15
Heute ist der sechste Oktober, ein Freitag, und immer noch bestimmt der Sommerirrläufer das Wetter im nördlichen Mittelmeerraum und macht Alassio zu einem Badeort auf Abruf. Ich war am Strand vor dem Hotel, meine Premiere auf bezahlter Liege, mit dabei Des Lebens Freude, einst erschienen im Verlag Andreas Zettner, ein Name mit nur fernem Echo in mir. Für ganze Tage stand das erste Buch meiner Mutter als reines Objekt auf dem Nachttisch, an den Lampenfuß gelehnt, und heute Vormittag am Strand habe ich es willkürlich aufgeschlagen, darin gelesen – Nie zuvor war Forster so fordernd, so gewalttätig gegen mich gewesen. Ich glaubte, in seinen Armen zerbrechen zu müssen, und mein Mund wurde wund unter seinen Lippen. Das sind die letzten Sätze von Kapitel dreizehn in dem Roman, ich schrieb sie heraus und überflog das Vorangegangene, bevor ich weiterlas. Der so fordernde Forster, von Ehrgeiz verschlungen, küsst die Romanheldin Ruth blutig, eine durch den Krieg zur jungen Witwe gemachte Frau mit Sohn, die aber den Sohn in Pflege gibt für ihre Karriere. Sie will diesen Forster und bekommt ihn auch nach dem Tod seiner ersten Frau, aber bald darauf erleidet er einen tödlichen Infarkt, und Ruth begreift, dass sie den falschen Lebensweg gewählt hat, sie will jetzt nur noch ihren Sohn glücklich sehen. So weit, so gut; aber warum gelingt es dem Sohn der damals jungen Autorin nicht, das Buch Seite für Seite zu lesen?
Ich habe es versucht, beim Gehen im flachen Wasser, beim Liegen im Halbschatten, bei einem Mittagsimbiss, mehr aus Überdruss als aus Hunger – nach zwei, drei Seiten kam immer dieselbe Müdigkeit an den Worten, den Sätzen, der Sprache, dasselbe ungerechte Gefühl gegenüber der, die all das einmal geschrieben hatte, zu Anfang noch im alten Haus, allein in der Veranda, während der Sohn, statt französische Vokabeln zu lernen, mit dem Gewehr durch den Garten strich, still auf die schiefe Bahn kam. Sie war zu der Zeit schon verlassen oder wusste, dass sie verlassen wird, ihr Eheglück gescheitert war, sie tippte gegen das Scheitern an, nur reichte das letzte Jahr im schützenden Haus nicht mehr, um mit Ruth an ein Ende zu kommen. Und als auch der Familientraum geplatzt war, setzte sie, umgezogen nach Frankfurt mit Stelle als Texterin, den Traum vom Schreiberfolg fort. Nach Büroschluss in der Werbeagentur Laux tippte sie jetzt in einer Einzimmerwohnung, Eduard-Rüppell-Straße, um die Ecke der Hessische Rundfunk. Dort erhoffte sie sich etwas für ihre Verbreitung und ihr Portemonnaie, nicht sofort, aber mit einem ersten gedruckten Roman im Rücken – ihrem immer wieder schmerzenden, das eigene Leben oft völlig beherrschenden Rücken, verlässlichste Schwachstelle seit einem Sturz in früher Jugend. Sie brauchte diesen Roman als Korsett, also musste sie tippen, Abend für Abend ihre Seiten füllen, wie festgezurrt mit Wärmflasche und Kissen im Kreuz auf einem unmöglichen Stuhl an einem provisorischen Schreibtisch, als Gesellschaft nur ein Radio mit grünem Auge – von Grundig in meiner Erinnerung. Es läuft leise ein Konzert, etwa die Wiener Philharmoniker mit Mahlers dritter Sinfonie (lange bevor Visconti Mahlers Musik für Tod in Venedig entdeckte); die schweren Töne gehen durch sie hindurch, und doch bleibt etwas hängen davon, ein akustischer Flor, der sich mit ihrem Flor verbindet. Sie tippt und genehmigt sich gegen das Verhangene oder Ungute in ihr einen Whisky, Johnnie Walker, dazu raucht sie eine Reval, die ihr nicht schmeckt, dafür nach dem riecht, der sie verlassen hat. Mit kleinen stampfenden Bewegungen drückt sie die Zigarette schließlich aus und bittet den lieben Gott um Beistand: dass er sie zum Erfolg führe. Und mit dem Stoßgebet im Rücken bildet sie Sätze zu Forster (zweifellos mit Zügen meines Vaters) und Sätze zu Ruth, in der sie sich selbst versteckt, einer Frau und Mutter, die schmerzlich erkennt, dass die Liebe zu einem Mann nicht alles im Leben ist – Ich konnte meine Arme voller Sehnsucht nach ihm strecken, ich würde ihn nicht erreichen, nie wieder, und es war besser so. Heiß und unaufhaltsam liefen mir Tränen übers Gesicht. Sie ist gefangen in Worten und Sätzen, die den Weg in einen anderen, größeren Verlag verbauen, dafür aber die ihren sind, ihre Worte und Sätze wie Fesseln, die sie nicht abstreifen kann; sie sitzt auf dem unmöglichen Stuhl, und in einer Schleife kehren alle Worte beim Tippen wieder und wieder. Ihr Rücken schmerzt, dem hat sie standzuhalten, und da ist die Angst, allein zu bleiben, gegen die tippt sie auch an. Solange sie ihre Sätze schreibt – solche wie Alles war wunderbar, ich half ihm in die Hausjacke, ich schenkte ihm Tee ein und gab ihm Feuer, ich war unbeschreiblich glücklich –, ist sie beschützt; außerdem hat sie zwei Kinder, der Sohn in einem Internat mit Schloss, die kleine Tochter in guter Obhut. Trotzdem, denke ich, hat sie manchmal beim Tippen geweint, von sich selbst erschüttert, der, die da abends so tapfer sitzt, die leeren Blätter füllt, ja überhaupt das Leere, seit sie mit vierzehn den Vater verloren hat, gefallen gleich im Polenfeldzug. Er war der warme, der beseelte Schlamm ihrer Kindheit, der Grund, in den sie versinken konnte, vor dem ihr nicht graute, ihr Urglück. Das Lebenssiegel der Vaterlosen, es liegt auf jeder ihrer Seiten über faszinierende Männer, besessen von eigener Größe, Ruhm und Eroberung, und Frauen, die zu spät begreifen, dass sie nur grauen Schläfen und dem Handkuss erlegen sind. Sie spürt das und tippt es zu Sätzen; die Einzimmerwohnung ist der Bauch, in dem sie sich Abend für Abend selbst austrägt, bis Des Lebens Freude geschrieben ist. Ich sehe sie die letzte Seite abends aus der Maschine ziehen, samt dem dünnen Kohlepapier und einem Durchschlag. Ihre Fingerkuppen sind dunkel geworden von dem Papier, sie sieht sie an wie eine Näherin nach langem Tag ihre Hände, die feinen Spuren darin. Sie hat Wörter und Sätze zusammengenäht, während der Sohn am Liebesfaden des Kantors hängt, und der Mann, der nicht mehr ihr Mann ist, sein ganzes Leben neu vernäht. Ich sehe sie auch ins Bad gehen, um sich die Hände zu waschen, aber noch ehe sie an den Hahn greift, ist da der Spiegel über dem Becken, und sie sieht sich, eine Frau von sechsunddreißig, immer noch mädchenhaft schön, wenn sie lacht. Sie hat ihr Schlummergetränk dabei und nippt daran und weint von einem Moment zum anderen; das geschieht einfach, die Tränen rollen. Einmal nippt sie noch am Whisky, dann stellt sie ihr Glas ab. Und mit den Händen an zwei heißen Wangen beugt sie sich über das Waschbecken und weint umso mehr, weil keine Menschenseele es sieht außer ihr.
Der Schaum einer Welle, ihr blasiger Ausläufer, kam bis an die Liege, das war die Nachmittagsflut, und ich griff nach dem Buch im Sand, dort abgelegt nach dem Blättern und Lesen; ich blies einzelne Körnchen vom Umschlag, darauf nur Titel und Name der Autorin, noch voller Vertrauen auf die Schrift. Dann schlug ich den ersten Roman einer jungen, sich an die Idee der Freude klammernden Frau, meiner Mutter, hinten auf und las den Schlusssatz, den sie mit Wärmflasche im Rücken und all dem Stolz, so weit gekommen zu sein, getippt hatte – Weiche Flocken fielen vom Himmel, vermehrten sich immer schneller, und bald war ich eingehüllt in dichtes Schneetreiben.
Schnee. Das letzte Weihnachten im Kindheitshaus, Kirchzarten, Höfener Straße vierundzwanzig, die Nummer entsprechend dem Tage, an dem sich alle Vorfreude erfüllt, schon morgens, wenn das größte der Türchen im silbern bestäubten Kalender mit dem Fingernagel aufgezogen wird und die Heilige Familie als ein Abbild der eigenen erscheint, und vor dem Fenster die Schneeflocken eher herabsinken als vom Himmel fallen und den, der am Fenster steht, in ein Glückstreiben einhüllen.
Ich bin elf (und schon befleckt: der, dem eben nicht alles rein ist), meine Schwester ist sieben, wir wissen nicht, dass sich die Eltern getrennt haben, nur für uns anwesend sind, wie zusammengehalten von der Macht unserer jetzt gemeinsamen Hüterin. Aber wir wissen, dass es kein weiteres Weihnachten in diesem Haus geben wird, dass der Rohbauanbau künftig unser Zuhause sein wird. Es sind Abschiedstage, keine Wiedersehenstage mit den Eltern – die mich vom Freiburger Bahnhof abgeholt haben, von einem Zug, der sich pünktlich in Radolfzell in Bewegung gesetzt hatte, um zwölf Uhr vierundvierzig: unvergessliche Uhrzeit, weil sie das nahende Ende der schier ewigen elternlosen Zeit zwischen dem letzten sommerlichen Sonntag und dem Beginn der Weihnachtsferien angezeigt hat. Sie standen hinter der Sperre, die Eltern, eine Frau in halblanger weißlicher Jacke, an ihrer Seite ein Mann mit Hut und getönter Brille; der Rückkehrer aus dem Internat hat beide im ersten Moment kaum erkannt. Und dann geht es noch einmal in dem grauen VW mit geteilter Heckscheibe zur alten Familienadresse, und der Sohn soll vom Internat erzählen, wie es ihm gefalle dort und ob er auch das Schloss schon einmal betreten habe, dieses schöne Schloss am See, und seinen Schlips, ob er den nun selbst binden könnte, und ob er in Englisch mitkäme. Yes, I do, sagt er, und die Mutter applaudiert ihm, und er sagt noch ein Wort mehr, I’m singing, und sein Vater macht das bekannte Lied daraus, das aus dem Film Singin’ in the Rain, da biegen sie bereits von der B 31 nach Kirchzarten ab, und der Internatsschüler erwähnt die Kantorei, dass er dort singen würde, richtig singen, ja auch schon Noten lesen könne, nur nicht von der Tafel, weil seine Augen schlecht seien. Er müsse eine Brille bekommen, sagt er, aber kein Kassengestell, da ist man schon im Haus, sitzt schon im Wohnzimmer mit noch ungeschmücktem Baum neben dem Sofa, und er kommt von der Brille wieder auf die Kantorei, auf sein Singen. Fast jeden Abend probten sie mit Herrn Gieser, der wie Winnetou aussehe, und sein Vater sagt, Na, na, wer sieht denn so aus? Er raucht seine Reval, filterlos wie die Roth-Händle, nur riecht sie nicht ganz so würzig; der Sängerknabe, so nennt ihn der Vater jetzt, kann das bereits unterscheiden, und seine Mutter bittet um eine Vorführung, er soll doch mal etwas singen, die Stimme habe er schließlich von ihr, Komm, sing O du Fröhliche, ruft sie. Aber wenn er schon singt, wenn er schon etwas offenbart von sich und dem Kantor, dann Cantate Domino von Buxtehude, sein kleines Solo. Er gibt sich selbst den Einsatz, hebt zwei Finger, als würden sie eine Stimmgabel halten, und mit ersten Tönen löst sich etwas hinter seinen Augen, das sich dort gestaut hat seit dem Spätsommer, jedes Weitersingen ist unmöglich. Sieh ihn dir an, er ist übermüdet, sagt sein Vater, ab ins Bett – und zweimal oder dreimal musste ich noch schlafen in meinem Kinderzimmer, dann war Heiligabend, und der Baum neben dem Wohnzimmersofa war nun geschmückt, und alles geschah noch einmal genau wie in den Jahren zuvor, nur eben zum letzten Mal in unserem Haus. Die Märklin-Eisenbahn fuhr zum letzten Mal durch die Berglandschaft auf der großen Holzplatte (für die in dem Rohbauanbau gar kein Platz gewesen wäre), und der Elfjährige wollte sich abends von dem Anblick nicht trennen und durfte im Bescherungszimmer auf dem Sofa schlafen, mit dem Kopf unter den überhängenden Zweigen des Baums, die konnte er im Dunkeln berühren und riechen, er sah sogar das Lametta schimmern. Jede Nacht berührte er die Zweige, so ließ es sich einschlafen, und er zählte an seinen Fingern, ob ihm noch drei oder zwei oder nur eine der Nächte zwischen den Jahren blieben. Denn gleich am Anfang des neuen Jahres – Neunzehnhundertsechzig, mein Gott!, der mütterliche Ausruf an Silvester – würden die Eltern abreisen und die Tage von da an gegen ihn laufen: An Dreikönig müsste er zurück ins Internat. Der Zug, fünfzehn Uhr fünf ab Freiburg, ebenfalls unvergessliche, schwarze Uhrzeit, fährt über Titisee nach Donaueschingen, dort das Umsteigen in den Zug aus Karlsruhe, darin schon einige aus dem Heim, die er kennt. Jeder Name ist ein Halt, wie in den seligen Nächten die Zweige über dem Sofabett. Einer, der Gerd Bäcker heißt, sitzt im Zug, mit seinem Freund Kurt Walter Rohr; dann der dicke Freitag von Radio-Freitag in Karlsruhe, der ohne Vornamen auskommt, wie Merkle im selben Zug, der KSC-Merkle. Vor allem aber sitzt dort sein Wächterfreund Werner Rauh im dunkelblauen Zweireiher, der Brauereibesitzersohn mit Direktorennase (nach fast sechzig Jahren hatte ich ihn vor einer Lesung in Karlsruhe auf Anhieb erkannt). Unter seinem Schutz geht es im Zug über Singen bis Radolfzell, wo im Bahnhof noch derselbe Adventskranz hängt, der bei der ersehnten Reise zu den Eltern ein Vorbote allen Glücks war. Nun aber, am sechsten Januar, noch immer dieser Kranz, mit erloschenen Kerzen, Sinnbild all dessen, was vorbei ist. Und weiter geht es mit dem Bus auf die Höri, im Dunkeln am Untersee entlang bis Marbach, dort erwartet ihn schon die Ungut mit ihrer Ernte 23 in der Hand und triumphierendem Glanz in den Augen. All ihre Macht greift wieder, gleich am nächsten Tag nennt sie ihn, eine Faust mit den Knöcheln über seinen Hinterkopf ziehend, Schlamper, weil ihm im Vokabelheft die Schrift über den Rand gerutscht ist. Und abends fangen die neuen Kantoreiproben an, Herr Gieser hat Großes vor, Carmina Burana, er wirft schon wieder Blicke auf ihn, solche, mit denen es sich nicht einschlafen lässt. Also denkt er zurück an die Weihnachtstage, die Märklin-Eisenbahn und wie sein Vater nachmittags mit ihm gespielt hat, als wäre alles wirklich auf der Holzplatte, der Berg, der Tunnel, die Häuschen, die fahrenden Züge, klein, aber wirklich, statt nur Modell von etwas Großem. Er spürt dieses Wirkliche noch in der Hand, das Gewicht der Güterlok, wenn man sie vom Gleis hebt, etwa wie ein Aschenbecher, und er hat es im Ohr: als leises Klimpern der Anhängerkupplungen, wenn man den einzelnen Waggon, zum Beispiel den Schlafwagen, mit seinen Rädchen auf ein Gleis setzt, oder als Klicken der Signale, wenn sie von Rot auf Grün springen, und als gutes Gefühl in den Fingern beim Zusammenstecken von Schienen oder dem Anhängen eines Zugs an die Lok, wenn eben eins ins andere greift, und, nach Drehung am Trafo, als beglückendes Sirren der anfahrenden E-Lok; er spürt noch, wie es ist, wenn alles funktioniert, jedes Lämpchen aufleuchtet, jede Weiche ihren Dienst tut, jede Schranke zugeht, während das Herz immer weiter wird. Und der wieder Elternlose in dem Bett, das an das Bett des Brauereierben stößt, streckt, um in den Schlaf zu finden, eine Hand nach den Tannenbaumzweigen, die es nicht mehr gibt.
Dieser Baum stand etwas erhöht neben dem für mich zum Bett gemachten Sofa, seine längsten, geschmückten Zweige ragten ganz über das Kopfteil, und berührte ich einen Zweig mit der Hand, gab es ein feines, wie im Inneren des Baums erzeugtes Klingeln – all das zu sehen oder zu erahnen auf einem kleinen Foto, aufgenommen in diesen letzten Kindheitsweihnachtstagen in unserem Haus, im Hintergrund das dunkle Sofa mit hellem Kopfkissen, seitlich davon der große Baum. Im Vordergrund aber sieht man die Dame des Hauses in einem der Geschenke, die unter dem Baum gelegen hatten, einem winterlichen Mantel, den sie offen trägt, seine Schöße sogar aufhaltend, in der Hand eine Zigarette: Eine junge, erwartungsvolle Frau präsentiert in einem bescheiden eingerichteten Wohnzimmer einen weit weniger bescheidenen Mantel und sich selbst gleich mit. Der Mantelkragen ist männlich aufgestellt, die auseinandergehaltenen Schöße geben den Blick auf ein Abendkleid frei, auf eine weibliche Bereitschaft zu irdischen Dingen, die noch nicht feststehen, aber schon in der Luft liegen. Weihnachten und damit das Himmlische, das Imaginäre ist vorbei, nun geht der Blick nach vorn, auf das welterschließende Neue; es spricht viel dafür, dass es ein Foto aus der Silvesternacht ist, meine junge Mutter kurz nach der Knallerei im Garten, darum auch der Mantel, sie hat ihn einfach anbehalten, ihr Haar ist leicht zerzaust vom Wind. Eine Übermütige in der ersten Stunde des neuen Jahrzehnts, jener Sechziger, die mit ihrem wachsenden Eigenschwung – frecher Mode und einer Musik aus der Hüfte, neuen Zeichen anstelle alter Symbole, all dem kindlich Bunten, wo vorher nur Grau war, und einer aufsässigen, erstmals globalen Sprache – am Ende alles Verstaubte, Verklebte, noch immer Geduckte und dumpf Gemütliche einer verschleppten Nachkriegszeit aufgewirbelt haben. Und eine leise Ahnung davon spricht aus diesem Schnappschuss oder frühen Modelshot in Schwarzweiß, Frau im offenen Mantel mit Zigarette; interessant ist nicht das Bild, das an einen Silvesterabend erinnert, nicht das Foto als Stütze einer Rückbesinnung, sondern die zukunftweisenden Details darin. Da gibt es etwa die Beinstellung, einen Fuß im hohen Schuh leicht abgespreizt, oder das Kleid, das zwar die Knie bedeckt, aber mit seinem Schimmer, seinem Schnitt, ein Versprechen auf den Körper darunter ist; dazu kommt das Entschiedene der Hände beim Aufhalten des Mantels, die Zigarette zwischen Mittelfinger und Ringfinger, und ein Blick, der nicht ganz zur Kamera geht, der im Ungefähren bleibt, könnte man denken, in Wahrheit aber jemandem gilt, und das Ganze mit einem Boulevardlächeln – Seht her, wie ich das neue Jahrzehnt begrüße!
Bei Foto-Bank in der unteren Höfener Straße hat es nur zwei Tage gedauert, bis ein Schwarzweißfilm von Agfa entwickelt war und je ein Abzug, Hochglanz mit Rand, vorlag (der Sohn des Hauses, Hubert Bank, stark fehlsichtig, saß mit mir in der Volksschulklasse, sein Sehfehler hat ihm regelmäßig Stockhiebe wegen mangelnder Schönschrift eingebracht, und nach einer Lesung in Kirchzarten vor Jahren hörte ich von seinem frühen Tod). Noch auf der Treppe vor dem Laden wurde das Silvesterfoto aussortiert und in die Innentasche eines Anoraks geschoben, als wäre es wegen mangelnder Schärfe oder Belichtung gar nicht erst entwickelt worden. Der Sohn behielt es als sein verborgenes Mutterbildnis, und es fand, als er wieder im Internat war, auch einen verborgenen Platz: unter den zwei weißen Hemden, an deren Innenkragen seine großmütterliche Hüterin die ihm zugeteilte Wäschenummer genäht hatte (eine kleine rote 41, noch heute an dem damals getragenen silbrigen Schlips, wie ein untrüglicher Beweis, dass all die inneren Bilder dieser so fernen Jahre keine Hirngespinste sind). Das Foto ist das erste Pin-up im Besitz des Elfjährigen, aber er schaut es nur an, wenn der Brauereierbe abgelenkt ist, eins seiner Fresspakete öffnet – bei ihm ging die Liebe in der Tat durch den Magen, bei mir durch die Augen. Wenigstens einmal in der Woche streicht der Augenjunge, vormals Augenstern, seiner Mutter, mit dem Zeigefinger über das schimmrige Abendkleid unter dem aufgehaltenen Mantel, weiß er doch genau, was es verhüllt. Er kratzt mit dem Nagel, dem, der das letzte Kalendertürchen geöffnet hat, die Heilige Familie befreite, immer wieder darauf herum, weil der mütterliche Blick am Kameraauge und also auch an ihm vorbeigeht – man sieht nicht, wohin, aber sehr wahrscheinlich geht ihr Blick zu dem Mann, der ihr noch einmal unerwartet zugetan war in dieser ersten Nacht des neuen Jahrzehnts, überschwänglich erwähnt in ihrem letzten Ehebericht; sie sieht zu meinem Vater, der ihr den Mantel geschenkt hat, den sie so freimütig, so leichtsinnig aufhält.
Die kleine rote Wäschenummer auf dem Schlips, den es noch gibt, die Kratzspuren auf dem Foto, das nicht mehr unter weißen Hemden liegt, sondern zwischen anderen Fotos aus jener Zeit seinen Platz hat – es sind nur Beweise, dass es diese Zeit gab oder seitdem bald sechzig Jahre vergangen sind, Belege dafür, dass die Erinnerung nicht ins Leere läuft. Einmal hatte der schon ältere Sohn das fast ebenso alte Silvesterfoto dabei, als er die mit zerzaustem Haar im aufgehaltenen Mantel, seine Mutter in ihrem Appartement am Alpenrand als Zwischenstation auf einer Lesereise besuchte. Sie war schon geschwächt und lag im Bett und empfing ihn erstmals ohne die gewohnte Perücke, wieder mit zerzaustem Haar, ihrem eigenen dünnen, watteweißen, nur nicht im Übermut zerzaust, sondern aus Erschöpfung, und er zeigte ihr das Foto, Schau, das bist du, an Silvester, noch im alten Haus, und sie wollte oder konnte es gar nicht glauben, Wann sollte das denn bitte schön gewesen sein, sagte sie, welches Silvester um Himmels willen?
Ich saß neben ihrem Bett und hielt ihr das Foto hin; sie war nicht bereit, es selbst in die Hand zu nehmen, und auch die Lesebrille setzte sie nicht dafür auf. Sie sah es nur irgendwie an, und ihr schmaler Kopf, das Gesicht schon knochig bis auf die Wangen, machte die kleinen verneinenden Bewegungen, die es auch machte, wenn sie ihr Essen bekam, auf den vorbereiteten Teller sah, das ihr immer Zuviele darauf. Das war die Silvesternacht zu neunzehnhundertsechzig, sagte ich. Und du siehst glücklich aus, wie glücklich verheiratet. Obwohl ihr ja schon auseinander seid. Oder nicht? Ich hielt ihr das Foto jetzt hin, und sie schloss einfach die Augen. Wie spät es sei, fragte sie, ihre übliche Art, etwas abzubrechen; es war erst halb sechs, für mich noch der spätere Nachmittag, für sie schon die Zeit, sich auf das Abendessen vorzubereiten. Also half ich ihr aus dem Bett, eine Millimeterarbeit, ich half auch beim Anziehen des Bademantels, ebenfalls in kleinsten Schritten, und führte sie dann zum Esstisch, vorbei am eingebauten Schrank, sie klopfte gegen eine der Türen – dahinter lägen, in einem Extrafach, ihre alten Tagebücher, die sollte ich jetzt endlich an mich nehmen und lesen, bevor sie hier noch wegkämen, gestohlen würden. Ich half ihr, sich an den Tisch zu setzen, und kam auf die gestrige Lesung in Miesbach, ein schöner Saal und viele Leute – meine Art, ein Thema abzubrechen.
Schon mehrfach hatte sie mir ihre Tagebücher angeboten, ohne zu sagen, dass es Ehejahresberichte waren, nur wollte ich sie nicht haben, nicht im Leben der noch lebenden Verfasserin blättern. Erst anderthalb Jahre nach diesem Kurzbesuch oder Abstecher von einer beruflichen Reise erhielt ich die Kladden aus den Händen meiner Schwester, nachdem sie das Appartement aufgelöst hatte. Und entgegen aller Gewohnheit las ich die Eintragungen von hinten; sie endeten im März neunzehnhundertsechzig, datiert mit dem Hochzeitstag, wie auch die Berichte davor. Es war ein Lesen im Stehen, bei noch hellem Augustabendlicht, anfangs mehr das Überfliegen weniger Zeilen über einen Sonntag im Spätsommer neunundfünfzig, als es im VW mit geteilter Heckscheibe, nach dem Abliefern des Sohns im Internat, vom Bodensee wieder nach Freiburg ging, dann aber ein Lesen Wort für Wort – Und auf der Rückfahrt war in mir das Gefühl einer drohenden Gefahr, wie wir sie zuletzt am Ende des Krieges empfunden haben, der Gefahr, dass nun alles verloren gehen könnte, auch wenn unser Sohn in guter Umgebung war. Und neben mir ein Mann, der immer fremder, immer kühler wurde. Abends, in einem Weinlokal in Freiburg, ging ich auf Dein Drängen ein und versprach Dir, meinem allerliebsten Menschen, zwei Monate Freiheit. Noch an diesem milden, fast sommerlichen Abend trennten sich unsere Wege. Und als ich es schließlich nicht mehr aushielt, da stand nur noch die Frist eines Wochenendes zwischen mir und der ganzen Wahrheit. Sie war schlimm, und ich will hier nicht niederschreiben, wie schlimm sie war; was galten daneben unsere ewige Geldknappheit und mein erstes gedrucktes Buch. Dann starb Dein Vater, wir fuhren noch einmal nach Hannover, ich war trotz allem, neben meinem Mann im Wagen, glücklich. Aber als wir am Grab standen, weinte ich nicht um den Toten, ich weinte um alle lebendigen Dinge, die nicht wiederkehren würden, ja für Momente war es, als wärst Du mitgestorben. Und auch das Weihnachtsfest brachte keinen Frieden, nur die Kinder waren glücklich. Für mich war es die schlechte Imitation aller Weihnachten der letzten Jahre. Silvester aber war wie ein Wunder, ein unverhofftes, ich danke Dir dafür, mein Liebster, danke! Und ich danke Dir auch für dieses letzte Jahr, das mich wissend machte und mich doch nicht davon abbringen kann, Dich zu lieben. Kirchzarten, den 22. 3. 1960.
Hier reißen die Jahresberichte ab – nach und nach vom Empfänger der Kladden alle gelesen –, das unverhoffte Silvesterwunder bleibt offen, nur das Foto mit aufgehaltenem Mantel lässt davon etwas ahnen; der Rest der zweiten Kladde ist leer, erschreckend weiße Seiten. Und bei der schlichten, an ein Protokoll erinnernden Angabe von Ort und Datum am Ende, statt wie in den Jahren zuvor eines euphorischen Schlusssatzes, hat die Schrift meiner Mutter, in den ersten Berichten noch die eines Mädchens, ihre finale Prägung: Sie hätte Ort und Datum auch im Alter mit derselben steilen, Klarheit beanspruchenden, dabei aber in sich erschütterten, immer wieder neu ansetzenden Stiftführung geschrieben, manche Buchstaben wie isoliert oder vereinsamt in ihren Briefen zu jedem Sohnesgeburtstag. Und auch zwischendurch schickte sie gern ein paar Zeilen, oft nur ein hingeschriebenes Zitat über das Dasein, mit dem Wunsch, es anzunehmen, damit es mein Leben, und sie meinte das innerliche, verbessere; der letzte dieser Kurzbriefe kam zwei Jahre vor ihrem Tod. Die meisten Buchstaben darin sind lose und geben doch das feste Bestreben wieder, all die Schriftzeichen noch einmal, mit blauer Tinte auf weißem Papier, sinnvoll anzuordnen. Mein lieber Sohn! Lese zzt. Augustinus. Es gibt da ein Wort, über das besonders unruhige Menschen (gemeint der Sohn) nachdenken sollten, im Lateinischen klingt es noch eindrücklicher als auf Deutsch: Inquietum est cor nostrum donec requiescat in te. Unser Herz ist unruhig, bis es ausruht in Dir. Deine ganz im Lesen versunkene Mutter.
Auf solche Briefe hin erwartete sie einen Anruf, mit Recht, also wählte ich die Nummer, die mir noch heute nicht aus dem Kopf will, null acht null zwo zwo, zwo sieben null, eins fünf zwo, ein Zahlengebet, Lieber Gott, lass sie mit klarer Stimme sich melden und nicht aus unendlicher Ferne nach Luft ringen, nicht am anderen Ende kaum mehr als ein ersticktes Ja zustande bringen. Sie aber hob schon nach dem zweiten Läuten ab, ein gutes Zeichen, und meldete sich mit der Stimme, die im Grunde ihre nie geflossene Muttermilch war, auch ihr so lange versäumtes Kochen und Immerdasein, der Stimme, die etwas Nährendes, Behütendes, Tröstliches hatte (bis am Ende nichts von all dem noch übrig war, kein Stoßgebet des Anrufers mehr geholfen hatte). Und an dem Tag lag in ihrer Stimme sogar eine Aufforderung, sich etwas zu holen von ihr, ein wahres Wort wie eine gut mit Butter bestrichene Scheibe Brot, darum kam ich von Augustinus’ unruhigem Herzen auf meine eigene lebenslange Unruhe, oder wie schwer es mir falle, seit jeher, mich zu entspannen. Und Musik, sagte sie, was ist mit schöner Musik? Mein Gott, ich höre eine Oper, ein Konzert und entspanne. Mach das einmal, hör dir ein Klavierkonzert an, ein Oratorium, einen Chor. Oder willst du gar nicht entspannen? Sie wartete eine Antwort ab, was nur selten der Fall war, und ich sagte etwas, das noch einen Herzschlag zuvor außerhalb jeder Rede lag. Seit dem Internat, den ersten Jahren dort, sagte ich ins Telefon, zieht sich mir bei solcher Musik alles zusammen, je schöner sie ist, umso mehr, du kannst dir denken, warum. Jeder reine Gesang trifft meine schwächste Stelle, ich liebe diese Art Musik, aber bin ihr gegenüber hautlos, gar nicht imstande zuzuhören, sondern ihr nur ausgeliefert, da kann man sich nicht zurücklehnen, unmöglich. Ich entspanne beim Radfahren durch die Stadt, manchmal auch im Gehen, hast du heut schon deinen Gang im Flur gemacht? Das fragte ich sie, mit genau diesen Worten, hast du heut schon deinen Gang im Flur gemacht, während die Worte davor den tatsächlichen Worten am Telefon höchstens ähnlich sind, bereinigte Worte, und auf die unbereinigten hat sie gar nicht erst reagiert. Meinen Gang im Flur, ja, ich habe ihn vorhin gemacht, sagte sie, worauf ich sie bat, mir davon zu erzählen. Und das tat sie auch gleich, mit der Stimme, die noch einmal wie die nie geflossene Muttermilch war, und es gelang ihr, den unruhigen, immer alarmierten Sohn damit zu entspannen, im Erstaunen darüber, wie man vom Hin und Her in einem totenstillen Flur überhaupt eine Geschichte erzählen kann, mit Anfang, Höhepunkt und Ende, die Geschichte des langsamen Gehens nach der Uhr, vom Fenster mit Stuhl und Pflanze davor bis zu der Fahrstuhltür mit dem Kalenderspruch des Tages und wieder zurück.