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Noch bis in den Vormittag – einen weiteren strahlenden Oktobervormittag in Alassio – hielt das Staunen vom frühen Morgen an, als ich in dem Roman mit der alten handschriftlichen Widmung meiner Mutter für das Hotel Beau Sejour auf die Ortsnamen Riva und Torbole, Gardone und Fasano, San Vigilio und Malcesine gestoßen war, Orte, an denen die Heldin Ruth allein über den nächtlichen Gardasee schaut, sich weit entfernt von Frankfurt und ihrem bisherigen Leben fühlt, oder wo sie sich tagsüber am Ufer sonnt (Steinstufen führten von einer Felsplatte in den See, ich konnte stundenlang dort sitzen, vor mir die weite Wasserfläche in der Sonne), bis sie auf Forster trifft und nun mit ihm den See erlebt, wie vorher schon andere Liebende mit einem Sinn für Schönheit, von Catull bis D. H. Lawrence. Ruth und ihre Autorin vermischen sich in diesem Erleben zu ein und demselben Glück; aber Jahrzehnte später kann sich die, die den Roman als junge Frau geschrieben hat, an jenes Kapitel des eigenen Lebensromans nicht mehr erinnern.

Etwa acht Jahre vor ihrem Tod – meine Mutter konnte noch, gestützt auf einen Arm, recht gut gehen – hatte sie mitten im Sommer die Kühnheit, sich über die Alpen fahren zu lassen, um im Haus des Sohnes mit Seeblick ein paar Tage zu verbringen, und in diesen Tagen kam es auch zu einem Besuch von San Vigilio, wo Steinstufen von einer Felsplatte in den See führen. Wir gingen das Stück vom Parkplatz ans Wasser, einen Weg zwischen uralten Zypressen über die schmale Landzunge mit der schlichten Renaissancevilla an ihrer Seeseite, ein Gang auf auch uraltem Pflaster, abwärts, sie an meinen Arm geklammert, und als wir zu dem kleinen Hafen kamen, bis zu den Stufen gingen, die in den See führen, gab es bei ihr keine Spur des Wiedererkennens. Sie war so in einer Augenblicklichkeit gefangen, der Angst, sie könnte fallen oder auch nur die eine falsche Bewegung machen, bei der ihr eingesetztes Hüftgelenk mit schlimmstem Schmerz herausspringt, wie schon passiert, so von sich selbst überhäuft als älterer, sich auf schmalstem Grat bewegender Dame, dass ihr früheres Leben als junge Frau, der, die auf den Steinstufen gesessen hatte, wie ausgelöscht war – sie konnte sich gar nicht erinnern daran und folglich auch nichts davon erzählen, war außerstande, in diesem Abschnitt ihres eigenen Lebens etwas zu lesen; dafür konnte sie von der Schönheit des Ortes schwärmen, sozusagen ihre alten Romanstellen neu in die Luft schreiben. Was für ein traumhaft schönes Plätzchen, rief sie, als wir vor den Steinstufen standen. Der Sohn aber, voller Misstrauen, sobald etwas Schönes schön genannt wird, kam auf Pasolini, der den See mit ganz anderen Augen gesehen habe (in dem Film Salò oder die hundertzwanzig Tage), und sie wiederum kam auf Thomas Mann, auf dessen Kur in Riva gegen die Depression oder Erschöpfung. Sie zitierte ihn sogar, weil sie das entsprechende Tagebuch im Gepäck hatte, und der Sohn führte die belesene ältere Dame nicht ohne Stolz in das Café an dem kleinen Hafen, er sorgte für ein Kissen auf dem Stuhl und Schatten.

Meine Mutter war zeitlebens eine Leserin, sie hatte immer Bücher um sich, nur konnte sie an allem, was ihrer Idee von der Schönheit zuwiderlief, vorbeilesen. Sie nahm es auf, aber nicht wahr. Oft las sie ganze Tage in dem Appartement mit dem Flur vor der Tür, auf dem sie ihre Gänge machte, saß vollständig angezogen und mit ihrer perlgrauen haubenartigen Perücke in einem Ohrensessel, das Buch in beiden Händen. Solange sie noch las und auch Briefe schrieb, traf ich sie mit einem Buch an – zwischen den nicht häufigen Besuchen lagen oft mehrere umfangreiche Bücher, darin ihre Bleistiftunterstreichungen –, und jedes Mal schloss sie den Sohn in die aktuelle Lektüre mit ein, als wäre er eine der Figuren des Romans oder hätte daran mitgeschrieben oder könnte für das eigene Schreiben daraus lernen. Und bei einem der Besuche mit Übernachtung, der Abend ungewöhnlich warm für die schon bergige Gegend, las sie mir vor dem Essen auf ihrem Balkon – der Balkon nach langem Zerstreuen von Bedenken – ein Zitat aus den Erinnerungen von Chateaubriand vor, aus einem Brief der Herzogin von Duras an ihn, Mein früheres Leben ist so weit von meinem jetzigen entfernt, dass ich das Gefühl habe, Memoiren zu lesen. Sie hatte es auf ein Blatt ihres Briefpapiers geschrieben und überreichte mir das Blatt, als stammte das Zitat von ihr, dabei kam sie auf ihre alten Jahreseheberichte, die zwei Kladden in dem besonderen Schrankfach – die ich nicht anzunehmen bereit sei vor ihrem Tod. Sie habe erst kürzlich hineingesehen und den Eindruck gehabt, in den Erinnerungen einer anderen Frau zu lesen. Da standen Sachen, sagte sie, die ich völlig vergessen hatte, zum Glück. Und aus viel früheren Jahren, als ich dreizehn, vierzehn war, weiß ich noch alles.

Ein Abend im Juni, warm, aber nicht drückend, dazu windstill, und sie war mit ihren damals fünfundachtzig in einer so selten gelösten Stimmung, dass wir, trotz eines doch möglichen Windes, und allem, was sie sonst davon abhielt, den Balkon überhaupt zu betreten, dort unter freiem Himmel ein paar Kleinigkeiten aßen, die ich in dem nahen Laden besorgt hatte, und über frühe, unvergessene Jahre sprachen, ihre und meine, die der Pubertät – ein Wort, das ihr nicht gefiel, das ihr zu rüde klang, und der Sohn, auf seine Art auch gelöst, vom Weißwein angestimmt, stieß gleich in die Kerbe. Die erste Katastrophe seiner Pubertät, sagte er wie aus dem heiteren Abendhimmel über ihnen, sei damals auf der Finnlandkonzertreise passiert, bei der er nur als Werbetrommler mitgemacht habe, nicht als Sänger – ein Auftaktsatz, der mich selbst überrascht hatte, und während sich meine Mutter in eine Jacke helfen ließ, weil es für ihr Gefühl gar nicht anders sein konnte, als dass etwas Wind ging, kam mehr nach den Gesetzen der Konversation als aus Interesse die Frage, was das für eine Katastrophe gewesen sei – ein Wort, das sie theatralisch aussprach, mit Vergnügen an seinen Silben. Ich aber holte vorsorglich eine zweite Flasche Wein aus ihrem sonst leeren Kühlschrank und trank sie beim Erzählen der Katastrophe, ein Glas für jede Silbe.

Auf der Überfahrt von Stockholm nach Finnland, in einer Nacht auf dem Meer, in der es nicht dunkel wurde, kam heraus, dass ich nicht der Einzige war, den der Kantor beiseitenahm. Ich war nur einer von mehreren oder etlichen, mit denen er Geheimnisse hatte, und wollte ihn nach der Ankunft in Finnland töten, in einem See ertränken, und habe ihn stattdessen während der Reise angebetet, wenn ich abends in den Kirchenkonzerten neben dem Harmonium auf dem Boden saß, ganz nah beim Begleiter des Chors, mit den Augen bei seinen Händen, ihrem Spiel auf den Tasten. Nachts auf der Fähre hatte ich dagegen bei den Älteren aus der Kantorei gesessen, etwas abseits, als würde ich auf dem Deck schlafen, und gehört, wie sie über ihn geredet haben, dass er mit Jungs zusammen sei, obwohl er doch leicht die Frauen ins Bett bekäme, und es wurden auch Namen geflüstert. Ich hätte noch länger zuhören können, aber Herr Diesch, der Leiter vom Schlossheim, der die Reise begleitet hat, der legendäre Herbert Georg Diesch mit ewiger Pfeife und einem Siegelring, der das Siegel seiner Ohrfeigen mit dem Handrücken war, wollte mit mir die finnischen Sätze noch einmal in einer Art Generalprobe durchgehen. Ich sollte sie aus dem Effeff können – und kann sie nach fast sechzig Jahren immer noch fehlerfrei sagen, übersetzt heißen sie: Heute Abend tritt in der hiesigen Kirche um neunzehn Uhr ein deutscher Knabenchor mit geistlichen Liedern auf, der Eintritt kostet hundert Finnmark (damals eine D-Mark). Wir würden uns sehr freuen über Ihren Besuch und wünschen einen schönen Tag, Lobet den Herrn (kitos nyt herran). Diesch holte seinen Trommlerjungen, wie er ihn nannte, also für die Generalprobe von den Älteren weg, aber da hatte der schon genug gehört, zuletzt das Wort Homo, für ihn, seit der Quarta mit Latein, der Mensch; so aber, wie es in dieser hellen Nacht auf dem Meer in ihm nachklang, war es das schwache Fleisch, vor dem in jedem evangelischen Gottesdienst gewarnt wurde. Und auf dem hintersten Deck, wo die Probe stattfand, machte der Trommler plötzlich lauter Fehler, die Herr Diesch mit soldatischer Stimme so lange verbesserte, bis es dem Jungen, den er auch nur Jung’ nannte, gelang, die Rede wenigstens einmal fehlerfrei aufzusagen. Danach war er entlassen und suchte sich einen stillen Platz auf der Fähre, um zu rauchen – ich hatte mir vor der Reise ein Päckchen Roth-Händle gekauft, da war es noch die Liebeszigarette, in der Nacht auf dem Meer war es die Beruhigungszigarette zwischen Tauen und einem Rettungsboot. Die Nacht ging in den Tag über, ich war hellwach und müde zugleich, in einem Dämmer, der nach dem Verlassen der Fähre weiterging, über den ganzen Tag, an den es keine Erinnerung gibt, und bis in die ersten, auch noch hellen oder nur kaum dunklen Finnlandnächte an einem See, ganz von Wald umgeben. Wir zelteten zwischen den Bäumen – daran kann ich mich wieder erinnern –, und in der zweiten Nacht holte mich der Kantor aus dem Zelt, wir liefen zu einer Hütte am Seeufer. Der Waldrand spiegelte sich im Wasser, so hell war die Nacht, und ich fragte ihn, wie spät es sei, und er sagte, Zu spät, Schöner. Dabei wedelte er die Mücken weg, die es überall gab –, ein Wedeln vor seinem und meinem Gesicht, bevor wir in die Hütte gingen, die eine Sauna war, so heiß, dass man gleich alles auszog. Es roch nach Holz, nach Wald, und neben dem Ofen lagen Birkenzweige. Hier gibt es keine Mücken, sagte der Kantor, nur uns beide. Aber auf dieses Wort hin kam nicht das Übliche, sondern ein Ringen auf dem heißen Holz. Es war ein ungleicher Kampf, schnell lag der Schwächere auf dem Bauch und der Stärkere über ihm, er sprach mir ins Ohr, dass ich nicht glauben solle, was andere über ihn sagten. Folglich hatte er etwas mitbekommen von dem Gerede auf der Fähre, und was in der Saunahütte passierte, passierte schon in einer Art Panik. Bisher hatte ich immer sein Gesicht gesehen, wenn es auf ein Ende zulief, jetzt war da nur das Holz unter mir, und ich glaubte, er würde mich umbringen, den, der etwas wusste, das er nicht wissen sollte, ihn mit den Armen um seine Brust erdrücken. Ich bekam keine Luft, konnte mich aber, weil ihm der Halt an mir fehlte vor Schweiß, für Momente umdrehen und sah ihn weinen, wenn das ein Weinen war. Sein Gesicht war voller Tropfen, das Haar klebte ihm am Hals, es war nur ein Sekundenblick, dann hatte er wieder einen Zugriff gefunden, mich erneut auf den Bauch gedreht, Arme jetzt unter meinen Achseln, die Hände im ausrasierten Nacken gefaltet, als würde er beten. Polizeigriff hieß das, es gab kein Entkommen daraus, und er sagte, was auch andere, die stärker waren, beim Ringen sagten, Ergib dich, und das tat ich, damit er den Griff lockerte, das Ganze zum Abschluss käme, dem schon gewohnten. Er aber wollte ein ganz eigenes Ende, über mich gebeugt, jetzt eine Hand um meinen Bauch, die andere fahrig, wo wir uns am nächsten waren, vereinten, auch nur für Sekunden – so getilgt wie Raum und Zeit vor einem Unfall. Beides trat erst wieder in Kraft, als wir von der Saunahütte, noch glühend am ganzen Körper, in den waldumgebenen See gingen, etwas hinausschwammen und ich ihn unter Wasser drücken wollte, töten, das ebenfalls nur für Momente. Wir schwammen zurück, wir zogen uns an, und er rauchte noch eine Zigarette am See und beschwor mich, mit keinem über ihn zu reden; das war das letzte Mal, das wir zusammen waren. Auf der ganzen Finnlandreise hat er kaum ein Wort mit mir gesprochen, und nur einen Tag nach dem Schlusskonzert in Rovaniemi war er einfach verschwunden, angeblich mit dem Schnellzug heimgefahren wegen eines Todesfalls. Nach den Sommerferien aber hieß es, Herr Gieser sei in Südamerika, und ich stellte ihn mir dort vor, wie er mit anderen, echten Indianern auf dem Amazonas in einem schmalen Boot sitzt, wie sein langes Haar weht und wie er sich, eine Hand schützend vor dem Fahrtwind, eine Zigarette ansteckt, die Marke, die er dort inzwischen raucht, weil ihm seine Roth-Händle schon ausgegangen sind.

All das hatte ich nicht etwa bis ans Ende erzählt während des Abendessens mit meiner Mutter auf ihrem Balkon (dem letzten Essen dort), nur den Teil bis zur Ankunft in Finnland, und wir sprachen danach über den Roman, den sie gerade las oder wieder einmal las, Der Stechlin, während die Geschichte in mir weiterging, in Bildern, nicht in Worten, auch noch über unsere Stunde auf dem Balkon hinaus, als meine Mutter schon im Bett lag und Türen und Fenster fest zu waren wegen der Mücken, angeblich Tausender, wie es sie nur an dem See mit der Saunahütte gegeben hatte, aber davon wusste sie ja nichts. Wir sprachen also über Fontane, und bald kam sie vom alten Major von Stechlin, der Besuch von seinem Sohn erhält – schwer zu sagen, wie sie den Übergang fand –, zu ihren eigenen Dingen, der immer wehen Schulter, dem zu warmen Wetter, dem lieblosen Personal, dem ungenießbaren Essen. Sie klagte, und der einzige Anwesende konnte nur zuhören, bis sie zum Bad geführt werden wollte, also führte er sie zum Bad und war damit für eine Viertelstunde entlassen, genügend Zeit, um beim lieblosen Personal eine Zigarette zu erbitten. Es war ein Verlangen, als hätte der Besuchersohn nie aufgehört zu rauchen, und er lief zur Teeküche der Nachtdienstlerinnen. Dort saß eine, die er vom Sehen kannte, eine blondgesichtige Bulgarin, die sprach er an, bat um eine Zigarette und Feuer. Daraufhin ging sie mit ihm ins Freie und hielt ihm noch im Gehen ein angebrochenes Päckchen Marlboro hin, in der anderen Hand ein Feuerzeug. Er wollte es ihr abnehmen, doch sie war schneller, gab erst ihm und dann sich Feuer, zweimal einen Schimmer auf Wangen und Stirn. Ihr Name war Marina, das stand an ihrer Dienstbluse, und mit Marinas Marlboro in der Hand suchte er sich im Innenhof einen Platz zwischen Büschen für die Beruhigungszigarette. Es war ein Rauchen wie an Deck der Fähre über den Meerbusen nach Finnland, die Glut im Auge, den verblasenen Rauch, die Hand mit der Marlboro – so eingeteilt, dass danach ein langsamer Gang durchs Haus reichte, um das Appartement erst zu betreten, als die Bewohnerin wieder im Bett lag, ohne Perücke, dafür mit Handtuchturban.

Meine Muter griff nach einem kleinen gerahmten Foto auf dem Nachttisch, das ihren Vater als Major zu Pferd zeigt, sie hielt es mir hin: Wäre er nicht gefallen, dieser wunderbarste aller Väter, hätte er später ausgesehen wie du! Sie gab mir das Foto, damit ich es wieder an seinen Platz stellte, sie beschrieb die genaue Position, ich stellte es dorthin und sagte, er habe nicht lange genug gelebt, um sie enttäuschen zu können, ein Satz, den sie überhörte. Sie bat darum, ihr Wasserglas für die Nacht aufzufüllen, es aber ja nicht vollzumachen, nur etwas über halb voll. Und als das etwas über halb volle Glas stand, wo es stehen sollte, fragte ich sie nach der letzten Erinnerung an ihren Vater. Er hat mir noch eins seiner Gedichte in die Hand gelegt, sagte sie. Dann hat er mich auf die Stirn geküsst, ist in seinen Dienstwagen gestiegen und nach Polen gefahren. Dort wurde er in einem Landhaus erschossen, weil er an dem Tag einen Ausflug seiner Kameraden nicht mitgemacht hatte, um mir wieder ein Gedicht zu schreiben, ganz allein im Haus war, als die Partisanen kamen. Ist die Balkontür fest zu? Sie hatte immer noch Angst vor Mücken, sie hatte auch Angst vor der Nacht, vor dem Wachliegen, den eigenen Gedanken in endloser Schleife. Sie bat mich, ihr das Wasserglas an den Mund zu führen, obwohl sie es noch selbst gekonnt hätte, nur wollte sie bedient werden, bei jeder Gelegenheit, als wäre damit ihr Los insgesamt erleichtert, was ich für möglich hielt. Und nach dem Trinken, ohne die eigene Hand gebrauchen zu müssen, bot sie gleich ihren Mund für den Gutenachtkuss an, der letzte Akt an diesem warmen Juniabend, als da schon wieder das Verlangen nach einer Zigarette war, diesem Intervall, in dem die gewohnte Zeit stillzustehen scheint, nur noch die Zigarettenlänge gilt.

Rauchen. Wie nach der Flucht des Kantors, als es abends im Musikraum still war und statt Bangen und Hoffen, ob er mich beachte, eine Leere herrschte – das Wort Leere trifft es nicht ganz, weil ich noch erfüllt war von ihm, aber alles Erfüllte in der Luft hing –, gab mir das Rauchen ein Gefühl des Lebendigen. Es war vor allem das stumme Schauspiel um die Zigarette, weniger ihre Wirkung, die Pantomime, bei der ich mir selbst zusah, von der etwas Hilfreiches ausging. Und so war es auch an diesem Frühsommerabend, nachdem die Bulgarin Marina sogar ein frisches Päckchen Marlboro für mich oder sie oder uns beide geöffnet hatte. Sie wurde gerade an kein Bett gerufen, und wir rauchten im Innenhof, die Gelegenheit für eine Unterhaltung, die meiner Mutter helfen könnte – nicht jetzt, aber später, wenn sie nachts ohne Hilfe nicht mehr ins Bad käme und jemanden bräuchte, der verlässlich nach ihr sieht (was die Bulgarin später auch tun sollte, um schließlich die kleine goldene Uhr an sich zu nehmen, nicht der einzige Diebstahl, wie sich herausstellte). Ich fragte nach ihren Plänen, sie sagte, Reisen, vielleicht auch eine Strandbar führen, dort, wo es immer warm sei, in Thailand; sie machte lange Züge an der Zigarette, Kopf leicht im Nacken, die Haarspitzen auf dem Kragen der weißen Arbeitsbluse, das Gesicht im Schimmer der Glut von einer Augenblicksschönheit, wie man sie nachträglich, etwa für ein Phantombild, kaum beschreiben könnte; zum Niederknien. Und da erreichte sie doch ein Anruf, irgendwer verlangte dringend nach ihr – letztes aller lebenslangen Verlangen, auf die Toilette geführt zu werden –, und mit einem bekümmerten Blick ließ sie mir noch eine Marlboro da, samt dem Wegwerffeuerzeug, und ging nicht allzu eilig davon.

Ich rauchte die Zigarette im Gästezimmer, was nicht erlaubt war, ein verbotenes Rauchen wie das auf dem Klo neben dem Kellerturnraum, als es den Kantor nicht mehr gab, aber seine Roth-Händle noch. Es war mehr ein Missen als Vermissen in der ersten Zeit ohne ihn, viele Wochen schon nach den Dingen in der Hütte, und dort hatte es tatsächlich ein Niederknien gegeben, vor der Macht des Moments und dem Kantor, der mich mit den Birkenzweigen schlug, die vor dem Ofen lagen. Das war so Brauch in der finnischen Sauna, man schlug auf den schweißnassen Rücken des anderen, der vor einem kniete, und das Geschlage mit den Zweigen ging auf der Reise auch weiter, weil es an allen Auftrittsorten einen See mit Saunahütte gab. Nach jedem Konzert peitschte der Werbetrommler gleich zwei, drei der Sänger, um sich im Gegenzug von ihnen peitschen zu lassen, aber abgesehen hatte er es nur auf einen, so verlassen, so verraten wie er selbst – wir wussten, dass auch der andere ein Umarmter war, aber sprachen darüber nicht, als wir eines Nachts allein in einer Hütte saßen, die zur Ortskirche gehörte, mit niederer Decke und noch aufgeheizt vom Abend. Wir taten nur, was uns in Fleisch und Blut übergegangen war, am Ende mit Lauten, als würde man Dreck verspritzen. Das wiederholte sich, jedes Mal wortlos, jedes Mal wütender, und wir schliefen danach wie Tote in irgendwelchen Gemeinderäumen auf dem Boden, saßen aber am nächsten Tag wieder lebend im Bus, so ging es bis an den Polarkreis. Und überall tanzten die Mücken, und es roch nach Harz, und meine finnischen Sätze kamen weiter aus dem Effeff, und der Kantor gab seinen Einsatz in vollen Kirchen, während ich immer noch neben dem Harmonium saß, auf seine Hände sah. Nach dem Schlusskonzert in Lappland gab es zwei freie Tage, Tage wie in einem Halbschlaf, in denen Herr Gieser verschwand – ich erinnere mich nur an Rentiere, eine ganze Herde, an Latschenwald und die Mücken und Milch aus Eimern. Und vom Norden Finnlands ging es schließlich, ohne den Leiter der Kantorei, durch ganz Schweden und Dänemark wieder Richtung Heimat, in zehn Tagen und Nächten, die weder ganz dem Tag noch der Nacht angehörten, in den Fahrstunden wie festgenagelt auf einem Einzelsitz, eine Schläfe an der zitternden Scheibe, und nach all den Wochen in einer Kleidung wie eine zweite, schmutzstarre Haut. Der Bus fuhr nur bis Karlsruhe, zum Sitz der Evangelischen Landeskirche, wo Eltern schon neben ihren Mercedes warteten, und in einem brachte man mich zum Bahnhof, ohne dass man vorn im Wagen auf die Idee gekommen wäre, dass ich keine Mark mehr in der Tasche hatte; es reichte gerade noch für eine Bahnsteigkarte.

Und so steigt der Rückkehrer einfach in einen Personenzug mit qualmender Lokomotive, die ihn nach Hause bringen würde, zu seiner Hüterin, sogar mit Halt in Kirchzarten, versteckt sich dort aber auf der Toilette vom hintersten Wagen vor dem Schaffner; und alles, was sich in den Finnlandwochen unter der starren Kleidungsschicht und der eigenen Haut angestaut hat, droht in dieser Klozelle mit klappernder Tür, als der Zug Fahrt aufnimmt, aus ihm hervorzubrechen. Sein Körper hält nicht mehr dicht, die Augen tränen, und alles juckt, er muss plötzlich scheißen, dieses Wort treibt ihn wie das Klappern der Tür, obwohl sie verriegelt ist, und auch das milchglasige Fenster schließt nicht, ein Qualmgeruch zieht herein, die Strafe für den Fahrgast ohne Karte. Gerade noch bekommt er die Hosen herunter, die Knie und Arme zittern ihm, als er sich nach Tagen platzend entleert, ohne den schwärzlichen Klodeckel zu berühren. Es will gar nicht aufhören, und er sucht Halt am blechernen Waschbeckenrand, in dem kleinen Becken liegt die restliche Klorolle, aufgeweicht, wenigstens überhaupt Papier, kitos nyt herran, lobet den Herrn. Wie von selbst kommen seine finnischen Wörter und Sätze, auch sie entleeren sich, bis es vorbei ist, während Tür und Fenster immer noch klappern. Er zieht die Hosen hoch und tritt auf das Pedal am Boden, damit die Schlacken verschwinden, alles, was er mitgeschleppt hat von der Reise, samt den nassen Papierfetzen und Resten von Vorgängern in der leimfarbenen Schüssel; er bückt sich und sieht in das dunkle Rohr, das ins Freie führt, auf Schwellen und Schotter, die unter der Öffnung wegrasen, wie an Ostern in dem Zug nach Frankfurt auf der Toilette, so wegrasen, als würden sie ihm prasselnd ins Gesicht geschleudert. Alles ist lärmend, stinkend, höllisch, und er muss dagegenhalten, um nicht ins Rohr gesaugt zu werden, also macht er mit sich, was am Ende, für Sekunden, paradiesisch ist. Vorgebeugt steht er da mit offener Hose, sein Blick geht in die Schüssel, auf kleine Brocken, die am Rohrrand kleben, bis sie abrutschen und an der unteren Öffnung wie Blättchen zittern, ehe sie vom Luftstrom weggerissen werden, und etwas reißt auch ihn weg, irgendwo zwischen Karlsruhe und Freiburg auf freier Strecke, als die Dampflok vor dem Personenzug ihr Äußerstes gibt, mit stampfenden Kolben und Qualm bis zum hintersten Wagen, wo an der Klotür weiter in roten Buchstaben Besetzt steht.

Zwei lange Stunden dauerte die Zugfahrt ohne Karte, und es waren die Stunden der ersten Buchstaben eines ganz eigenen, vor aller Welt verborgenen Alphabets, als aus dem noch jungenhaften Wunsch nach Nähe, nach Reinheit, dem Wort, das nichts als guttut, der Hand, die nichts als Halt gibt, in der Zugtoilette die noch vage Idee von etwas Barbarischem wird, von Blicken wie dem in das Rohr, die man sucht, während alle anderen davor fliehen, von Aborten, die einen schützen, nicht nur vor dem Schaffner, der die Fahrkarte sehen will, vor jedem, der prüft, ob man berechtigt an einem Platz ist – ich fuhr unberechtigt Zug, ich hatte auch unberechtigt, ohne Stimme, die Kantoreireise mitgemacht, und ich war, mit Eltern ohne Mercedes, unberechtigt im Internat. Erst hinter Freiburg, als in dem Fensterspalt die Felder erschienen, durch die mein erster Schulweg geführt hatte, und der Zug vor Kirchzarten schon langsamer wurde, drehte ich den Türriegel herum.

Was sie noch interessieren würde, sagte meine Mutter, als ich am nächsten Morgen vor dem Abschied, und das hieß wieder, vor Erscheinen der Putzfrau, an ihrem Bett saß, bei mir schon die Reisetasche – was denn nun das Schlimme damals in Finnland gewesen sei, so erfüllt, wie ich später, bei ihr in Frankfurt in den Herbstferien, davon erzählt hätte. Sie bat mich, den schon halb zugezogenen Vorhang noch weiter zu schließen, weil bald die Sonne hereinscheine, und ich schloss ihn bis auf einen Spalt und sagte, das eigentlich Schlimme sei erst nach der Reise passiert, aber sie sprang schon wieder in die Gegenwart, fragte nach meinem Schlaf, meinem Frühstück, ob ich Herrn Abban beim Frühstück gegrüßt hätte, und die Geschichte blieb auf der Strecke, wie sie auch bei dem Frankfurtbesuch in den Herbstferien auf der Strecke geblieben war. Nach dem Finnlandsommer – das hätte der Internatsschüler seiner tagsüber berufstätigen und abends tippenden Mutter eigentlich erzählen sollen, als sie einmal essen waren und er nur von hölzernen Kirchen und einsamen Seen sprach – bekam das Internat einen neuen Leiter, Herrn Müller, immer in kurzärmligem Hemd, das seine muskulösen Arme zeigte. Ihm oblag es, Gerüchten um den angeblich nach Südamerika verschwundenen Kantor nachzugehen, darum verhörte er jeden, der ihm reizvoll erschien, Wann geschah was und wo, und was geschah da genau, auch a tergo? Konzentrier dich, Freundchen! Herr Müller, allgemein bald Müller-Schmier, hatte zu der Waffe seiner Arme noch die einer schneidenden Stimme. Und das Freundchen konnte nichts dazu sagen, nur war auch das Schweigen ein Eingeständnis, dass alles, was in lateinischen Wörtern im Raum stand, zutraf. Andere hätten mehr erzählt, rief Müller-Schmier, und um noch Beweise zu sichern, durchsuchte er den Schrank des Verdächtigen und stieß auf ein Foto der Mutter im aufgehaltenen Mantel mit Zigarette. Ausgesprochen schöne Frau – das waren seine Worte, und er stellte keine Fragen mehr, als wäre das Foto die Antwort auf alle Fragen.

Meine Mutter sah auf die kleine Uhr, die ihr noch drei Jahre bleiben sollte, es wurde Zeit für mich wegen der Putzfrau, und wir sagten, nach den Küssen auf Wangen und Mund, einander mehrmals, jede Silbe betonend, Auf Wiedersehen, die Formel gegen den Tod – auch schon gültig am Ende des Herbstferienbesuchs in Frankfurt, als eine Sechsunddreißigjährige ihren Dreizehnjährigen am Bahnsteig verabschiedet hatte, Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, mein Engel, sag es auch, sag auch auf Wiedersehen zu deiner Mutter, sag es.