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Die angesteckte Zigarette zwischen den Lippen, so wendet der Kantor auf der Höfener Straße und fährt über die Lindenau auf die B 31 Richtung Donaueschingen; und schon bei Himmelreich, dem Ort gleich nach Kirchzarten, greift er in das Haar, das die ganzen Ferien über nicht gekürzt wurde, sich bereits kringelt in meinem Nacken, und sagt Wir haben viel Zeit. Es waren seine Auftaktworte an diesem windigen Spätnachmittag oder eher frühen Abend mit schon etwas Herbstlichem, wirbelnden Blättern in einem Licht, das nichts Erhebendes mehr hatte wie das am Anfang der Ferien, das schwer über allem lag, als es ins Höllental ging und bald die engen Kurven nach Hinterzarten hinauf. Auch beim VW mit Verdeck gibt es das feine Klirren im Motor, dazu noch ein Flattern, wo der Verdeckstoff nicht anliegt. Der Zwölfjährige auf dem Beifahrersitz bestaunt den Mann am Steuer, wie ihm in jeder Kurve eine Strähne ins Gesicht fällt, während die Zigarette wie festgeklemmt ist von den bläulichen Lippen – genauso will er selbst einmal Auto fahren, rauchend in den Abend, in die Nacht. Und schließlich wird es auch eine Fahrt in die Nacht, auf leerer Straße zwischen Immendingen und den Schleifen hinunter in den Hegau, eine Fahrt, als wäre außer uns niemand unterwegs, die Bedingungen für den Gedanken, dass wir die beiden einzigen Menschen überhaupt seien, weil eben kein anderes Auto zu sehen war und auch nirgends Häuser mit erleuchteten Fenstern, nur die Straße und dunkle Hügel mit Tannen oder halbdunkle ohne Tannen und darüber – gut möglich – der Mond. Wir fuhren aus der Welt oder hatten die bewohnte Welt bereits hinter uns gelassen, aber auf einmal bremst der Kantor und schaltet mit dem Handteller herunter (später auch meine Art, den Gang zu wechseln). Machen wir hier Pause, sagt er und biegt in einen Waldweg, schon mit Standlicht; ein paar Meter fährt er noch auf dem Weg, bis zu einem Stapel gefällter Tannen, dort macht er den Motor aus und auch alles Licht.

Herr Gieser raucht – ein verlässliches Bild: die Glut seiner Zigarette, ihr Aufglimmen und der Schimmer auf den Lippen, der Glanz in den Augen, dann wieder Dunkelheit und Stille bis auf das eigene Herzklopfen. Ein Halbwort nach der Zigarette beendet die Stille, Nadu. Schwer, darauf etwas zu erwidern, nur muss der Junge auf dem Beifahrersitz auch nichts erwidern. Er muss nur da sein und stillhalten, als sich der Fahrer, sein Kantor, über Schalthebel und Handbremse hinweg zu ihm beugt und sich nimmt, was ihm nicht gehört, es aus der Kleidung holt; aber erstens nimmt er es nicht weg, er borgt es sich lediglich aus, und zweitens bietet er im Gegenzug auch etwas an, Da, sagt er, komm. Und beide verkeilen sich in der Enge des Wagens, es reicht nicht mehr, einfach stillzuhalten, auch der Junge hat zu tun, sosehr ihm die Schenkel zittern. Er weiß wieder nicht, wie ihm geschieht, und weiß es inzwischen doch, er weiß, dass gleich die Schweinerei passiert. Aber der Kantor hat vorgesorgt, das eigene weiße Hemd hält er bereit, ein ganzes Stück davon für sie beide, und der Junge kann sich gehenlassen, so wie es, zwischen Küssen, von ihm erbeten wird. Der Kantor legt ihm sein Anliegen buchstäblich in den Mund, sich dort unten zu vermischen, es ist wie das Vorsummen einer Solostelle, wenn er am Flügel sitzt und ihn auf die Tonart hebt. Er nimmt Wörter in den Mund, die sonst keiner in den Mund nimmt, er kaut sie ihm vor und flößt sie ihm ein, bis sich erst beider Atem vermischt und endlich, in einem Platzen, das gar nicht aufhören will, nur in Wellen langsam verebbt, auch all das Überschwemmende. Sie teilen sich das Stück Hemd, um abzuwischen, was sich vermischt hat, sie teilen ihr Verstummen danach, das Nichtmehrweiterwissen mit noch heruntergelassenen Hosen, die Niederlage im Zigarettenrauch – bis der Erwachsene am Steuer das Autoradio anstellt, irgendeine Kammermusik, die zum Sonntagabend passt, und rückwärts aus dem Waldweg fährt, wieder in die Straße biegt – und nur noch fuhr und fuhr und kein Wort sprach. Ein Schweigen wie eine Verdopplung der Dunkelheit, erst beendet, als hinter Radolfzell der Untersee im Mondlicht dalag – auch ein unverrückbares Bild – und er auf einmal Kämm dich sagte, mach, damit die Guth nichts merkt. Nur merkte sie dann doch etwas, als der Gekämmte vor ihr steht, um sich von den Ferien als Letzter auf dem Stock zurückzumelden, abgeholt und hergebracht von Herrn Gieser, etwas von seiner Erschöpfung. Mit zwei Fingern macht sie das Zeichen einer Schere und nennt sein Haar Mädchenhaar, sie schickt ihn ins Bett, und er geht auf das Zimmer, in dem der Brauereierbe schon schläft. Er zieht sich aus und legt sich hin, gefasst auf Monate der Ohnmacht und beim Übergang in den Schlaf von einem Geschlecht, wie er es im Sommer, als die Ferien noch ewig erschienen, im Fieberbrunner Kino in dem Film ab achtzehn gesehen hat.

Etwas ist mit mir geschehen, wie von Mächten verursacht, für die es keine Worte gab, und geschah danach auch mit Sicherheit wieder; fraglich ist hier nur, wie oft dieses so in Höhen Tragende wie Herunterziehende, so Erfüllende wie Entleerende zwischen dem Kantor und mir passiert in den Unterstufenjahren, die etwas nicht Endendes haben. Von der nächtlichen Autofahrt an geschieht es regelmäßig, fast jede Woche – eher aber etwas weniger oft, als es die Erinnerung will, um mit der höheren Zahl möglichst viel erklären zu können. Kein Zweifel besteht nur daran, dass sich die Art und Weise ändert, der Ältere sich mehr und mehr nimmt und der Zwölf- und später Dreizehnjährige mehr und mehr gibt, jeden dehnbaren Muskel seines Körpers, und das an Orten, die ein Immermehr geradezu fordern, in den Herbst- und Winternächten im Kellerturnraum, über den hölzernen Sprungkasten gebeugt, und zur warmen Jahreszeit wieder im Schilfversteck, wo der Junge auch gleich das Rauchen lernt, sogar Kringel zu formen mit seinem Kussmund, während ein hinterherhinkendes Herz all die geflüsterten Wörter wie ein gefundenes Fressen aufnimmt.

Das Jahr nach der Rückfahrt ins Internat im Auto des Kantors, die Zeit vom Spätsommer über den Herbst und Winter und ein langes Frühjahr bis in den nächsten Sommer hinein, hatte in dem Übermaß an Erlebtem und dem Mangel an Sprache dazu eine Schwerkraft, die bis heute wirkt, die Bilder aus dieser Zeit verzerrt, sie krümmt wie nach Gesetzen einer intimen Physik. Gleich im September hatten die Chorproben wieder angefangen, schon im Hinblick auf die geplante Konzertreise durch Finnland in den nächsten Sommerferien. Noch waren es milde Tage, während der Abendprobe waren die Fenster im Musikraum auf, Vogelzwitschern mischte sich in den hellen Gesang, Die Himmel erzählen die Ehre Gottes; Bach musste es sein für die Finnen, eine Kantate zum Auftakt. Das milde Wetter hielt sich bis in den Oktober, morgens mit dichtem Nebel, der gegen Mittag aufriss, den glatten See und einen blauen Himmel freigab. Es roch süßlich nach Fallobst in diesen Tagen, gärend in der Herbstsonne, bis sie an Kraft verlor und all die Farben zu einem Graubraun wurden. In den Klassenräumen brannte jetzt vormittags Licht, im Pausenhof fror man, und in der Freizeit ging man nur aus Langeweile durch das Schilf an den See, der immer flacher wurde, mehr als einen Steinwurf weit seinen schlickigen Grund zeigte. Um vier Uhr am Nachmittag, wenn es schon dunkelte, begann das sogenannte Studium, zwei Stunden für die Hausaufgaben, still unter Aufsicht im Musikraum, und der mit dem Kussmund und hinterherhinkendem Herzen – wieder mit Nazifrisur, verpasst von Frisör Eisenbeiß unter den Augen einer Heimleiterin, die nichts durchgehen ließ – machte bei jeder Aufgabe seine ganz eigenen Fehler. Er rechnete auf seine Art falsch und schrieb englische Vokabeln nach ihrem Klang, er lernte Gedichte, wie sie ihm richtig erschienen und verfehlte beim Aufsatz das Thema. Und so war der Junge mit blankem Nacken nicht nur ein Schlamper, er war auch ein Spinner, und beides traf im Grunde zu – mein Denken war zerfranst, eben schlampig, dazu voller Träumereien. Jeder Gedanke war auch ein Spinnen, das Weben eines Netzes, das mich schützte.

Bis zehn nach sechs ging das Studium; um halb sieben gab es schon Abendbrot, und danach fing die Chorprobe an. Unvergessen: das Warten auf einen Blick von Herrn Gieser, sein stummes Wort an mich, Ich habe dich im Auge, auch wenn dein Nacken ausrasiert ist und die Ohren freistehen, nur dein Mund und die Stimme zählen, sieh mich an und sing! Aber die weiche Jungenstimme, vorgesehen wieder für eine alleinige, nur von ihr getragene Stelle, bekommt innerhalb von Wochen etwas frühzeitig Hartes, wie eine Antwort aus dem Hals auf alles andere zu früh mit dem Körper Geschehene – noch vor der Adventszeit war mein Singen kaum mehr als ein Bewegen der Lippen, ein pantomimischer Akt, und eines Novemberabends nach der Probe nahm mich der Kantor beiseite. Er griff mir ins wieder nachgewachsene Haar und sagte, ich sei für die hohen Töne schon zu entwickelt und für die tieferen noch zu jung, er zog mich an sich heran, Stirn an Stirn, und sprach von einem Moratorium, ein Wort mit dunklem Klang, das mir Angst machte. Und von da an hörte ich es nur im Treppenhaus, wenn die mit den reinen Stimmen probten, und machte Abend für Abend, dass ich von dort wegkam, auf die entlegenste Toilette im Keller. Dabei war es gar keine Verbannung aus der Kantorei, im Gegenteil, ich sollte sogar mit auf die Konzertreise und dafür ein paar Sätze Finnisch lernen, um an den Auftrittsorten mit meiner Klappe, wie es hieß, Werbung für die abendlichen Konzerte zu machen, nicht zu singen, sondern zu trommeln. Ihm zuliebe sollte ich mitfahren, sagte Herr Gieser nach einer Sportstunde im Kellerturnraum, er und ich allein am Kasten, zwei in brauner Trainingshose und weißem Unterhemd. Es war Januar, noch am Anfang der so lichtblicklosen Zeit bis Ostern, und unser Tun auf dem Kasten oder über den Kasten gebeugt – das Gedächtnis hat hier kahle Stellen – verhieß immerhin einen Sekundenlichtblick, den Blitzstrahl der Entleerung. Keine zehn Minuten waren das, in der Pause vor einer Freistunde und etwas darüber hinaus, die Turnraumtür von innen verschlossen, aber mit diesen Minuten im Januar gingen die Dinge zwischen einem von seinen Wünschen, seinem Verlangen Vor-sich-her-Getriebenen und dem Jungen an der Grenze zum Stimmbruch in ihre letzte Phase, über den Winter und das Frühjahr bis hinein in einen finnischen Sommer mit seinen so hellen falschen Nächten.

Die Begegnungen wurden immer hastiger, die Intervalle immer unberechenbarer. Zwei, drei Wochen konnten vergehen, ohne dass in der Sportstunde seine Hand etwas länger auf meiner lag als nötig, und um auf mich aufmerksam zu machen, lernte ich bereits zungenbrecherische Sätze für die Konzertreise. Die finnische Botschaft in Bonn hatte die werbenden Sätze zugeschickt, nach einer Vorlage des Heimleiters vom Gaienhofener Schloss, der die Reise begleiten sollte, ein früherer Marinemann, Herr der Mittelstufe und Internatsruder AG, mit dem ich dadurch vorzeitig in Berührung kam – er übergab die Sätze wie ein Geheimdokument, und der Junge aus der Unterstufe trug sie von da an mit sich herum und sprach sie vor sich hin, wenn der Kantor in seiner Nähe war. Noch war es ein Ablesen, noch saßen die Sätze nicht, aber es war auch das Erheben der Stimme, die nicht singen konnte, das Lockmittel des Jungen, bis er schließlich zu einem Gang an den noch winterflachen See geholt wurde, ein Nachmittag Ende Februar mit erster wärmender Sonne, die Gelegenheit, um zu zeigen, wie er etwa in Rovaniemi – bis an den Polarkreis sollte die Busreise gehen – finnische Passanten auf den deutschen Knabenchor und sein Abendkonzert hinweisen wollte. Er spielte die Szene, sagte den ganzen Spruch auf, manche Worte schon ohne abzulesen, und der Lohn oder die Anerkennung waren Minuten im Schilf, ehe die Zweifel, ob er es wert war, auch ohne Gesang umarmt zu werden, von vorn begannen, bis zu erneuten Minuten im Schilf, im Wald, im Turnraum, auch wieder im Auto, halb bekleidet oder entblößt, im März, im April, im Mai.

Die paar finnischen Sätze ohne Versprecher reichten nicht, um mich als liebenswert zu empfinden, auch nicht meine Siege im Tischtennis oder ein Weitsprung über fünf Meter. Es blieben nur die Träumereien von einer Größe, die über allem Liebenswerten stand: Ich sah mich am nahenden Tag der auch großen Worte, dem siebzehnten Juni, die flammende Schülerrede halten, wenn nach Anbruch der Dunkelheit auf dem Sportplatz ein Gedenkfeuer für den Volksaufstand in der Ostzone brannte und sich die Lehrer, die von drüben kamen, mit Freiheitsreden überboten. Und als Höhepunkt tritt ein knapp Dreizehnjähriger vor das Feuer, mit Worten, die durch den Eisernen Vorhang dringen. Aber als es so weit war, als das Gedenkfeuer am Nationalfeiertag brannte und ein Primaner die Rede hielt, stand ich nur da, zitternd vor innerer Spannung, meinem Wollen und Nichtkönnen, ein Zittern noch während des Deutschlandliedes am Ende der Feier, tonangebend die Kantorei, ihr Leiter mit wehendem Haar von den Hitzewellen aus den Flammen, und in mir nur noch der Wunsch, dass er mich vom Joch dieser Spannung befreite, wie die unglücklichen Menschen in der Ostzone vom Joch des Kommunismus befreit werden sollten.

Immer wieder war das Wort Joch in den flammenden Reden gefallen und stand am Ende für die Haut, aus der ich nicht fahren konnte, weder an dem Abend noch in den frühsommerlich warmen Tagen danach, auch nicht mit Hilfe des Kantors, seinen Händen, seiner Zunge, seinem Geflüster. Es gab keinen Weg aus der eigenen, überspannten Haut; ihr Gereiztes, Wundes, nach Reibung an einer anderen Haut Verlangendes blieb, und so suchte ich Zuflucht im Gegenteil, einem Tun ganz im Gehäuse meiner selbst. Ich verkrümelte mich, wie man sagt, und begann in einem Vokabelheft mit lateinischen Verben, eigentlich zu lernen samt ihren Zeiten für eine schriftliche Arbeit, mit der Geschichte eines lebensmüden Jungen. Er plant, von einem Turm zu springen, kann aber sein Vorhaben nicht geheim halten, und am fraglichen Tag drängen sich Schaulustige um den Turm; bald gibt es Würstchenbuden, Souvenirstände und eine Musikkapelle, und der Junge flieht in einen nahen Wald und weint dort, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Die eigene Verflüssigung ist sein Weg, aus der Haut zu fahren, ein Freitod ohne das Sterben. Aber ich dachte auch an wirkliche Flucht und schickte dem amerikanischen Onkel, dessen Name ich als Dank für seine Care-Pakete trage, eine Luftpostkarte nach Kissimmee, Florida, PO Box 411, darauf stand, dass ich zu ihm kommen wollte, ja schon so gut wie unterwegs sei. Und etwa zehn Tage später rief er, nach vielen Jahren ohne Kontakt zu seinem jüngeren Bruder, meinen Vater an, besorgt über die eingetroffene Karte und den Verbleib des Neffen, und der Vater rief noch am selben Tag im Internat an, damit man dort ein besonderes Auge auf mich habe. Dem Sohn aber, der zum verlorenen Sohn zu werden drohte, schrieb er zu dessen dreizehntem Geburtstag einen Brief, in dem stand, dass es für einen Jungen unmöglich sei, bis nach Amerika zu kommen, weil ein ganzer Ozean dazwischenliege. Also keine Flausen mehr, lieber auf die Sommerferien warten, auf die Finnlandreise – welcher Junge fährt denn schon bis zum Polarkreis? Damit endete der Brief.

Bis zu den Ferien waren es aber noch über zwei Wochen, und der einzige Trost war das Älterwerden: dass ich mich auf die Zahlen hinbewegte, die erst das Rauchen und später jeden Kinobesuch erlaubten. Das tröstliche Datum fiel auf einen heißen, mit Regen endenden Julitag; in der Nachmittagsfreizeit schien noch die Sonne, wir schwammen im See, die halbe Kantorei und ihr Leiter, und anschließend gab es im Schilf ein Geschenk. Er nannte es so, ein Geschenk, auch wenn es ein Nehmen war und kein Geben. Der Kantor nahm sich meine Haut, ihre ganze Gespanntheit, er nahm sich auch alles Bange in mir. Ich ging buchstäblich leer aus, fühlte mich aber erhoben und war bereit für ein tatsächliches Geschenk. Nach dem Abendbrot war es erlaubt, die Tische im Speiseraum für eine Geburtstagsfeier zur Seite zu rücken, und das Geschenk bestand darin, zur Musik vom internatseigenen Plattenspieler unter Aufsicht zu tanzen. Alle aus meinem Stockwerk waren eingeladen, dazu ein paar Mädchen aus dem Bella-Vista-Haus, die mit mir in der Klasse waren. So hopste und ringelreihte man umher, von der Erzieherin mit Ernte 23 zwischen den Fingern keinen Moment aus den Augen gelassen, und dennoch schwoll dem Geburtstagskind das Herz bei Hello Mary Lou und Blue Suede Shoes, bei Kiss Me Quick und Love Me Tender, Lieder wie Köder, nach denen er schnappte, samt den Haken darin. Sein Jungenkörper wand sich mehr zur Musik, als dass er sich drehte, und nur eine im Raum hatte das Auge dafür – denke ich heute –, wann dieses Sichwinden noch unbeholfenes Tanzen war und wann schon stummes Hilferufen. Sie hieß Karen und kam aus Freiburg und war erst seit Jahresanfang im Internat. Im Zug von Freiburg nach Radolfzell aber hat sie ihm, dem Mittänzer, daher schon gegenübergesessen, erzählt, dass sie eigentlich aus Schweden sei, und an dem Abend passt für sein Gefühl plötzlich alles zusammen: die blauen Augen und das blonde halblange Haar, der so weiche Mund und die Wangen. Sanft energisch führt sie ihn zu Schöner fremder Mann von Connie Francis in den Foxtrott ein, lenkt seine Schritte, seine Drehungen, es ist ihr Lied – der, der den Plattenspieler bedient, weiß, was die Mädchen wollen, weil alle hübscheren etwas von ihm wollen. Ganz lässig steht er da, um seinen aufgestellten Daumen sind die Single-Platten, und bevor er eine auflegt, drückt er das sternförmige Mittelstück in das Loch der Scheibe und zwinkert dabei, und natürlich ist es Laxmann mit der schnellen Faust, dem Rundschnitt und einem Sinn für Auftritte. Er zeigt dem Jubilar, wie es geht mit den Mädchen, fast durch Nichtstun. Ein Lächeln, ein Wippen, ein Verschränken der Hände im Nacken, ja das Hochziehen nur einer Braue genügt, und der Junge tut es ihm nach, wippt und lächelt und kräuselt die Stirn, damit Karen auch beim nächsten Lied mit ihm tanzt, die Schwedin aus Freiburg mit Adresse am feinen Schlossberg. Er hat im Klassenbuch nachgeschaut, Wintererstraße 35, in der Gegend wohnen nur welche, die auf andere herabsehen, das hat der Schlossberg so an sich. Und bei den Zugfahrten ins Internat ist sie auch immer erst im letzten Moment auf dem Bahnsteig erschienen, als würde der Zug auf sie warten, um dann für zweieinhalb Stunden dem, der gebangt hatte, ob sie den Zug überhaupt noch erreicht, gegenüberzusitzen, immer den Kopf in leicht schräger Haltung, damit ihr Haar eine kleine seitliche Unschönheit bedeckt, die eines zugewachsenen Ohres. Sie hat es ihm auf der Fahrt nach den kurzen Pfingstferien im Vertrauen gesagt, sogar ihr Haar für einen Moment zurückgestrichen, damit er es sehen konnte, der Moment, der genügte, um sich in einem späteren, dem genau richtigen Moment über beide Ohren zu verlieben, bei Schöner fremder Mann am Abend seines dreizehnten Geburtstags, ein Geschehen als Decke über jedem Denken.

Ein ins Unreine Verliebter – so, wie man anfangs ins Unreine schreibt – taumelte da, gedankenlos, bodenlos, durch die letzten Tage vor den großen Ferien und dem Start ins ferne Finnland zu der Konzertreise, durch immer heißere Sommertage mit Hitzefreistunden und überhaupt einer Aufweichung jeder Ordnung. Die eher Waghalsigen, Sportliche und Raucher, gingen nachts in den See, die eher Nervösen gingen in fremde Betten. Alle Verliebtheit in Karen, die Schwedin – sie sprach in der Klasse kaum ein Wort mit mir, als hätte es unseren Tanz nicht gegeben –, übertrug sich auf einen mit schönen Augen, schönem Mund und nur etwas Flaum, wo andere schon dunkles Gekräusel hatten, auf René. Wir rangen und umarmten einander, dem höherschlagenden Herzen so ausgeliefert wie dem Pochen zwischen den Beinen, als wäre dabei etwas Drittes im Spiel, das uns die Hand führt, eine Macht ausübt, der man sich beugt und die man bekämpft, beides zugleich: eine Macht wie der Keim einer Krankheit, den der Dreizehnjährige in sich trägt. Und am Wochenende vor den Ferien – die so argwöhnische, gern auch eine Unterhose gegen das Licht haltende Frau Guth auf einer Tagung, abwesend – gab es nachts kein Halten mehr. Nur noch die Verzagten lagen im eigenen Bett, alle übrigen suchten das Weite in der Nähe zu einem anderen unruhigen Körper, stillschweigend, linkisch, und doch verwegen, verwegen, ohne es zu wissen – undenkbar, je davon zu erzählen, so falsch und klein im einen Moment und so erfüllend richtig, übergroß, im nächsten erschien einem alles Geschehen in diesen Nachtstunden, im Grunde das Entdecken der Gegenseitigkeit, letztlich des Liebens. Erst viele Jahre später wurde einem der Beteiligten von damals klar – ich war längst erwachsen mit Steuernummer –, dass falsch und richtig, klein und groß, in diesen Stunden gar nichts gegolten hatten, weil es mythische Stunden waren. Es gab kein Maß für die Küsse und kein Maß für das Entgegenrecken des pochenden Prallen, auch kein Maß oder ermessendes Wort für die Laute, wenn der jäh erlösende Strahl warm die Handschale füllte, um sofort zu erkalten und einen Geruch auszusenden wie den, wenn es freitags Fisch gab und auf jedem Teller etwas zurückblieb, der Rest, der weder Fisch noch Fleisch war wie man selbst.

Der Junge im Stimmbruch ist in diesen Julinächten ein Verführer ohne Grenzen. Er umgarnt René, den Erwählten, in dessen Bett und liebkost ihn, bis der Liebkoste alle Macht über sich verliert, das ist das wahre Ziel; erst gilt es, die Bedenken zu zerstreuen, dann ihn mittun zu lassen, und schließlich mit ihm zu tun, was man will, bis er selbst nichts anderes mehr will. Er gibt sich hin, wie man sagt, aber es ist Unterwerfung, ein Sichfügen. Am Ende wirft er einen verlorenen Kopf hin und her und stöhnt in die eigene Faust, während er weißlich ins Bett macht – eine dreifache Wahrheit, die der Bewegung, der Laute und des Strahls, wie ein Geständnis aus drei stummen Worten, die wie eins sind: das stumme Ichliebedich, das der Verführer vom Verführten abliest, und für Augenblicke ist tatsächlich alles rein, das Fleischliche ist das Himmlische und umgekehrt. Es sind die Augenblicke für eine ganze Jugend in diesen Nächten, und am Ende der zweiten Nacht wird er selbst zum Erwählten, Unterworfenen. Er steht im Waschraum, in aller Frühe, über eins der Becken gebeugt, um Wasser zu trinken, als von hinten eine Hand um ihn greift, sich nimmt, was sich der Kantor genommen hat. Es ist die Hand, die er seit der ersten Minute im Internat kennt, imstande zuzuschlagen, dass einer umknickt, und die auch ganz anders kann, das weiß er seit der Geburtstagsfeier, wenn sie die Nadel eines Plattenarms genau auf die Rille setzt, mit der ein Lied auf seinen Höhepunkt zuläuft. Laxmann fand diese Rille, obwohl er hinter mir stand und nur schwaches Morgenlicht durch das geriffelte Waschraumfenster hereinfiel – ein Geschehen in der Erinnerung, das etwas über die darin Verwickelten so weit Hinausreichendes, Überliefertes hatte wie die Dinge in den Nächten davor, ja mehr noch: Als wäre es seit jeher Bestandteil eines allgemeinen Lebensromans, den man für sich annehmen kann oder ablehnen; am Inhalt ändert sich damit nichts.

Roman, epische Form in Prosa, die in großen Zusammenhängen Zeit und Gesellschaft widerspiegelt und das Schicksal einer Einzelpersönlichkeit oder einer Gruppe von Individuen in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt darstellt, so heißt es im Fremdwörterduden, den man heranzieht, wenn man bei etwas ganz sichergehen will und im eigenen Lebensroman vieles unklar ist, letztlich auch fremd. Mitten in der Nacht – der Nacht, die noch andauerte, eben erst in den Morgen mündend, mit einem so schwach bläulichen Licht über dem Meer wie dem in dem Waschraum – hatte ich das nachgesehen, und weil an Schlaf nicht mehr zu denken war, nach dem Roman gegriffen, der im Bett lag, Des Lebens Freude – mit Joy of Life nur provisorisch übersetzt, aber Mrs. Bennett kann ihn ja ohnehin nicht lesen. Ich las dagegen, während es hell wurde, die mir fehlende erste Hälfte, wie Ruth den noch verheirateten Erfolgsmann Forster näher kennenlernt, vor allem aber, wo – an dem See, den ich als meinen empfinde. Offenbar war die Autorin, ohne dass je sie davon erzählt hat, in jungen Jahren einmal dort.