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Gestern am späten Abend gab es zwei Überraschungen im selben Moment, den Fund eines alten Buchs meiner Mutter und das Auftauchen von Mrs. Bennett in der camera dei libri, dem Lesezimmer mit der wilden Sammlung von Büchern, die meisten zurückgelassen von den Hotelgästen, ihre sonnencremefleckige Strandlektüre, darunter durchaus Lesenswertes, etwa Moravias La Noia, Pasternaks Doktor Schiwago oder Faulkners The Sound and the Fury. Und beim Herausnehmen des frühen Faulkner-Romans aus dem Regal zeigte sich eine hintere Reihe mit besonders zerlesenen Büchern, solchen, die man noch nicht wegwerfen wollte, nur eben versteckte, darunter Bonjour tristesse, auf Französisch, auf Italienisch, auf Deutsch. Das Exemplar auf Deutsch, erschienen neunzehnhundertfünfundfünfzig, ein Jahr nach dem Original, war schon halb aufgelöst von Sonne und Meerluft in all den Jahren und hätte auch gut durch die Hände meiner Mutter gegangen sein können – eine Überlegung, die gleich eine andere nach sich zog: Ob sie, die Bewunderin der Sagan, womöglich etwas Eigenes mit Widmung dem Hotel und seiner Büchersammlung vermacht hatte, nachträglich, denn zur Zeit ihrer Glückstage hier war sie nur Autorin von Fortsetzungsromanen in Illustrierten. Ein solcher Akt hätte zu ihr gepasst, also warf ich einen Blick auf alles, was hinter der vorderen Reihe stand, immer zwei, drei der präsentablen Bücher hervorziehend, und genau in dem Moment, als die Amerikanerin das Lesezimmer betrat – fast lächerlich genau in dem Moment –, sah ich den Titel Des Lebens Freude und griff nach dem Buch und schlug es vorn auf, darin in der raumgreifenden Schrift meiner Mutter die Widmung: Für das Hotel zum Schönen Aufenthalt, wo wir schönste Tage hatten!, darunter ihr Mädchenname und eine Datierung, Oktober 1962, das Erscheinungsjahr ihres ersten gedruckten Romans, als alles Eheglück längst gescheitert war und den so schönen Tagen beim Schreiben der Widmung eher etwas Unschönes angehaftet hatte – kaum vorstellbar, dass die Autorin allein an den Ort dieser Tage zurückgekehrt war, das Buch im Koffer. Aber ich sehe meine Mutter in Frankfurt zur Post gehen, um das Päckchen mit dem Buch darin frankieren zu lassen, und höre sie am Schalter fragen, ob das empfangene Porto auch ausreichend sei für Italien. Ja, ich höre sie zu einem verdutzten Beamten sagen, in dem Päckchen sei ein Roman von ihr, Des Lebens Freude, der würde ihm sicher gefallen.

Mrs. Bennett kam auf mich zu, sie fragte unumwunden, was das für ein Buch sei, das ich mir so spät abends noch holte, und es war die Macht der Umstände – gerade eben auf den ersten Roman meiner Mutter samt ihrer Widmung gestoßen zu sein und die Amerikanerin in einem Abendkleid vor mir zu sehen, völlig unpassend in dem Lesezimmer –, die mich etwas erfinden ließ. Es sei ein Buch, das ich vor langer Zeit gelesen hätte, hier zufällig entdeckt, jetzt wollte ich es wieder lesen. Und damit wünschte ich ihr Gute Nacht, fast schon auf dem Weg zur Tür, aber Mrs. Bennett tippte an den Umschlag, den Titel in etwas übertriebener, dramatischer Schreibschrift, sie fragte, was die drei Worte bedeuteten, und ich sagte Something like joy of life, eine Antwort, die sie den Kopf zurücklegen ließ, verbunden mit einem Lächeln, das ich samt dem Buch mitnahm auf mein Zimmer, das ja eigentlich ihr Zimmer war, nur nicht für mich; für mich war es das der märchenhaften Tage und wohl auch Nächte meiner Eltern. Ich ging auf den kleinen Balkon – die Luft war immer noch mild, eine milde Nacht Ende September –, ich blätterte in dem Buch, obwohl es dunkel war, höchstens mit etwas Licht aus dem Zimmer, und deutlicher als die Buchstaben, die Anfangsworte des Romans, Der Zweite Weltkrieg endete für mich in Saalbach, einem kleinen, entlegenen Ort in den österreichischen Bergen, Punkt, stand mir noch dieses Lächeln vor Augen, weil es auch das meiner Mutter gewesen war, wenn sie im Grunde weinen wollte.

Bei einem der Besuche, als sie noch ins Freie ging, wir beide, Mutter und Sohn, im großen Innenhof der Wohnanlage einen Spaziergang in der ersten Frühjahrssonne machten, Mitte achtzig war sie da, auf ihren Stock gestützt und fest bei mir eingehängt, blieb sie plötzlich stehen und zeigte dieses Lächeln anstelle von Tränen und sagte, nur unsere Besuche, die Stunden mit mir, die Tage mit meiner Schwester, seien in ihrem Leben noch eine Freude, alles andere zähle nicht mehr. Sie legte den Kopf zurück, wie eine Maßnahme gegen die Schwerkraft, die an den Augen zerrte, und behielt ihr Lächeln bei, auch das gegen die Kräfte der Gravitation oder des eigenen Unglücks. Es war ein Nachmittag im März, in dem Hof lag noch Schnee, aber die Wege waren freigeschaufelt, und in der ersten wärmenden Sonne saßen ein paar der Bewohnerinnen mit entblößten Schultern, um sich zu bräunen, was die Spaziergängerin im Mantel empörte. Diese Weiber, sieh sie dir an, flüsterte sie im Weitergehen. Trotzdem sollte ich ihnen zunicken, einen Gruß andeuten, weil sie doch wüssten, wer ich sei, alle etwas wollten von mir. Und ich versuchte, ihr klarzumachen, dass die Schulterentblößten mit Sonnenbrille und einem Aperol Spritz in der Hand kaum etwas an mir finden dürften – fünfzig Jahre früher vielleicht, das sagte ich im Spaß, aber sie griff es auf, jetzt mit einer ganz anderen Art des Lächelns, auch am Rande von Tränen, aber falscher aus Rührung. Fünfzig Jahre, mein Gott, da warst du im Internat, da hatte sogar dieser Kantor ein Auge auf dich, und ich war in Frankfurt, frisch verliebt! Ein Wort, das fast durch den Hof schallte, verliebt; noch immer war sie bei mir eingehakt, wir bewegten uns im Kreis, mehrfach an den entblößten Schultern vorbei, und ich wollte ihr zum ersten Mal in aller Deutlichkeit sagen, wie früh und auf welche Art ich in Liebesdinge verwickelt worden sei, nicht nur im Internat, wo ihrer Ansicht nach eine gewisse Nähe zwischen Pädagoge und Zögling unvermeidlich sei, eine, wie es sie schon seit den alten Griechen gebe, sondern viel früher, gleichsam vor den alten Griechen, im gültigen Tiroler Sommer.

Aber der Kavalierssohn, der seine Mutter in dem sonnenbeschienenen und dabei noch winterlich weißen Hof umherführte – sie in dem Pelzmantel, der seit ihrem Tod in einem Kellerschrank hängt, niemand wagt es, ihn zu tragen, niemand wagt es, ihn zu verkaufen –, sagte nur, wie sehr er in den ersten Internatsjahren in eine ihm unbegreifliche Aufgabe verwickelt war, eigentlich nicht lösbar, ohne sich zu entblößen wie die mit den nackten Schultern – ein Vergleich, den sie widerlich fand, der sie fast aufstampfen ließ. Und sei ich denn nicht aus all dem gut herausgekommen, sagte sie, vom Umhergehen etwas atemlos, und ich sah zu den Schulterfreien, die ihre Köpfe zusammensteckten, über uns sprachen. Ein paar Sekunden vergingen, langsam, wie mit Händen zu greifen, dann fragte sie, wie spät es sei. Sie trug selbst eine Uhr, die kleine goldene, aber ich sollte ihr die Zeit davon ablesen, sie hielt mir ihre Hand hin wie zum Handkuss. Kurz nach halb vier, sagte ich, und sie griff um meinen Arm: Dann sei es für sie allerhöchste Zeit, sich wieder zu setzen. Also traten wir den Rückweg an, und das kurze Gespräch über das, aus dem der Sohn keineswegs gut herausgekommen war, bloß herausgekommen, hatte ein Ende. Wir gingen Schritt für Schritt, und wer immer uns begegnete, andere Bewohner oder Besucher, bekam ein Grüß Gott! an den Kopf geworfen, die Verschlussformel über allem, was auf dem Hofspaziergang vielleicht in ihr angerührt worden war – in einer, die im Alter von zehn auf eine Klosterschule kam, mit Schlafsaal, stillen Gebeten und noch stillerer Gehässigkeit. Sie hatte nie viel aus diesen Jahren erzählt, oder es war nicht viel bei mir hängengeblieben, aber das wenige, das ich wusste, hätte reichen können, mir den Rest zu denken. Ihr Grüß Gott!, das war mein Wegschauen, wenn uns jemand entgegenkam, ihr schöner Mantel war meine unschöne Lederjacke, ihr Lächeln gegen die Tränen meine Ironie. Erst nach Betreten des Appartements half ich ihr aus dem Mantel, um das teure Stück, angeleitet von seiner Besitzerin, schonend in der Garderobe aufzuhängen und sie anschließend zu ihrem Lesesessel zu führen. Endlich konnte sie sich setzen und sammelte, in einer ganz bestimmten Sitzhaltung, umhüllt von noch winterlicher Heizungshitze im Raum, wieder Kräfte, die Kräfte, um alles Widerliche, Negative von sich fernhalten zu können, das Frühe im Gedächtnis des Sohnes eingeschlossen.

Ich muss mich korrigieren: Die Adventszeit hatte schon angefangen, als mich der Kantor zum ersten Mal auf sein Zimmer holte, im Treppenhaus und auch im oberen Stock roch es nach frischen Tannenzweigen, stärker als nach Zigarettenrauch, und in dem Zimmer brannte, wie gesagt, eine Kerze, und die war rot und dick, eine Adventskerze. Ihr Licht hat etwas Beruhigendes, mehr als die fremde Hand auf dem Bauch des Chorknaben – dem ich wieder nahekomme beim Häuten der Zeit, der Nacht im Zimmer des Kantors. Herr Gieser ging zum Fenster und öffnete es trotz der Dezemberkälte. Er wollte lüften, den Geruch der Roth-Händle abziehen lassen, und herein zog der Geruch des nahen Seeufers, nach Schilf, nach Tang, nach Moder – alles aus dieser Nacht ist so lückenlos, dass ein Film danach entstehen könnte mit nur zwei Darstellern, der eine elf, der andere vierunddreißig. Das Fenster zum See wird wieder geschlossen, ein Heizöfchen wird neben dem Bett aufgestellt, und der Ältere beugt sich über den Jungen, der noch kein Junge ist. Er legt ihm erneut die Hand auf den Bauch, die Finger, die noch vor Stunden etwas von Schütz am Flügel angespielt haben, eine der Cantiones Sacrae, Ego sum tui plaga doloris, und jetzt ziehen sie am Gummi der Schlafanzugshose, heben es an und lassen es zurückschnappen, einmal, zweimal: Es ist zu eng für einen mit Bauchweh. Darum der Vorschlag, die Hose auszuziehen, damit sie nicht spannt, der Kantor hilft dabei, Po etwas hoch, sagt er, und schon ist die Hose über den Knien, über den Füßen. Nichts spannt mehr am Bauch, und die Hand liegt nun dort, wo das Gummi gedrückt hat, die Finger bewegen sich wie über die schwarzen und weißen Tasten. Der Halbjunge hebt den Kopf an, er sieht an sich herunter, besorgt, weil die Hand nah an dem Teil liegt, der so leicht steif wird und ihn bloßstellt, also denkt er an etwas ganz anderes, seinen letzten Kinobesuch, einen Film mit Eddie Constantine. Nur hilft alles Wegdenken nichts, als die Hand das noch weiche Teil streichelt, als hätte er auch dort Krämpfe, die Haut fein zurückstreift und an der Naht entlangfährt, allem dort unten schnell auf die Schliche kommt, und schon wird es groß und hart und lässt den, den er bloßstellt, wie verrückt darüber nachdenken, was ihn entlasten könnte – nichts. Es gibt keine gute Erklärung dafür, darum lachen ja auch alle in der Turnstunde, wenn sich bei einem die Trainingshose vorn ausbeult. Aber der Kantor erteilt eine Absolution, leise, ihm fast in den Mund gesprochen – Worte, die sich so eingeätzt, ja eingefleischt haben, wie die der Mutter in den Mittagsdämmerstunden oberhalb des Schwarzsees mit seinem Moorgeruch –, Dem Schwein ist alles schwein, dem Reinen ist alles rein. Er sagt es mit seiner dunklen, melodischen Stimme und erwartet keine Antwort, oder Schweigen genügt ihm als Antwort. Und der, den er streichelt, kann auch gar nichts sagen, er kann nur daliegen mit seinem Steifen wie ein Anhängsel davon, als im Grunde kleinerer Teil eines großen, auf Erlösung hin drängenden Teils. Das reckt er dem entgegen, der sich über ihn beugt, der zu ihm spricht, leise Duschönerdu sagt. Es ist das eine Wort, das genügt, damit die Moleküle ihren Zusammenhalt aufgeben, dem Elfjährigen Schauer über Arme und Beine laufen, ein Hin und Her zwischen glühendem Verlangen und glühender Scham. Seine Erregung ist so peinlich wie einfach da, und der, der sie steigert, nimmt das Knabengesicht in die Hände und küsst den Mund, wie ihn noch keiner geküsst hat – ein Geschehen mit der Wucht einer brechenden Welle. Da ist eine Zunge, die sich über und unter die eigene Zunge schiebt und leicht metallisch schmeckt, nach Zigarettenrauch, das erste Sichvermengen mit einem anderen. Und der Geküsste wagt es sogar, mit seiner Zunge zu antworten – ohne zu wissen, wie er damit das Zeichen ganzer Gewährung gibt. Erst ist es nur ein Kosten, übergehend in ein Zurückküssen, noch mit dem Gedanken, dass es ja unhöflich wäre, den Kuss nicht zu erwidern; dann aber geschieht es in dem Gefühl, etwas zu tun, das eben noch außerhalb jeder Vorstellung lag und nun erreicht ist, als könnte man auf einmal, geniehaft, etwa Geige spielen. Und all das nimmt im Schein der roten Adventskerze seinen Lauf – ein vorzügliches Licht für den Knabenkörper mit steifem Schwanz, haarlos noch, doppelt nackt, und ganz in der Hand dessen, der die Kerze mit ihrem Ideallicht zum Küssen entzündet hat.

Kaum ein anderer, späterer Kuss ist mir so im Gedächtnis geblieben, eingestanzt in die Lippen, das Zahnfleisch, die Zunge, den Gaumen. Was da geschah, geschah jenseits von allem Bekannten und aller Worte, so bestürzend wie betörend (und die wenigen anderen unvergesslichen Küsse waren Küsse mit Raucherinnen, als durch den Hauch von Metallgeschmack der fremden Zunge die Erinnerung auf der Stelle zurückkehrte, ein zweifaches Hin-und-weg-Sein). Schwer zu sagen, wie lange dieser Initialkuss gedauert hat, aber am Ende der Spanne überspringt der Bestürzte, Betörte, sein noch halbes Kindsein und platzt in die Hand des Erwachsenen, als würde er Milch pinkeln, ein rauschhaftes Verströmen wie auf jenem Bahnsteig, als die zwei Frauen seines Kinderlebens davonfuhren. Und der Kantor – auch das reicht bis ins Heute, ist bleibende Gegenwart – versteht es, das Verströmen bis zum Gehtnichtmehr zu dehnen, die freie Hand auf dem Mund, den er bis eben geküsst hat; anschließend raucht er im halben Liegen. Und noch während er raucht, kommt das Abtupfen des Flüssigen, Glasigen mit einem Stofftaschentuch, erst bei sich selbst, schnell unter der Hand, wie die Beseitigung eines Malheurs, dann bei dem, der den Rauch mit eingesogen hat, äußerst langsam. Der falsche Elfjährige – ich fühlte mich in einem Moment schon wie zwölf, wie dreizehn und im nächsten wie neun – schauert noch, als er abgetupft wird, als wäre dort unten eine Wunde entstanden, die gesäubert werden muss. Noch immer weiß er nicht, wie ihm geschieht, erschreckender aber ist, was er weiß: Dieser so still Daliegende mit geöffneten Beinen (wohl noch verzweifelt bemüht, den Sinn des eben Geschehenen zu erfassen) ist kein anderer als er selbst, ein Junge mit Taschentuch zwischen den Schenkeln, der sich im Kerzenschein als Mädchen sieht, eins, das alles mit sich machen lässt.

Seit dieser Dezembernacht war ich kein Neuer mehr, aber auch keiner wie die anderen im Heim. Ich war ein Erwählter, Emporgehobener, dazu noch ein Verzauberter, äußerlich Junge, innerlich Mädchen, einer mit geheimem Körper und Wissen – zu niemandem ein Wort, hatte Herr Gieser noch am Ende gesagt, die Haut unter meinem Kinn schmerzend zwischen zwei Fingern, und umso leichter fielen mir dann alle möglichen Wörter, das Benutzen meiner großen Klappe, darin die Zunge, die schon geküsst hat. Ich traute mich sogar, Laxmann, den Schläger mit Jeans und Rundschnitt, in der Freizeit anzusprechen, wenn von einer seitlichen Anhöhe über dem Sportplatz Papierflieger geworfen wurden und die besten über den halben Platz schwebten. Meiner kommt bis zur anderen Seite! So trat ich an Laxmann heran, und er gab mir eine Kopfnuss, als Zeichen, dass ich Hirngespinste hätte, sagte aber noch etwas, die Hand nach der Kopfnuss in meinem Nacken: Lass dir die Haare nicht schneiden, wenn Eisenbeiß kommt, er darf es gar nicht gegen den erklärten Willen, ein Nein genügt. Und wegen deiner Brille – es hatte sich herumgesprochen auf dem Stockwerk, dass ich in den Weihnachtsferien eine Brille bekäme –, kein Kassengestell, es gibt auch andere, verstanden?

Nie hatten mir wenige Worte mehr den Rücken gestärkt und zugleich den Kopf gewaschen als diese Laxmann’schen auf der Anhöhe über dem Sportplatz – Worte, an denen ich kaum Zweifel habe, wenn ich an sie denke oder sie gar vor mich hin spreche, und die mir zweifelhaft erscheinen, sobald ich sie geschrieben sehe, ein Schwanken von Minute zu Minute an dem kleinen Zimmerschreibtisch (vor die offene Balkontür gerückt, um jederzeit aufs Meer schauen zu können). Keinerlei Zweifel gibt es nur beim Wiedergeben des Sprachlosen aus der ersten Nacht mit dem Kantor, allem Körperlichen in diesen Stunden, zum Beispiel dem Gefühl des langen, fremden Haars zwischen den Fingern; und ebenso klar – auch in geschriebenen Worten so klar bleibend – sind die Bilder des Bläulichen oder Indianischen der Kantorlippen und seiner Zigarette, wie ihre Glut erstrahlt beim Ziehen, die Zigarette dann gehalten mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger, bevor ihm der Rauch aus der Nase strömt und er mich ansieht. Aber ich weiß auch noch – ein Wissen, als käme es aus der Haut, oder man könnte mit der Haut denken –, wie er mich angesehen hat, auf eine stille Art hungrig, und wie erschrocken ich war, nach dem Ausdrücken der Zigarette und seinem Tun an mir, dieselben, durch Bach und Schütz gleichsam geheiligten Klavierfinger, im Schein der Adventskerze inmitten des Entströmenden zu sehen, das noch meins war, mir entströmte, aber zugleich schon seins, das er verstrich, wo die Haut am gespanntesten war, womit alle übrige Haut bis zum Hals hinauf kleine Wellen durchliefen, und es auch schnell, fast verschämt, an die Lippen führte, um davon zu kosten – Bilder, für die der Erwachsene, sosehr sich die Jahrzehnte davor türmen, seine Hand ins Feuer legen würde.

Und das Bild vom Tag danach und auch das der folgenden Tage ist eins von der abendlichen Probe: Herr Gieser in weißem Hemd, die Ärmel umgeschlagen, mit seiner Roth-Händle zwischen den Lippen am Flügel, wie er nur mit einem Blick den Einsatz für die Altstimme gibt, und ich mit Notenblatt in der Hand ganz vorne im Chor, die andere Hand im Nacken, um mein Ausrasiertes zu verbergen. Noch ist es nicht gelungen, mich dem Frisör zu widersetzen, Frau Guth hat das Haareschneiden im Waschraum beaufsichtigt, und Eisenbeiß, stets mit erloschener Zigarette im Mundwinkel, putzte für eine Mark jeden Nacken aus und legte die Ohren frei. Einer nach dem anderen kam in der Adventszeit an die Reihe, und am Ende waren alle bis auf Laxmann über einen Kamm geschoren. Es ging mit Nazifrisuren auf Weihnachten zu, wir sangen als Pimpfe Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit. Und für die Eltern, die ihm entschwunden waren seit dem Spätsommer, zwei Phantome, hat der Pimpf auch, so, wie es sein sollte, etwas Schönes gebastelt.