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Mrs. Bennett, die amerikanische Dame, die in diesen Spätsommertagen ohne Balkon und Meerblick auskommen muss, weil sie sich nicht rechtzeitig um das Zimmer bemüht hat, das bereits meinen Eltern als das schönste im Hotel Beau Sejour erschienen war, Mrs. Kathryn Bennett aus Fort Myers, Florida, wie ich inzwischen weiß, hat das traumhafte alte Reiseplakat von Portofino gekauft. Als ich heute vom Frühstück kam, lag eine Ansichtskarte von dem Plakat halb unter meiner Zimmertür, mehr platziert als nur hingelegt; auf der Rückseite in einer klaren, vorwärtseilenden Schrift die Information zu dem Kauf und der Hinweis, dass die Karte ein kleiner Trost für mich sei, a small consolation for you, als wäre ich ihr Konkurrent um das Plakat gewesen. Und jetzt steht der kleine Trost auf dem Balkontisch, ans Geländer gelehnt, ein feiner Druck, keine billige Karte – der Blick von oben auf das berühmte Hafenörtchen, über eine prächtige Agave hinweg; daneben, steil in das Bild aufragend, eine zweite Agave, aber kurz vor ihrem Ende, wenn sie als Höhepunkt eines langen Lebens zu einem dünnen, todgeweihten Baum emporwächst: ein Detail, das mir vor dem Original in der Galerie gar nicht aufgefallen war.
Und seitdem, seit drei, vier Tagen – die Tage verschwimmen, wenn die Gedanken mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart sind –, ist der Sommer zurückgekehrt, mit einem Himmel von maßlosem Blau und Temperaturen, dass man den Vorhang gegen die Sonne schließt. Der Balkon ist erst am späten Nachmittag ein guter Platz, wenn viele schon ihre Strandliegen vor dem Hotel aufgeben; am längsten liegt dort meine Mrs. Bennett in vorderster Reihe, um die Hüften immer ein buntes Tuch, plötzlich aber ist sie im Meer, und das Tuch flattert um den Sonnenschirmständer – keine schlechte Schwimmerin im Übrigen. Der Dank für ihre schöne Karte steht noch aus; weder heute noch gestern hat es beim Frühstück eine Begegnung gegeben, und beim Abendessen können wir uns nicht begegnen. Mir sind kleine Lokale in der Umgebung lieber als die Halbpension; auch meine Eltern hatten hier nur Frühstück, das Beau Sejour war ein Hotel garni in den Fünfzigern. In dem Leseraum oder Bücherzimmer hängt ein alter Prospekt an der Wand – wo jetzt die belaubte Terrasse ist, war ein Stück Garten, auch mit einer prächtigen Agave, aber ohne ihre todgeweihte Mutterpflanze daneben. Und je öfter ich vor diesem gerahmten Prospekt stehe, seine Bilder betrachte, zum Beispiel eine Frau im Badeanzug auf dem Strandstück vor dem Hotel, wie in einem Jubel die Arme hochwerfend, oder zwei Kinder mit einem großen Badeball, nicht weit entfernt von den nadeldünnen Spitzen der Agave, desto mehr zeigen diese alten Schwarzweißaufnahmen von Strand und Hotel unter immer wolkenlosem, in seinem tiefen Blau fast dunklen Himmel etwas von dem Doppelgesichtigen, das an so strahlenden Tagen wie Fronleichnam, aber auch schon in dem Gasthof oberhalb des Moorsees auf stille Weise entstanden ist: Mit meinen Augen allein den Sommer zu sehen, all sein Lebendiges, und mit den Gedanken das Gegenteil, das Ende von allem.
Die Kindergräber gingen mir nach, die kleinen Holzkreuze unter der Junisonne, die kleinen Toten unter der Erde – noch in den Sommerferien ist da bei schönstem Wetter die Frage, ob es eher im Himmel oder eher in der Erde ein Weiterleben gebe; kein ständiger Gedanke, aber ein wiederkehrender, teils in Tirol, erneut als Zankapfel der ungleichen Schwestern, teils im Kirchzartener Freibad als Bewunderer der Halbstarken mit Elvislocke und einem Kamm hinten in der Dreieckshose. Und im Herbst, mit Beginn der Kartoffelfeuer, ihrem leicht süßen Geruch von den nahen Feldern, fängt der jetzt Zehnjährige, der ich war, im offenen Teil seines Schuppens an, ein Loch zu graben, anfangs noch ohne Plan, aus Langeweile, aus Überdruss. Bald aber gibt es diesen Plan, auch wenn der Grabende noch kein Wort dafür hat und folglich mit keinem über sein Tun spricht. Ganze Nachmittage verbringt er mit Hacke und Schaufel, noch sieht es aus wie ein Spiel, eine spielerische Ertüchtigung, die die Eltern nicht weiter beunruhigt; ihr Sohn hat auch schon sinnlose Mengen Holz gehackt und ist mit seinem Rad auf den Giersberg gefahren, um Arme und Schenkel zu kräftigen. Aber beim Graben geht es ihm nicht um Muskeln, er will das Loch, um darin zu verschwinden, und je tiefer es wird, je mehr ausgehobenes Erdreich sich daneben häuft, desto mehr ist es sein Loch. Ich bin in meinem Loch, antwortet er, wenn man vom Haus aus nach ihm ruft, fragt, wo er sei. Und bald steht er dort im Grundwasser und ist nur noch in Gestalt der Schaufel zu sehen, wenn sie hochschwingt, schlammige Erde abwirft, wieder und wieder, er dem Ziel des Verschwindens immer näher kommt. Bis sich sein Vater schließlich über das Loch beugt und ein Machtwort spricht: dass alles wieder zuzuschaufeln sei, das Machtwort immerhin verbunden mit der Aussicht auf etwas lange Gewünschtes zu Weihnachten, Ende Oktober ja nicht mehr fern – ein Luftgewehr.
Und doch fühlt es sich als Niederlage an, als erste große Erfahrung von Vergeblichkeit, und der Schöpfer des Lochs will dieses Gefühl nicht ganz auf sich sitzen lassen, nicht nur mit Blasen an leeren Händen dastehen. Also legt er, bevor er sein Loch wieder schließt, Dinge, die durch ihr Verschwinden bewahrt werden sollen, in ein Einweckglas – das grausigste Bild aus einem Kinderbuch, Der kleine Muck, ein schöner Prinz ist dort mit einem großen Nagel durch die Stirn an einen Schiffsmast gepflockt, außerdem ein Foto der Mutter, sie auf einer Bühne als junge Dame im Trenchcoat; und auch seine erste Erzählung, Jagd um die Welt, sorgsam gefaltet, kommt in das Glas. Den Deckel verschließt er mit dem üblichen Gummiring, so ist alles vor Nässe geschützt, dann lässt er das Behältnis an einer Schnur ins Grundwasser sinken, und in dem Gefühl, mit diesem kleinen gläsernen Sarg in der Erde am Ende doch etwas erreicht zu haben, beginnt er mit dem Zuschütten, einer Arbeit von kaum einem Tag – es blieb nur eine Delle im Boden, und wer dort heute graben würde, etwa zum Verlegen eines Glasfaserkabels, müsste eigentlich nach zwei, drei Metern noch auf das alte Einweckglas stoßen.
Das Loch ist wieder zu, aus der sichtbaren Welt geschafft, und bald liegt erster Schnee auf der Bodendelle, hereingeweht in den offenen Schuppenteil, ein früher Wintereinbruch. In der Veranda zum Garten brennt jetzt ab dem Nachmittag Licht, meine Mutter tippt dort, ein Geräusch, das kommt und geht, mal länger anhält, mal kürzer, ein Tippen im Takt der Gedanken, Abend für Abend hilft es mir in den Schlaf. Noch bin ich wach, versunken in der Frage, wohin mein Loch hätte führen können bei immer tiefer und tieferem Graben: auf die andere Seite der Erde, nach Neuseeland, dann gehen die Dinge über in den Schlaf, und der Traum spannt den Geist für sich ein. Die Mutter des Schlafenden aber tippt weiter und unterwirft das Träumen dem Denken – sie stellt sich vor, eine zweite Sagan zu werden, für Bonjour tristesse reicht ihr eigener Kummer, und wenn das nichts wird, schreibt sie etwas Halbtrauriges, etwas in der Art von Ein gewisses Lächeln (Un certain sourire), mit ähnlich leichtem, positivem Titel, Des Lebens Freude, daran sitzt sie, seit es schneit, Abend für Abend. Sie lächelt auch gleich beim Tippen, lächelt über ihre Worte auf dem Papier, das kann nicht schaden, sie raucht und nippt an einem Whisky. In der Revue, in der erscheinen soll, woran sie schreibt, war zu lesen, dass die Sagan nicht weiß, wohin mit dem Geld, daneben zwei Fotos, wie sie raucht und trinkt und schreibt, alles zugleich, und wie sie in einem offenen Ferrari fährt, mit Kopftuch und Sonnenbrille – die richtigen Worte, und all das ist zu schaffen, man muss sie nur hintippen.
Auch tagsüber hatte dieses Geräusch aus der Veranda etwas Beruhigendes. Ich war allein und doch nicht allein, wenn ich etwa an dem glamourösen Toilettentisch saß und in einem der Seitenspiegel sah, wie ich darin kleiner und kleiner wurde bis ins Unendliche. Es waren stille, dunkelbläuliche Nachmittage, still auch durch den frühen Schnee. Meine Schwester war bei ihrer Nachbarsfreundin, der Roselore, meine Mutter war in ihren Geschichten. Und mein Vater war in Freiburg in seinem neuen Büro (einmal hatte er mich in die Stadt bestellt für einen Kinobesuch, wir gingen ins Astoria und sahen, auf seinen Vorschlag, einen Godzilla-Film: Vater-Sohn-Proviant für ein ganzes Leben). Mir gehörten an diesen Nachmittagen Haus und Garten und auch die verschneite Umgebung, die nahen Felder bis zum kleinen, steilen Katzenbuckel für die Schlittenfahrten und bis zum etwas entfernteren Mattisle, unserem Skihang.
Noch ist der Schnee pulvrig und knackt nur unter den Sohlen, aber pünktlich mit Beginn der Adventszeit friert es, morgens mit Eisblumen an den Fenstern. Und nun ist es ein Knirschen auf dem Schulweg oder einmal in der Woche, immer donnerstags, wenn es schon dunkelt, auf dem Weg zum Flötenunterricht beim mondgesichtigen Herrn von Bautznern in der kleinen evangelischen Kirche. Er zeigt die Griffe, er legt meine Finger zurecht, er fährt mir durchs Haar, wenn ein Ton gelingt; und zu Hause wird das Gelernte gleich vorgespielt, Es kommt ein Schiff geladen, da braucht es am Anfang alle zehn Finger, den kleinen rechten für das b-Loch unten rechts. Ich spiele den Musikalischen, während meine Mutter in der Küche die Hausfrau spielt. Gleich zwei tun da, als ob, die eine an der Pfanne, der andere an der Flöte, und später kommt noch der Vater dazu und spielt den Ehemann, als ihm schon klar war, dass dieses Leben mit einer nunmehr schreibenden, sich selbst auf eine Bühne bringenden Frau, ja diese ganze dörfliche Familienidylle mit Haus und Garten dem Ende entgegenging.
Wir essen an dem Tisch in der Wintergartenveranda – die Schreibmaschine ist zugedeckt und beiseitegestellt – zu Abend, Wie schön, sagt die junge Autorin, wie schön: die Familie um den Tisch! Mein Lieblingsgericht heißt Reis mit Scheiß und Eierspeis, Reis mit Tomatensoße und harten Eiern, da kann die Köchin nicht allzu viel falsch machen. Nach dem Essen rauchen die Eltern im Wohnzimmer, und Bruder und Schwester gehen noch einmal in den Garten, weil es jetzt richtig schneit. Die Flocken fallen so wirbelnd, dass sie uns tanzen lassen, um mitzuhalten, ein Tanz um die umwirbelte Tanne, und am anderen Morgen ist alles mullig. Der Schnee reicht nun zum Skifahren, die Ski sind aus Holz, die Bindung aus Leder, zwei Riemen mit einer Stahlfeder zum Spannen. Ich tue mich etwas schwer damit, aber kann schon den Schneepflug und auch den Stemmbogen, und zur Not lasse ich mich fallen, während die Kühnsten aus dem Dorf über eine aus Schnee gebaute Schanze springen, Arme voraus. Eher packt es mich beim Langlauf durch den verschneiten Wald, wenn alles still ist bis auf das Gleitgeräusch und den eigenen Atem, es nur noch die weißlichen Tannengebilde gibt und man erschrickt, wann immer es einem unter schneevollen Ästen eisig in den Nacken rieselt.
Und später, glühend matt auf dem Wohnzimmersofa, ganz allein im Haus, die Mutter bei der Massage, die kleine Schwester bei ihrer Freundin, der Vater sonst wo, ist da noch immer ein Rieseln, nur nicht im Nacken, eher im Bauch und darunter. Alles glüht, auch eine halbe Zigarette im Aschenbecher auf dem Sofatisch, daran Lippenstiftspuren, scheint noch zu glühen; der vom Langlauf bis in die Fingerspitzen Durchblutete nimmt sie in den Mund, aber will sie nicht zu Ende rauchen, nur zwischen den Lippen haben und dazu Musik hören von einem kleinen Philips-Plattenspieler, den es am letzten Geburtstag gab (die Single wurde vorn hineingeschoben wie Jahrzehnte später die CDs, und schon ging es los), eine Platte von Elvis, die Aufschrift auf schwarzem Papier rund um das Loch in der Scheibe, That’s All Right Mama, eine lässige Anrede an die Mutter, dass schon alles in Ordnung sei, so wie sie es mache, Anyway you do, Mama! Und der Junge auf dem Sofa, die mütterliche Zigarette im Mund, schiebt die Platte in den Schlitz, Sekunden später kommt die Elvisstimme aus dem Gerät, anders als all die Stimmen, die aus dem Radio kommen, die von Peter Krauss, von Vico Torriani oder Ralf Bendix. Wie die Erlaubnis zu allem Verbotenen ist diese Stimme, ein Anstiften zum Tunwasmanwill, selbst in der Adventszeit, und der Zuhörer zieht seine Hosen ein Stück herunter und reibt das glühendste Stück von sich am Sofakissen. Das geschieht einfach, in dem Gefühl, durch eine andere Art von Wald zu gleiten, dunkel und warm, auch in großer Stille, nur mit dem leisen Geräusch am Kissen, als die Platte abgespielt ist. Es ist ein Schleifen und Reiben des Glühendsten, bis es sich anfühlt, als würden feine Glassplitter darin aufsteigen, und er nicht weiß, wie ihm geschieht, ob es Schmerz ist oder das Gegenteil, als Tropfen wie aus abgeschnittenen Zweigen jäh hervorquellen, ihm einen Schrecken einjagen, dass er ins Bad läuft und sich dort wäscht, sogar die Nagelbürste benutzt, um danach am Verandatisch, wo die Schreibmaschine der Mutter steht, auf einem Zeichenblockblatt einen Psalm zu schreiben, der so schön sein soll wie der dreiundzwanzigste, den er in Religion gelernt hat, Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, ob ich schon wanderte im finsteren Tal, dein Stecken und Stab trösten mich. So und nicht anders hat er den Anfang im Kopf, und diesen hohen Ton schlägt er auch für den eigenen Psalm an, um alles Getane, Niedere, damit zu verwischen; nur wendet er sich ohne Umschweife an Gott, statt von ihm als Hirten zu reden, bis ein irdischer Ton ihm sagt, dass sein Alleinsein endet. Es ist das Glücksgeräusch der Geräusche, das leicht überdrehte Klirren des alten VW-Motors, als wäre dort im Innersten etwas lose, ein Schräubchen; für Sekunden läuft der Motor noch nach dem Halten vorm Haus, kurz darauf fällt die Wagentür zu – zweimal fiel sie an diesem winterlichen Abend zu, auf der Fahrer- und auf der Beifahrerseite. Beide Eltern stiegen aus, die Mutter abgeholt von der Massage, und ich ließ den eigenen Psalm Psalm sein und lief ihnen entgegen, während meine Schwester aus dem Nachbargarten kam, als hätte sie wie ich das Motorklirren gehört. Wir umarmten unsere Eltern auf dem Gehsteig, wurden eins mit ihnen und traten gemeinsam in den verschneiten Vorgarten; es war der Abend, mit dem die Weihnachtszeit begann, die letzte noch ganz kinderselige in unserem Haus.
Eines der tragischen Talente meiner Mutter war es, Vorfreude zu verbreiten, andere mit ihrer Stimmung vor einem Ereignis anzustecken wie mit einem Virus, der sich in den Menschen ihrer Umgebung vermehrt. Die Tragik aber bestand darin, sich auch in die eigene Vorfreude dermaßen hineinzusteigern, dass sie noch vor dem endlich eintretenden Ereignis erschöpft war und das Ereignis schon deshalb hinter all den Erwartungen zurückblieb. Dennoch war es ein Talent, und welche Zeit im Jahr bot sich dem mehr an als die vor Weihnachten? Der mütterliche Jubel, wenn morgens mit dem Fingernagel das Adventskalendertürchen geöffnet wird, macht aus dem kleinen Bild, das zum Vorschein kommt, die größte Verheißung, und so fiebern meine Schwester und ich in dem Jahr noch einmal, geborgen und gefangen in der Rede und den Gesten der Vorfreude, dem Heiligabend entgegen, am Ende tatsächlich in einem Fieber. Denn kaum haben die Weihnachtsferien begonnen, hat der Viertklässler – der natürlich nach Freiburg aufs Gymnasium sollte – Halsschmerzen und eine heiße Stirn und wird über Nacht zum Patienten. Er darf tagsüber auf dem Sofa liegen, und morgens und abends wird seine Temperatur gemessen, für die Verbreiterin der Vorfreude nicht nur ein Ritual, sondern auch Teil ihres stillen Glücks; Kinderkrankheiten lassen ihr anderes tragisches Talent zur Geltung kommen, das zum Trösten (tragisch, weil sie sich damit immer auch selbst zu trösten versucht hat). Sie holt also das klassische Hausthermometer – das ihr Mann mit seiner Firma hatte abschaffen wollen –, gibt etwas Nivea-Creme auf die silbrige Spitze und tut, was getan werden muss. Der Patient, auf dem Bauch liegend, hält still, die Mutter stützt den gläsernen Stab, ihre Hand liegt auf dem Körperteil, aus dem man allgemein die verlässlichsten Angaben zu gewinnen meint; sie sieht auf die Uhr, ja zählt am Ende jede Sekunde mit, bis die empfohlene Messzeit längst überschritten ist, dann erst zieht sie das Thermometer hervor und verkündet, nahezu triumphierend, das Ergebnis. Siebenunddreißig neun, Herrgott, das ist Fieber! Und um nicht noch kränker zu werden, sich den Tod zu holen, wie sie sagt, muss der Patient liegen bleiben, eingemummelt, stillgelegt, bis es zwei oder drei Tage später morgens durchs Haus schallt: Keinmal werden wir noch wach, heißa, heut ist Weihnachtstag! Wie von einer Bühne herab, dabei sich selbst applaudierend, erklärt die Immer-noch-Schauspielerin das Freudenfest für eröffnet und den Sohn für genesen, weil sie an dem Tag ihre Ruhe möchte, ohne Kinder, ohne Radau. Und so gehen Bruder und Schwester schon am Vormittag des vierundzwanzigsten zu ihrer großmütterlichen Hüterin (oder wurden dort abgeliefert), damit der Weihnachtsmann, wie es heißt, im Laufe des Tages die Geschenke vor dem Haus ablegt.
Im Laufe des Tages, das hört sich für die Geschwister endlos an, auch wenn es nur vier, fünf Stunden dauert, bis man zur kleinen evangelischen Kirche aufbricht, um dort die Eltern zu treffen für den Besuch der Familienchristmesse vor der Bescherung, und die katholische Großmutter der beiden, meiner Schwester und mir, tut alles, um diese Wartezeit zu verkürzen. So schaut sie sich mit uns den neuen Neckermann-Katalog an, besonders die Seiten mit der Unterwäsche, wo immer etwas dickliche, dümmlich wirkende Kinder Höschen und Leibchen vorführen, sie schüttet sich aus vor Lachen über die Depperten im Schlüpfer, während der Enkel schon umblättert zur Damenwäsche und auf die jungen und auch etwas älteren, mütterlichen Damen sieht, die nichts als weiße Wäsche tragen oder ein Negligé, so steht es unter dem Bild. Und dieses Wort sitzt mir noch im Nacken, als später Matthias Wiehmann im Radio etwas vorliest, eine Geschichte von Weihnachten im Krieg, ich kann ihr nicht folgen, die Bilder im Katalog sind stärker. Mir pocht das Herz, und ich tue, als würden mich der Nickipullover für Jungs und der Expander interessieren, aber es sind die jungen Damen im Negligé – ob Doris, die Tochter des Hauses, auch so etwas trägt? Sie hat nur kurz aus dem Fenster ihres Zimmers im zweiten Stock gewinkt, als ich unten vor der Haustür stand mit meiner Schwester, zwei Vermummelte, die bei ihrer Oma auf das Christkind warten sollen; ich winkte etwas zerstreut zurück, mit falscher Jungenhaftigkeit, ein peinlicher Moment, dann verschwand das Gesicht, das ich liebte, schon hinter der Gardine. Die Wäschebilder im Neckermann-Katalog sind kein Trost, aber ein Blickfang, sie betäuben die Augen, und für weitere Betäubungen wird auch gesorgt. Zum Mittagessen gibt es Würstel und Butterbrot, dazu eine Wiener Geschichte mit treuen Hunden und anderen längst Toten, Baronessen und alten Zofen, endend in einem gesummten Lied; aber all das ist nur der Auftakt für das Vorlesen eines ganzen schmalen Buches in der zähesten Stunde des frühen Nachmittags, für die Geschichte der Geschichten, seit wir an Heiligabend im Zimmer unserer Hüterin gewartet haben (höchstens viermal, aber auch der Proviant für ein ganzes Leben, wobei es dieses pappefarbene, innen aber traumhaft blassfein bebilderte Buch, Die Reise zum Weihnachtsstern, heute noch gibt – ich wage kaum, es anzutasten oder gar die Geschichte zu lesen).
Und keine Stunde nach dem beglückenden Schluss, als ein früh von königlichen Eltern getrenntes Kind nach jahrelangem Umherirren und gemeinsten Hofintrigen über das Erklimmen einer Himmelsleiter bis zum Weihnachtsstern die Eltern endlich wiedergefunden hat, ist es, als hätte auch mich diese Reise an ein glückliches Ende gebracht, selig zwischen den Eltern, der Schwester und der Frau im Zarinnenmantel auf einer der Bänke in der evangelischen Kirche, ihr Raum nur erhellt von den Altarkerzen und dem Licht, das durch ein Rosettenfenster über dem Altar hereinfällt. Es ist das Licht des späten Nachmittags am vierundzwanzigsten Dezember, während der nicht überlangen Familienmesse, die sich trotzdem hinzieht, allmählich abnehmend zu einem tiefen, fast schwarzen Blau, das alles Hinfiebern noch steigert, weil es die nahende Bescherung anzeigt. Und da werden auch schon vom Küster die Kerzen am großen Baum entzündet, eine nach der anderen, und tauchen den Raum und die Dichtgedrängten darin in ein Zitterlicht, das dem Organisten auf der Empore, meinem Flötenlehrer, reicht, das Lied der Lieder anzuspielen, Stille Nacht. Kaum aber hat die Gemeinde zu einem eher dünnen oder allzu ergriffenen Gesang angehoben, nur von der Orgel in nötige Höhen gedrückt, lässt die einstige Primadonna an meiner Seite noch einmal mit ganzer Inbrunst ihre Sopranstimme hören, und das vom Kerzenlicht in den Geschwistern erzeugte Freudenzittern mischt sich mit einem Gefühl des Bloßgestellten, spätestens, wenn sie bei Schlaf in himmlischer Ruh’ Töne erreicht, die alle normal Sterblichen in der Kirche, den Pfarrer eingeschlossen, zur Quelle dieses überirdischen Gesangs schauen lassen. Wir sind auf einmal Mittelpunkt der Feierlichkeit, als würde sich in der Bank, die wir zu fünft fast füllen, das Weihnachtswunder vollziehen, und meine Schwester und ich können uns gar nicht klein genug machen. Zugleich aber fühlen wir uns, mit einer Pobacke auf den Schößen des Zarinnenmantels, dem Christkind doch etwas näher als jene, die nur mühsam der Orgel folgen. Und nach dem letzten Ton bleibt dem Pfarrer nur noch, seinen Weihnachtssegen zu spenden, danach drängt alles ins Freie, in einen just zu dieser Abendstunde leise rieselnden Schnee, von unserer Mutter bereits Tage zuvor als Wunder prophezeit: Kinder, es wird schneien, wenn wir aus der Kirche kommen! Und es schneit. Straße und Gehweg sind schon ganz weiß, und bei jedem Schnitt knackt es. Unser Vater hält sich an seiner Frau, er will nicht ausrutschen mit dem Holzbein, und so gehen sie im selben Takt, ein trautes Paar, der Schnee macht’s möglich. Ich gehe hinter ihnen und stütze die Sängerin, und die hat meine Schwester an der Hand; wir gehen als erweiterte Heilige Familie die Höfener Straße hinauf, langsam, schweigend, voller Zuversicht. Alles um uns herum, die weißen Tannen, die sinkenden Flocken, die Stille und der Geruch des Neuschnees, ist ein Zeichen dafür, dass sich auch die übrigen, für den Abend vorhergesagten Wunder noch erfüllen. Und genau so ist es nach einem allerletzten Warten, als wir endlich, auf ein Glöckchenläuten hin, ins Bescherungszimmer treten: Die Märklin-Eisenbahn fährt mit feinem Gesirr ihre Runde, die kleinen Lichter an der Lok, an den Weichen und an den Signalen sind Lichter des Glücks, wie auch die brennenden Kerzen am Baum mit ihrem Schein bis über den Gabentisch; zwischen all den Geschenkpäckchen mit roter Schleife aber liegt dort ein längliches Paket ohne Schleife, darin nichts anderes, ich weiß es, als das versprochene Luftgewehr – und während wir vor dem Baum noch O du Fröhliche sangen und meiner Mutter zwei Theatertränen liefen, sah ich mich schon im Garten den ersten Spatz von einem Ast schießen.
Die Bilder von diesem langen Tag – mit dem üblichen Heiligabendessen in der Familie, Seezungenfilets und Kartoffelsalat, zubereitet von meinem Vater – enden mit dem Jungfernschuss aus dem Gewehr, nach dem Spannen und Laden mit einer der kleinen Kugeln, Kaliber vier Komma fünf. Ich schoss im Garten unter Anleitung des Vaters auf eine leere Büchse, und ich traf sie sogar, die Büchse flog ein Stück weg und hatte, als ich sie aufhob, ein Loch. Es gibt keine weiteren Bilder von diesem Weihnachtsabend, und auch an die restlichen Tage des Jahres habe ich keine Erinnerungen. Erst mit Beginn des neuen Jahres geschieht wieder etwas, das sich festsetzt wie ein Keim.
Der Zehnjährige ist ganz für sich im verschneiten Garten, auch im Haus ist niemand, die Schwester ist bei Nachbarn, die Eltern sind sonst wo. Er hält das gespannte und geladene Gewehr in den Händen, und an seiner Winterjacke hängt ein Ordenskreuz mit Band, gefunden in einer Schachtel in einer Truhe im Keller; es lag dort auf Watte, neben einem daumengroßen dunklen Stahlsplitter, dem Splitter, ohne den sein Vater zwei Beine hätte. Der Sohn mit dem Gewehr trägt den Orden (dem jungen Hauptmann verliehen für die Verwundung und seine Tapferkeit), er ist bereit, Rache zu üben für das verlorene Bein, Rache an etwas Lebendigem auf zwei Beinen. Bis in den Hals schlägt ihm das Herz auf der Suche nach einem Ziel, und dabei kommt es darauf an, beim Schießen ruhig zu sein. Die Ruhe selbst, hat sein Vater gesagt, ausatmen und mit dem Finger am Abzug den Druckpunkt suchen, das Ziel über Kimme und Korn erfassen und schießen. Und durch die Züge und Felder im Gewehrlauf – er hat ihm diese feinen Rillen gezeigt, den Lauf gegen das Licht gehalten und ihn hineinschauen lassen – bekommt das Geschoss eine Drehung um sich selbst und behält die Flugrichtung bei. Sein Herz muss sich also beruhigen, nur schlägt es mit jedem Schritt, geduckt im Schnee von Baum zu Baum, immer heftiger. Er bewegt sich von Deckung zu Deckung auf einem Schlachtfeld im russischen Winter, ein Panzer brennt, Verwundete wälzen sich, er kriecht über roten Schnee, sucht den nächsten Baum; man darf ihn nicht sehen, darum trägt er die weiße Pudelmütze der Schwester, auch sein Vater trägt auf den wenigen Russlandfotos, ganz hinten in einem Album mit Fotos aus späteren, besseren Zeiten, immer helle Sachen, eine Jacke mit gefütterter heller Kapuze. Warme Tarnkleidung, darauf kommt es an, und das Gewehr muss am Mann sein, also hält es der Sohn mit beiden Händen, und dann sieht er sie, eine Amsel auf einem Ast, lebendig auf zwei Beinen, und legt an; der linke Zeigefinger findet den Druckpunkt am Abzug, jetzt muss er ausatmen, zielen, die feindliche Brust vor Kimme und Korn bekommen. Aber hinter ihm knackt es, das sind Russen, ihre Späher, wenn er nur einen davon tötet, werden die anderen ihn jagen. Und Russen, hat ihm seine Hüterin erzählt, machen keine Gefangenen. Ihm zittern jetzt die Hände, so schlägt das Herz unter dem Orden, mal ist das Ziel zu sehen, dann wieder nicht, und als es plötzlich in einer Linie von Kimme und Korn ist, drückt er ab, und die Amsel kippt still nach hinten, fällt vom Baum in den Schnee – unvergessen, wie sie nach hinten kippt, durch das Geäst fällt mit leisem Rascheln. Der Schütze traut sich kaum, dort hinzugehen, wo sie liegen muss, und geht doch hin und sieht, was er getan hat: Die Amsel ist noch nicht tot, sie dreht sich, die Flügel spreizend, im Schnee. Tropfenweise tritt ihr Blut aus der fedrigen Brust, und er spannt sein Gewehr neu, presst die Luft darin zusammen und nimmt eine Kugel aus der Dose mit hundert Kugeln für fünfzig Pfennig beim Eisen-Kromer. Nur ist die Hand nicht ruhig genug, das kleine eierbecherförmige Blei – alle sagen Kugel dazu, alle – fällt in den Schnee, und noch immer dreht sich die Amsel; er nimmt eine neue Kugel, atmet aus und kann sie in das kleine Loch führen. Er schließt den Lauf und hält die Mündung an den Amselkopf, er drückt ab, der Kopf fliegt zur Seite. Nun hat er getötet, zum ersten Mal. Und er läuft ins Haus, zu dem Toilettentisch mit den Seitenspiegeln, reißt sich die Tarnmütze herunter und schaut in sein Gesicht, ob man ihm ansieht, was er getan hat, sich irgendetwas davon zeigt, eine Spur. Aber er kann nichts finden, nicht die kleinste Spur. Und wenn er ganz nah an den Spiegel geht, um doch etwas zu finden, das ihn verraten könnte, erkennt er sich selbst nicht mehr (oder weiß nicht mehr, wer er ist, als hätte sich das bange Herz gefragt: Wer bin ich, wenn ich töte). Er läuft wieder in den Garten, zu seiner Amsel, er gräbt dort mit bloßen Händen die harte Erde auf, zerrt Steine hervor und verletzt sich am rechten Mittelfinger, blutet und färbt den Schnee wie die Verwundeten auf dem Schlachtfeld. Er beerdigt sein Opfer. Danach sieht alles aus wie zuvor, man darf nur nichts vergessen. Also kommt der Orden wieder in die Schachtel in der Truhe im Keller, zu dem Stahlsplitter, und um den Finger kommt ein Pflaster – er hat sich beim Basteln geschnitten. Eigentlich ist nichts geschehen an dem Tag. Aber Tage danach, die Schule hat schon wieder angefangen, kann er nicht anders, als das Grab zu öffnen, erneut mit bloßen Händen, am Finger schon kein Pflaster mehr. Er muss nachschauen, ob die Amsel wirklich tot ist und nicht lebendig unter der Erde liegt, noch immer die Flügel zu öffnen versucht. Er legt sie ganz frei, ihr steifes Gefieder, zweifellos ist sie tot, und wie tot sie ist, aus ihrer Brustwunde kriechen Würmer. Und jetzt kann er auch nicht anders, als die Amsel zu berühren, ja sogar an ihr Fleisch zu greifen vor dem zweiten Begraben. Zum Glück schneit es wieder, die umgewühlte Erde verschwindet unter dem Schneetuch, und langsam kann er schon an den nächsten Schuss denken, morgen oder übermorgen. Aber noch vor dem Übermorgen wird der verletzte Finger über Nacht dick und rot, mit einem Pochen darin, und Dr. Eckart, der Vater von Doris, sagt, das sei eine Blutvergiftung, und was für eine, der ganze Finger müsse geöffnet werden – ab in die Klinik nach Freiburg!
Und dort fuhren die Eltern mich hin, und ich fragte, ob ich nun sterben müsse, und meine Mutter sagte Nein, aber betete im selben Atemzug auch flüsternd, Lieber Gott, lass ihn nicht sterben, während mein Vater nur Gas gab, dass es im Motor klirrte. Wir erreichten die Kinderklinik, und die Immer-noch-Schauspielerin tat alles Nötige, um einen Chirurgen auf die Bühne seiner Tätigkeit zu bringen; keine Stunde später lag ich auf einem Tisch, Männer in Weiß standen darum, einer sagte, man betäube mich jetzt, ich solle tüchtig einatmen und auf zehn zählen, und schon war ein Tuch auf meinem Gesicht, und etwas nie Gerochenes stieg mir in die Nase, in den Kopf, in alles. Zählen, sagte eine Stimme, zählen, und ich versuchte es, aber die Wäschebilder aus dem Katalog schossen zwischen die Zahlen, die ich mich sagen hörte wie von weitem, und alles in mir drehte sich rasend um diese Bilder.