondern erwünscht. Für Buben gelten die Bauernregeln der Züchtigung, für Mädchen die aus dem Klosterleben, sie trifft es mit dem Tatzenstock auf die Finger; Schmerzgeheul ist so alltäglich in der Schule wie das Vaterunser. Die Dörfler sind bäurisch-katholisch gottesfürchtig, aber ihr Lieblingsfluch heißt Gottverdammi! Sie leben gleichermaßen mit ihren Heiligen wie mit ihren Dämonen; am Abend vor Aschermittwoch wird eine lebensgroße Hexenpuppe auf einem Scheiterhaufen im Beisein einer gebannten Menge dem Feuer übergeben, um den Winter auszutreiben. Mit der Hexenverbrennung endet die Fasnet, und am Schmutzigen Donnerstag fängt sie an, abends im Dorf mit einem Spießrutenlaufen unter den trommelnden Hieben so praller wie stinkender Schweinsblasen, den Saublodere, mit Schnüren an Stöcke gebunden, um damit nach den Kindern zu schlagen. Es tut nicht besonders weh, aber versetzt in Angst und Schrecken, dazu noch bei einem rauen Gesang aus der Dunkelheit, Borschtig, borschtig, borschtig isch die Sau, und wenn die Sau nit borschtig wär, no gäb sie keine Würschte här! Wir singen es am Ende mit und tauchen ein in die entfesselten Tage, für uns mit dem Höhepunkt der Kinderfasnet im Dorfkino hinter dem Gasthof Löwen. Dort gibt es für die jüngere Jugend den Nachmittagskostümball, und im Vorgarten des Kinosaalbaus hat die längst gemeinsame Hüterin der Geschwister – spätestens nach Weggang des Kindermädchens war ihr Schirm aus Geschichten und Extramahlzeiten auch über meine Schwester ausgebreitet, genannt nur Der Fratz – von den zwei für den Ball Kostümierten zum Glück noch schnell ein Foto gemacht.
Der Winter, sieht man dort, ist schon ausgetrieben, auch vor der Hexenverbrennung ist der Schnee geschmolzen, aber das Gras ist noch platt, und eine tiefe Februarsonne wirft lange Schatten. Die Geschwister stehen nebeneinander, ein Neunjähriger und eine Fünfjährige, er als kleiner Zorro, sie als Kaminfeger. Ich halte einen Revolver und trage eine Larve, Zeichen dafür, dass ich, wie Zorro, mit dem Gesindel aufräume. Sie trägt einen Zylinder und hält meine Hand, die andere Hand greift um ein Gummischweinchen, ihr Zeichen, dass sie eine Glücksbringerin ist. Nur sieht sie selbst recht unglücklich aus, in übergroßen Stiefeln und von Sonne geblendet, während der große Bruder, durch die Augenmaske vor dem Licht mehr geschützt, sein Mündchen wie zu einem Kuss schürzt, als würden ihn im Saal alle Mädchen erwarten. Er trägt einen grimmig-schwarzen Hut, künstliche Locken fallen ihm in die Kinderstirn, und der Patronengurt sitzt über dem Nabel. Alles an ihm ist lächerlich, vom Sommerkavalier, der schon den Handkuss beherrscht, ist nichts mehr zu sehen – oder zeigt sich in genau dieser selbstgewählten Maskerade. Und dennoch sieht er sich, vermutlich, für den Ball gerüstet, dank einer von den närrischen Tagen noch angeheizten Überschätzung; die kleine Schwester mit Ponyfrisur unter dem Zylinder scheint dagegen wenig Hoffnung in die Veranstaltung zu setzen. Ihr bleibt nur das Gummischwein für das Foto und später im Saal nur der Bruder für die Hopserei auf der Tanzfläche. Umgekehrt ist es aber nicht besser, dem Bruder bleibt nur die gestiefelte Schwester, und das Lied der Lieder heißt Marina, Marina, gesungen von Vico Torriani auf Deutsch, Bei Tag und Nacht denk ich an dich, Marina, du kleine zauberhafte Ballerina (jeden Sommer hört man es noch in unserem Ort am Gardasee, wenn abends der Alleinunterhalter, vor sich sein Notebook, Marina, Marina, Marina, Ti voglio al più presto sposar singt). Der Zorrobruder tanzt zu dem Schlager mit der an das Schweinchen Geklammerten, sein Blick geht dabei in den Saal, er sucht die Liebste, aber Doris, die Arzttochter mit Katzenaugen, weichen Wangen und Pferdeschwanz hält nichts vom Kinderrummel – und bei einem Wiedersehen nach einer Lesung in Regensburg, wo sie Deutschlehrerin war, erzählte sie von drei Worten, einst von mir wie ein Fanal an eine Wand gepinselt, ein um Jahrzehnte verfrühtes Graffito an einer noch dazu frisch geweißten Wand ihres Elternhauses: mein Name und ihr Name und dazwischen das Wort lieben, dritte Person Singular.
Der Junge hinter der Zorromaske erträumt sich eine Liebe, in die sein aufgeschwemmtes Ich verströmen könnte, eine Erlösung für den Infanten, das Unkind in ihm. Doch es bleibt bei den Tagträumen und Einschlaffantasien, die alles Ichhafte nur noch mehr aufschwemmen – wie oft habe ich Doris aus Gefahren gerettet, mal im Wald, um sie in einem Baumhaus in Sicherheit zu bringen, mal auf See, um dann mit ihr auf einer einsamen Insel zu stranden, unzählige Male. Und in diesen Träumen glich sie den jungen Frauen auf den Bildern in den erbaulichen Leseheften, die es in der Volksschule für fünfzig Pfennig gab, den Tellus-Lesebogen. Die schon etwas älteren Mädchen darin passten auf Kinder auf oder halfen im Haushalt oder saßen im Garten auf einer Bank, ein Buch im Schoß, anmutig, mit freier Stirn und geflochtenem Haar, dabei schlank, aber nicht dünn, manche gar schon mit einer Andeutung von Brust, den Blick leicht gesenkt, so schamhaft wie die jungen Frauen in der Kinderbibel, die Krüge auf dem Kopf trugen und im Abendlicht durch Galiläa schritten. Und genau das war Doris, wenn wir auf den Stufen zum Haus ihrer Eltern ein Spiel spielten, eher aber so taten, als würden wir würfeln und Hütchen auf einem Spielfeld bewegen, und in Wahrheit nur vor uns hin trödelten: eine irdische Kinderbibelschönheit.
Zu dem Mosaik der Kirchzartener Elternhausjahre gehört diese frühe Liebe wie auch der frühe Liebeskummer, zugleich ein Kummer darüber, eben nicht der Rächer des Kinderfaschings zu sein, von den einen bewundert, von den anderen gefürchtet, sondern der, der meist allein in seinem Schuppenreich spielt, dort die Geisterbahn unter dem Dach ausbaut oder sich, träumerisch, in Geschichten verliert. Er liest Heftchen und Deutsche Heldensagen und die Reihe Illustrierte Klassiker; er blättert im Bertelsmann-Lexikon, in dem die Mutter nachschlägt, was sie nicht weiß, er findet sogar seinen Nachnamen, nur gehört der einem Physiker. Und an langen, wie aus der Welt gefallenen Nachmittagen taucht er auf dem Dachboden in eine bebilderte Kurzfassung von Robinson Crusoe ein und verliebt sich in Freitag, den Insulaner, dargestellt in so schamhafter Anmut wie die jungen Frauen in der Kinderbibel, halb muskulöser Jüngling, halb Schönheit mit wallendem Haar. Das Buch wird sein ständiger Begleiter, er hat es auch in der Schule dabei, und in einer verregneten Woche – vermutlich im März des vorletzten Elternhausjahres – entsteht, wie einem Teig aus allem Gelesenen und Vorsichhingeträumten entnommen, seine erste kleine Erzählung, getippt auf der mütterlichen Maschine, zwei oder drei Seiten unter dem Titel Jagd um die Welt.
Außer diesem zusammenfassenden Titel ist davon nichts geblieben, weder eine Erinnerung an den Helden noch an Einzelheiten seiner Jagd – überstrahlt, nehme ich an, von etwas viel Bewegenderem aus diesem Frühjahr: einem kleinen Filmprojektor, der schon zu Weihnachten da war, allerdings fehlten noch die richtige Leinwand und wenigstens ein vorführbarer Film, beides kam zu Ostern. Der Film war ohne Ton und hieß Überfall auf den Goldexpress, und nach zwölf Minuten war alles vorbei, das Gold wieder in den richtigen Händen – unvergessen, weil ich den Film immer wieder vor Gleichaltrigen und auch etwas Älteren, die sich über Nacht Freunde nannten, im verdunkelten Schuppen vorführte. Das Heimkino war eine Sensation im Dorf, und so zahlten auch alle bereitwillig zwanzig Pfennig Eintritt, um das Drama um den Zug verfolgen zu können. Nur Bertram, der Freund, musste nichts zahlen, und auch Doris hätte für die fußfreie Reihe, eingerichtet nach dem Vorbild der Dreisam-Lichtspiele, eine Freikarte bekommen, aber sie folgte dem Ruf der selbstgemachten Filmplakate nicht (erst bei meinem zehnten Geburtstag, dem letzten im Elternhaus, war sie dabei, ein Foto der Kinderrunde beweist es).
Das Verfügen über bewegte Bilder oder ein Stückchen Glamourwelt, möglich geworden mit dem Vorführgerät, der Leinwand und dem Goldexpressüberfall – ein zweiter kleiner Film kam später am Geburtstag dazu: Das heimtückische Sprudelwasser –, brachte mir mehr und rascheren Erfolg als der erste Schreibversuch, wahrgenommen allein von der Besitzerin der Schreibmaschine, das allerdings in einer Weise, die dem Debütanten das Gefühl gab, im Erfinden von etwas oder in dem in eine Form gebrachten Lügen könnte seine ganze Zukunft liegen. Und mit Einsetzen der warmen Jahreszeit trat auch das Heimkino in den Hintergrund, das Leben fand wieder im Garten statt, mit dem Klettern auf die hohe Birke, mit dem Rasenmähen, dem Beschneiden des Heckenlabyrinths und dem Rechen der Kieswege. Es war ein ja alter angelegter Garten, auch aus heutiger Sicht durchaus groß, tausend Quadratmeter, damals für den Streuner ein Park. Er kennt jeden Winkel darin, er kennt jeden Baum, es sind seine stummen Gefährten, vor allem die knorrigen Obstbäume; dort wachsen Äpfel und saftige Ringlotten, süße Mirabellen und dicke Kirschen, aber auch Birnen und Pfirsiche. Und so blüht es auch in allen Farben, und der mit sich selbst Spielende fällt in Träumereien, benommen von Blütendüften und dem Gebrumme der Maikäfer. Er schüttelt sie aus den Ästen, sie fallen als dicke dunkle Tropfen herunter, er setzt sich einzelne auf den Handrücken und spürt ihr feines Ankrallen an der Haut; er sieht ihrem Pumpen zu, bevor sie auffliegen, und manche quält er auch, spießt sie auf Nadeln oder ertränkt sie in der Regentonne, immer noch besser, als sie in Schuhschachteln zu verbrennen, wie es die Dorfjungs tun. Er ist der Herr der Maikäfer, weil er der Herr des Gartens ist. Und in den Träumereien an Nachmittagen, an denen die Zeit stillzustehen scheint, sieht er sich als Jäger, wenn er mit Pfeil und Bogen von Baum zu Baum streift, auf Vögel zielt, oder als Detektiv, wenn er mit Blechrevolver in der Tasche umhergeht, nicht nur im Garten, auch im Dorf und, sobald es die erdachte und ihm schließlich als rundherum weltwahr vor Augen stehende Situation verlangt, sogar außerhalb des Dorfs, oft auf dem nahen Giersberg mit Blick über ganz Kirchzarten.
Aus der Höhe gesehen, etwa hundert Meter über dem breiten Tal, war das Dorf dort, wo die Häuser eng standen, noch um die katholische Kirche geschart, so, wie es sein sollte, eine Kirche mit Giebelturm, nicht sehr hoch, dafür wehrhaft, eine Art Klotz mit Glocken. Dagegen hatte der obere Ortsteil mit den neueren Straßen, auch der Höfener, etwas Geöffnetes, aus dem nicht einmal die kleine evangelische Kirche, die dort zwischen Tannen stand, hervorstach – die Kirche unserer Kindergottesdienste, in die an Heiligabend auch meine Hüterin geht und mit der Opernstimme Furore macht, singt und sogar betet, obwohl sie über alles die Himmelsmutter verehrt, die dort keinen Platz hat. Und wenn sie mich in den Tagen zwischen den Jahren an die Hand nimmt für einen Gang zur wahren Kirche, der katholischen, führt dieser Gang auf eine unsichtbare Grenze im Dorf zu, sobald wir ihr Zimmer verlassen, sie im Zarinnenmantel, ich sonst wie vermummelt. Wir gehen im Schnee, vorbei am Schlachthof, der mich bis in den Schlaf beschäftigt, und die Grenze zum Unterdorf ist schon überschritten; auf der anderen Straßenseite liegt der Gasthof Krone und ein Stück weiter der Hirschen, davor eine Kreuzung, die überqueren wir. Dann geht es am Gasthof Sonne vorbei, die Musikbox dort außer Betrieb in den Weihnachtstagen, und am Frisör Zimmermann mit Sohn Theo aus meiner Klasse, dem Frisör mit Holzbein wie mein Vater, einmal im Monat kürzt er mir die Haare, während das Radio läuft. Und schließlich geht es, um das alte Rathaus herum, in ein Sträßchen zwischen der einstigen Talvogtei und dem Friedhof, um dort erst die Kindergräber zu besuchen, für alle Kleinen im Himmel zu beten, um endlich in die immer kalte und düstere, dafür aber nach Weihrauch duftende Kirche zu treten. Am Eingang taucht meine Hüterin zwei Finger ins Weihwasserbecken und bekreuzigt mich und sich für den Weg zum Altar mit einer Krippe davor wie dem Weihnachtswunder selbst, in der Mitte das hochheilige Paar und das göttliche Kind, beschützt von Ochs und Esel und den Hirten auf dem Feld, aber es fehlt auch nicht der Komet am Himmel und das Nahen der Heiligen Drei Könige. Alles ist so lebensgroß echt, dass mir die entsprechende Bemühung in der evangelischen Kirche wie ein Stück missglückter Modellbau vorkommt. Und es tut sich sogar etwas in der Krippe, man muss dafür nur einem Mohren, der vor dem offenen Stall steht, zehn Pfennig in einen Schlitz in der Stirn schieben. Die Besucherin im gefütterten Mantel hält das Zehnpfennigstück schon bereit, und ihr staunender Begleiter schiebt es in den Schlitz; leise klickend fällt es auf andere Münzen, der Mohr aber bedankt sich mit artigem Nicken und macht dazu eine Handbewegung Richtung Krippe, wo im Stall zwei versteckte Lämpchen angehen und ihren Schein auf das Jesuskind legen – für den Jungen aus dem oberen Dorf trotz des Groschens ein Wunder.
So erwärmt wie erleuchtet, still beglückt, verlässt er die kalte düstere Kirche, und etwas von dieser Wärme und dem inneren Licht hält sich in ihm. Er nimmt es mit in den Winter, in die eisigen halbdunklen Nachmittage auf den verschneiten Hügeln hinter dem Dorf, wenn es mit dem Schlitten abwärtsgeht, er sich allein eine Bahn sucht, abseits der anderen; er nimmt es mit ins Frühjahr, in die Zeit der ersten Milde, wenn im Garten und auch sonst überall das Leben erwacht, nur er selbst hinterherzuhinken scheint, unschlüssig, ob sein Leben und das allgemein erwachende ein und dasselbe ist oder ob ihm nicht die Kinder im Kinderhimmel näher sind als die Jungs, die nur mit seiner Märklin-Eisenbahn spielen wollen. Und er nimmt das so stille und damit auch traurige Glück, das innere Wunderlicht, mit in den Frühsommer und ist auf die Weise schon eingestimmt auf ein ganz anderes katholisches Ereignis, den jubelhaftesten aller Feiertage im Dorf, wenn emsige Ordensschwestern über Nacht an jeder Straßenecke und vor jedem Brunnen mit Abertausenden von Blüten, ihren Farben, ihren Düften und Bienengesumm über allem, der Jungfrau Maria und ihrem Kind mit Blumenbildern gehuldigt haben – zu Fronleichnam.
Vom Wecker geweckt, bin ich schon frühmorgens auf dem Weg zum großen Arzthaus am Dorfrand Richtung Oberried, zu der Untermieterin im Haus, die mich auf katholischen Boden führen soll. Noch ist der Himmel blassblau, und außer mir ist niemand unterwegs, da sind nur die Schwestern in weißer Tracht und legen letzte Hand an ihre Blumenbilder. Der so zeitig Aufgestandene wagt es kaum hinzuschauen, es steht ihm nicht zu; erst an der Seite derer, die sich der Himmelsmutter verbunden fühlt, wird er dazu berechtigt sein, auf dem Weg zu ihr noch nicht. Also eilt er wie mit Scheuklappen durch das Dorf, bis er auf der leicht abfallenden Kreuzung zwischen dem Gasthof Sonne und dem Gasthof zum Hirschen für einen Moment stehen bleibt, weil hinter ihm die tatsächliche Sonne aufgegangen ist, seinen Rücken wärmt, aber ihr Licht auch schon auf den Schauinslandrücken wirft. Und der erhebt sich an dem Morgen so nah, als läge Kirchzarten an seinem Fuß, ohne die Felder und bewaldeten Hänge dazwischen. Als ein wahrhaftiger Berg erhebt er sich, seine Masse noch in dunkelbläulichem Dunst über den Tannen und die baumlose Kuppe hell wie der wolkenlose Junihimmel darüber. Es ist nur ein langer Augenblick, kaum länger als vier, fünf Herzschläge, der dem Stehengebliebenen morgens gegen halb acht ein für alle Mal sagt, dass dies seine Heimat sei und er mitten in ihr lebe, ja, dass er überhaupt lebe – ein jähes, in dieser Wucht einmaliges Gefühl von Erfülltheit, hier und jetzt als Menschenkind auf der Welt zu sein, sehen zu dürfen, was er sieht, einzuatmen, was er einatmet, und von Kopf bis Fuß zu empfinden, was er empfindet, das ganze Glück des Daseins. Den letzten Wegabschnitt zum Arzthaus auf der Straße nach Oberried, vorbei an der Krone, vorbei am Schlachthof, legt er in einem Hüpfgang zurück; die Großmutter erwartet ihn schon, sie trägt ihr Sommerdirndl und hat sich für den Festtag Löckchen über der Stirn gedreht. Sie hat auch eine Stärkung für ihn vorbereitet, zwei Semmeln mit ungarischer Salami. Die verdrückt er, um danach, fest an der Hand gehalten, durch ein verwandeltes Dorf zu gehen.
Wir zogen in jetzt schon warmer Luft von Blütenmeer zu Blütenmeer mit Bienen mal über dem Jesuskind, seinem verzeihenden Lächeln, mal über der himmlischen Mutter, ihrem bekümmerten Blick, als schaute sie in die Zukunft des Erstgeborenen, wie er einmal enden würde, während die frommen Frauen da und dort immer noch etwas verbesserten, ein Auge mit Vergissmeinnichtblüten, einen erhobenen Finger mit Fleißigen Lieschen. Und unser Fronleichnamsgang von Straßenecke zu Straßenecke und von Brunnen zu Brunnen mit einem Bild davor endete auf dem Friedhof der wahren Dorfkirche, bei den Kindergräbern, die wir schon besucht hatten, als auf den kleinen Kreuzen Schnee lag. Wir beteten für die, die nur wenige Jahre oder gar nur Tage auf der Welt gewesen waren: Aber dafür jetzt im Kinderhimmel seien, ganz nah beim Hundehimmel, so erklärte es die Gläubige dem Enkel – ohne zu ahnen, welcher Bogen mit den Kinderfriedhofsbesuchen unter immer strahlendem Junihimmel von Jahr zu Jahr in ihm geschlagen wurde: dass seine Augen den Sommer sehen, das allmählich erwachende Denken aber dahinter den Tod.