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Schon bei erster Gelegenheit, während der Freistunden eines Sonntagsnachmittags im Dämmerlicht des späten Novembers, schoss ich in dem Wäldchen oberhalb des Sportplatzes, aus dem Dickicht heraus, das dem Kantor als Ort für eine schnelle Umarmung gedient hatte, auf eins der Mädchen aus der dritten Klasse, in der ich jetzt wieder war – ein Triumph für Frau Guth, auch erneut meine Erzieherin: die den ewigen Schlamper nun als Schulversager ansah und in das einzige Einbettzimmer auf ihrem Stock gesteckt hat. Das Mädchen, auf das ich schoss, hieß Eva Stahl und war etwas älter als die übrigen und wirkte umso älter, fast erwachsen, durch eine steife Hochfrisur und das Tragen eines langen, wippenden Mantels in der Freizeit. Ich zielte auf diesen Mantel, wie auch meine Mutter einen besaß (den Mantel auf dem Silvesterfoto), in der Annahme, die kleine Kugel würde in seinem Stoff an Kraft verlieren und höchstens einen Schrecken auslösen – letztlich ein Wink sein, wie sehr mir Eva Stahl mit ihrer Hochfrisur und ihren schon fraulich geformten, in jeder Turnstunde zur Schau gestellten Schenkeln durch den Kopf ging. Aber der Wind am Rande des Wäldchens hatte den Mantel im Moment des Abdrückens zur Seite geweht, und so ging der Schuss in die Wade, nicht tief, aber tief genug, um die Stahl aufschreien zu lassen und denen, die herbeieilten, die kleine blutende Wunde zu zeigen, auch mir, nachdem ich die Waffe schnell unter Laub begraben hatte. Sie saß im feuchten Gras, wie niedergeworfen von dem Schuss, der Mantel – ein schönes Stück, kamelhaarfarben mit großem Kragen – stand offen, das Bein mit der verletzten Wade lag frei, ihr Faltenrock war hochgerutscht bis zur Schenkelmitte, und der Junge, der geschossen hatte, nahm es sich heraus, um die seidenbestrumpfte Fessel zu greifen und mit einem Zipfel seines Unterhemds das Blut abzutupfen, ja das Loch im durchsichtigen Strumpf vom Loch im hellen Wadenfleisch zu trennen – ein Tun im Halbdunkel, vom Sportplatz die Rufe der Bolzenden, das Geräusch der Schuhe im Matsch, dazu das noch schnelle, angsterregte Atmen von Eva Stahl: die sich gefallen ließ, was ich tat, ja sich sogar etwas drehte, um mir mehr von ihrem Bein zu überlassen.
Es blieb bei diesem einen, letztlich ins Schwarze gegangenen Schuss, von dem keiner sagen konnte, woher er kam, nur dass es eine Luftgewehrkugel war, verfangen in Strumpf und Fleisch; der Schütze wurde nie ermittelt, man sprach sogar von einem entflohenen Häftling, und viele machten einen Bogen um das Wäldchen, als es abends immer früher dunkel wurde. Zu den Weihnachtsferien kam das Gewehr dann wieder, zerlegt im Kofferboden, in das Kinderzimmer im Rohbauanbau, das ich mit der Schwester teilte. Und in den Tagen nach Neujahr, als die Eltern nach dem Weihnachtsbesuch erneut in zwei Richtungen abgereist waren, vertraute ich ihr an, wer da aus dem Wäldchen heraus geschossen hatte, das Geheimnis war bei ihr gut aufgehoben. Noch mehr aber wurden wir zu Geschwistern, zu Hänsel und Gretel, auf der Rückfahrt ins Internat am unteren Bodensee, im Personenzug über den Schwarzwald, seine Hänge grauweiß unter tiefen Wolken, mit Halt an verlorenen Bahnhöfen (und ohne meine gewohnte Begleiterin bei diesen beklemmenden Rückfahrten, die Schwedin Karen aus Freiburg, die nach Umzug der Eltern mit Beginn des neuen Jahres eine Schule bei München besuchte). Nur wir beide, so schien es uns, waren in dem Zug, Bruder und Schwester, zwei, die in Wellen von Heizungsluft und kaltem Rauch am Fenster saßen, mal die schräge Bahn eines Tropfens an der Scheibe verfolgten, mal ins Weite sahen, auf eine Landschaft ohne Reim, mehr grau als weiß und leer, in einem Licht, das von nirgendwoher zu kommen schien, das keinen Ort hatte, wie die, die am Fenster hingen, nichts als zwei Elternlose, fern von allem Beschützten, Behausten – vielleicht hatte sich deshalb die Station Hausen vorm Wald so sehr eingeprägt. Nah war allein der Schatten, den das Internat vorauswarf, und mit jeder Station kam er näher, Engen, Singen, Radolfzell; Radolfzell, wo, wie gesagt, noch der Adventskranz im Bahnhof hing, hoffnungslos erloschen, auf dem Boden darunter bräunliche Nadeln. Und vor dem Bahnhof das Warten auf den Bus, das Aufstampfen gegen die kalten Füße, auch gegen die schier ewige Zeit bis Ostern. Zeit und Kälte gehörten zusammen, die ersten Wochen des Jahres waren eine gefrorene Zeit, oft tagelang in derselben, nicht mehr ganz astreinen langen Unterhose, in den schon sauren Socken und mit dem immer kühlen ausrasierten Nacken. Monate lagen vor uns, mit nichts als einem Kellerlicht in den Zimmern und Fluren des Marbach-Heims, mit nichts als Schule und Müdigkeit, dazwischen die Pausen, das Rempeln im schneematschigen Hof, der dampfende Atem zwischen den Wörtern für die Lahmen, die Stotterer, die Pickligen, die mit dicken Brillengläsern oder orthopädischem Schuh – Streuselkuchen, Glotzer, Klomann, Kretin, Namen, auf die die Betreffenden alsbald hörten, den Kopf hoben, nickten, bei Fuß kamen. Wochen waren es, die wir nicht zählten aus Angst vor der Zahl, mit nichts als Schule und Hausaufgaben, Keilereien im Hof und dem immer gleichen Essen, den immer gleichen Tischgebeten, Herr hab Dank für Speis und Trank, und immer flüsterte wer Scheiß und Trank. Nur die Zeit im Bett vor dem Einschlafen, die Minuten im Dunkeln unter der Decke, gehörten mir. Der einzige Lichtblick in dieser gefrorenen Zeit war der Wechsel von Frau Guth als Erzieherin ins Mädchenheim, damit allerdings, das trübte das Licht wieder ein, zuständig für meine Schwester – in der sie von Anfang an die Schwester des Schlampers sah, zu hübsch, um anständig zu bleiben (später sollte sie für deren Rauswurf sorgen, weil die Hübsche bei Cola, Musik und gedämpftem Licht Händchen gehalten hatte).
Ein Aushilfelehrer für Latein war von da an zuständiger Erzieher für mich, mit Blicken wie der Kantor, auch er ein Raucher und an allem jungenhaft Rumorenden interessiert, aber auf sprachlichem Umweg; er schloss meine Lateinlücken und sah sein Honorar darin, dass er dabei als Liebesberater wirken durfte. Nec timide promitte: trahunt promissa puellas! Und sei im Versprechen nicht ängstlich: Versprechungen ziehen Mädchen an! Fast im Handumdrehen brachte er mir Ovid nahe und glich auch noch mein Mathematikdefizit aus, so wurde die Schule in den letzten Wochen vor Ostern zur Nebensache. Ich hatte Zeit und begann damit, an Karen, die Schwedin, zu schreiben, jetzt in Gauting bei München, ihre zurückgebliebene Freundin hatte mir die Adresse gegeben. Während der täglichen Stunden für die Hausaufgaben unter Aufsicht schrieb ich hinter vorgehaltenem Schulbuch meinen ersten Liebesbrief voller Versprechungen, eine Arbeit in Fortsetzungen, an manchen Tagen kaum ein paar Zeilen, dann wieder eine ganze Seite, letztlich aber war alles nur eine Beweisführung, wie sehr es sich für die Empfängerin lohnen würde, den Briefschreiber zu lieben. Und nach der erneuten Versetzung in die Untertertia, dem erneuten Sprung in die Mittelstufe und damit zurück in das Schlossheim mit morgendlicher Marschmusik, schob ich den umfangreichen Brief, über Gebühr frankiert, am liliputanisch kleinen Postamt von Gaienhofen mit erheblichem Herzklopfen in den Schlitz.
Der erstarkte Untertertianer kommt in sein altes Zimmer im obersten Stock und trifft dort wieder auf Laxmann, nur ist jetzt einer mit im Zimmer, der schon auf der Finnlandreise dabei war und zu denen zählt, die dem Liebesbriefschreiber liegen, einer, der verbotene Bücher unter dem Bett hat, in Packpapier eingeschlagen, und Cello spielt, der etwas von Musik versteht und schon einiges von Liebesdingen weiß. Obwohl Asthmatiker, immer keuchend, ist er Kettenraucher, Marke Gauloises, schon morgens hustend und bleich, dazu auf souveräne Weise unsportlich. Durch ihn, den Musikliebhaber mit Morgenzigarette (ich verdanke ihm meine erste Klassikschallplatte, Dvořáks Cello-Konzert in h-Moll), wechselt der noch am Roth-Händle-Geschmack Hängende, der täglich auf einen Antwortbrief hofft, beim heimlichen Rauchen an der Spitze des Gaienhofener Landungsstegs zu den kleinen, dicken Künstlerzigaretten aus Paris, locker gestopft und mit scharfem Aroma. Vom Leser der verbotenen Bücher – Der Wendekreis des Krebses, Die Blechtrommel, Der gelüftete Vorhang – lernt er auch, eine Zeitung sorgfältig umzublättern und politische Ansichten zu vertreten, ja überhaupt Ansichten zu haben. Und eine der frühesten Ansichten des neuen Verbündeten – mein Brauereierbe war inzwischen auf einer seinen Neigungen entgegenkommenderen Schule – ist mir als solche erst später klar geworden: Nach Verschwinden des Kantors war von dem kaum Dreizehnjährigen mit Cello in breitem südbadischem Dialekt (den er auch als Berliner Neurologe nie abgelegt hat) eine Bemerkung gekommen, die legendär wurde: Mit dem Weggang von Herrn Gieser sei das Niveau im Internat gesunken.
Als Liebesbriefschreiber hatte ich dieses Wort aufgegriffen und von dem gesunkenen Niveau gesprochen, seit sie, Karen, nicht mehr in der Klasse sei, ihre Beiträge zum Deutschunterricht fehlten, auch ihr leichter Akzent, ihr irgendwie anderes, eben Schwedisches. Mit der Verbohrtheit des Schwärmenden, mehr an den eigenen Gefühlen interessiert als dem Objekt seiner Schwärmereien und dessen Gefühlen, schrieb der nun vom Geist der Gauloises Erfüllte inzwischen wöchentlich nach Gauting bei München, obwohl er noch immer keine Antwort auf seinen ersten langen Brief erhalten hatte. Wenn andere in der Freizeit an den See gingen oder einfach im Aufenthaltsraum herumsaßen und Musik hörten, alles, was das Jahr neunzehnhundertdreiundsechzig an Aufwühlendem mit sich brachte, was aus England kam und Herzen wie Köpfe verdrehte, saß er im Keller, rauchte und schrieb, war aber nicht allein. Der Schlosskeller reichte tief, es gab dort einen Tischtennisraum und weitere, noch tiefer gelegene Räume und auch eine Dunkelkammer, zu der sich kaum einer vorwagte – die Gruft von Laxmann, der schon immer fotografiert hatte und ganze Sammlungen besaß, von künstlerischen Fotos, wie er sie nannte, darauf Frauen und Männer, die in Tanz- oder Sportposen ihre Reize zur Schau stellten. Und zu diesen halb freizügigen Stimmungsbildern kam eines Tages eine Sammlung, die er in Hamburg gekauft haben wollte und dem Briefschreiber mit väterlichem Fuß in gleich zwei Hamburger Nachtlokalen, sofern das Ganze nicht ausgedacht war, aber wer weiß, in den Tiefen des Schlosskellers zeigte.
Es waren die ersten Pornofotos, die mir unter die Augen kamen, solche, die Seeleute auf ihren Reisen begleiten, handliche Fotos in Schwarzweiß mit allem, was den Matrosen nach Wochen ohne Landgang beschäftigt. Und es war, als hätte sich mir ein Tor geöffnet, zu einem Traumreich, das zugleich etwas Höllisches hatte, wie schon die Straßen in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofs. Ich erinnere mich an ein glühendes Schaudern, als das erste der Fotos in meiner Hand war, gehalten zwischen Daumen und Zeigefinger, um auch ja alles darauf im Schein der nackten Kellerbirne zu sehen – Mann und Frau auf einem Sofa, nackt und gleichsam seitenverkehrt, er mit dem Mund an ihrem Ballonhintern, sie mit dem Mund um sein behaartes Geschlecht, eigentlich eine kannibalistische Szene, zwei, die einander verschlingen, beide kräftig gebaut, mit runden Schultern, vollen Waden, die Fußsohlen der Frau sichtlich schmutzig – das Detail, das alle anderen in seinen Schlepp nahm. Pro Bild eine Mark, sagte Laxmann. Und wenn du fünf nimmst, dann gibt es das sechste umsonst.
Ich nahm nur eins, gleich das erste, und verwahrte es im Evangelischen Gesangbuch, das sich wiederum leicht in eine Jackentasche schieben ließ, bevor ich damit in der Nachmittagsfreizeit ins Schilf ging. Der Besitzer und Vertreiber der Fotos hatte zu äußerster Vorsicht geraten, und mindestens einmal am Tag murmelte er in meiner Nähe das Wort Diskretion, aus gutem Grund: Er verkaufte jedem, den er für vertrauenswürdig hielt, im Grunde aber nur für anfällig, eins oder mehrere der Fotos, und es dauerte keine zwei Wochen, da hatten die Bilder im Besitz von Vierzehn- bis Sechzehnjährigen im ganzen Schlossheim eine Art Treibhausklima erzeugt, noch weit vor dem Sommer die Temperatur angehoben. Die Luft in den Fluren war wie aufgeheizt von den Fotos, und es gab ein Schwirren und Schwärmen von Wörtern, besonders während des wöchentlichen Kulturfilmabends, wenn Herr Diesch den Vorführapparat bediente und es auf der Leinwand meistens ins Innere eines afrikanischen Landes ging, dorthin, wo die Frauen noch mit nackten Brüsten Tänze vollführten; dann schwirrten die Wörter und damit Teile der Fotos sprachmückenhaft von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr, und der alte Marinemann konnte sich ziemlich schnell einen Reim darauf machen. Sein Schlossheimschiff drohte auf Grund zu laufen, er musste mit allen Mitteln dagegensteuern, und so führte er gemeinsam mit Internatsleiter Müller (Müller-Schmier) und einem aus der DDR geflohenen Sportlehrer mit Gespür für Angstschweiß und verborgene Ecken auf einen Schlag Zimmerdurchsuchungen durch. Es gab keine Möglichkeit mehr, das, wonach gesucht wurde, noch zu vernichten; erst wenn die Durchsuchung begann, konnte man in Begleitung das Zimmer betreten, ich war so gut wie geliefert. Aber Laxmann, als Urheber des Ganzen ohnehin geliefert, ließ sich, Sekunden bevor das Durchsuchungstrio ans Werk ging, von mir das Foto geben, das in meinen Sachen entdeckt worden wäre, noch dazu im Gesangbuch versteckt, zündete es mit seinem Metallfeuerzeug hinter dem eigenen Rücken an und ließ es in der hohlen Hand, ohne eine Miene zu verziehen, in Flammen aufgehen, während der DDR-geschulte Lehrer schon das Kommando zum Umdrehen der Matratzen gab und damit anfing, Bücher auszuschütteln, allen voran Die Blechtrommel, die beim Cellisten zum Vorschein gekommen war. Keiner sagte ein Wort, alles nahm nur seinen Lauf, einschließlich des kleinen Feuers, von den drei Durchsuchern erst bemerkt, als Laxmann, und das mit einem Lächeln, seine verbrannte Hand hinhielt, die so schnelle rechte aus meiner ersten Internatsminute, darin die Asche des Fotos, das mich um ein Haar aus der gymnasialen Bahn geworfen hätte; er musste noch in derselben Woche den Koffer packen und mit ihm jeder, bei dem eins oder mehrere der Fotos entdeckt worden waren. Achtzehn Schüler fielen mit dem Consilium abeundi der evangelischen Inquisition zum Opfer.
Die kannibalistische Szene existierte jetzt nur noch in meinem Kopf, dort aber unauslöschlich, und erst etwas anderes Welteröffnendes, so schwarz auf weiß in meiner Hand wie das Foto, kam dagegen an: An einem der ersten warmen Tage erhielt ich endlich Antwort von meiner Schwedin, einen Brief von kaum einer halben Seite mit folgendem Inhalt: Sie habe alle meine Briefe erhalten und gelesen, müsse aber in Bayern so viel für die Schule tun, dass sie erst jetzt Zeit für eine Antwort finde. Danke für die interessanten Gedanken darin, obwohl ihr die meisten auch nach längerem Nachdenken nicht klar geworden seien. Wir könnten aber bald darüber reden, weil sie ihre Freundin aus dem Mädchenheim besuchen würde, wir könnten dann vielleicht am See spazieren gehen, wenn es nicht so viel regnet wie bei ihr in Gauting, mit Grüßen, Karen.
Dieser Besuch fand im Mai statt, und das Wetter spielte mit, es kam zu dem Spaziergang am See. Ich hatte einen Fotoapparat dabei, ein Weihnachtsgeschenk meines Vaters, noch immer für Zeiss in Stuttgart tätig, eine Kamera der Marke Contessa, bei der man Entfernung und Belichtungszeit einstellen konnte, und Höhepunkt des Nachmittagsspaziergangs war ein mit Selbstauslöser gemachtes Foto, das es mir erlaubte, innerhalb der zehn Sekunden bis zum Auslösen einen Arm um das Mädchen zu legen, in das ich seit den gemeinsamen Zugfahrten zwischen Freiburg und dem Bodensee verliebt war. Seit der kurzen Antwort auf meine langen Briefe aber erschien mir Karen als die, die mich vor dem bewahren könnte, was jenes eine verbrannte, nur im Kopf noch existierende Foto an immer weiteren Bildern hervorrief, ein Chaos wie dem in Träumen. Was mir vorschwebte, war ein Foto, das alle höllischen Bilder löschte, und entstehen sollte es mit Hilfe einer Mechanik, die mir eben jene zehn Sekunden vor dem Moment der Belichtung schenkte – die besten in diesem Frühjahr mit Ende vierzehn, weil ich nicht nur einen Arm um Karen legen konnte, sondern auch den Kopf zu ihr neigen, während wir beide in die Kamera sahen, zuvor auf geschichteten Steinen in Position gebracht, und so posierend in uns verharrten, als hätten wir um das Lebenslange dieses Augenblicks gewusst.
Der See ist noch flach nach dem Frühjahr, hinter uns sieht man das kieselig-schlickige Ufer und den glatten Unterseearm, auf der anderen Seite die Häuser von Steckborn, der schweizerische Hügelzug – ein für den Spaziergang von vornherein geplantes Foto, als Einleitung für einen Kuss, zu dem es nicht kam. Mein Vater hatte mir die Möglichkeiten der schon recht vielseitigen, aber etwas fotografisches Verständnis erfordernden Kamera genau erklärt und auch erwähnt, wie hilfreich der Selbstauslösermechanismus sein könnte, wenn ich etwa mit einem Mädchen unterwegs sei. Ich glaube, ihm lag daran, dass ein möglicherweise fehlgeleitetes geschlechtliches Leben – in Andeutungen höchstens war die Kantorgeschichte zu ihm gedrungen – alsbald in richtige Bahnen käme und damit überhaupt erst in Gang, wobei er immer wieder sagte, dass Wollen und Können in jungen Jahren leider auseinanderklafften (an seiner Seite war bald darauf eine neue, sehr viel jüngere Frau, die ich erst nach dem Abitur kennenlernen sollte).
Schon einen Tag nach dem Spaziergang war Karen wieder Richtung München aufgebrochen, und wenige Tage später war ich im Besitz des entwickelten Fotos. Es zeigt, wie der Junge nach dem greift oder zu greifen versucht, was er liebt und sich einverleiben will, wodurch sich beider Köpfe fast berühren, seiner zugeneigter als ihrer – eins der Indizien für den Liebesdruck. Ein anderes ist die Sonnenbrille, als könnten meine Augen diesen Druck verraten, sowie die schon ausgeprägte Falte der Verneinung zwischen den Brauen, obschon die Liebe doch eine Bejahung ist. Und ein weiteres Indiz ist die Jungenhand, die nahezu im Klammergriff um die Mädchenschulter liegt, während Karens Hände auf ihren Beinen ruhen. Nur von ihr geht etwas Entspanntes aus, so, wie sie lachend in die Kamera schaut, lachend über zwei Wangen, die ich gern gestreichelt hätte. Sie trägt enge Hosen und einen eher weiten Pullover, ich trage Jeans und ein Hemd, die obersten Knöpfe offen (es gibt eine Erinnerung an dieses Hemd, gekauft im Sporthaus Glockner in Freiburg, und auch an die Jeans aus dem Levis-Laden von Lisa Frömmel hinter dem Astoria-Kino). Einen Abzug des Fotos hatte ich nach Gauting geschickt, als Beigabe eines langen Briefes, der noch einmal die Notwendigkeit unserer Verbindung mit einer Art Liebesalgebra darlegte, und der knappe Dank für das Foto sowie ein weiterer Hinweis auf die schulischen Anforderungen in Bayern beendeten den Briefwechsel, der keiner war. Ich gab es auf, an Karen zu schreiben, nur das Schreiben an sich behielt ich bei. Statt weiterer Briefe entstand ein erstes Theaterstück. Der Mistkäfer und die Mathematik.
Ein stattlicher Mistkäfer, zu Hause im Garten einer Dichterin und in sie verliebt, glaubt, er könnte sie mit Mathematik beeindrucken und erobern. Er fliegt in Schulklassen, um sich etwas abzuschauen, schwirrt vor der Tafel herum und wird vom Lehrer vertrieben; er nimmt Nachhilfe bei einer Heuschrecke und scheitert schon am kleinen Einmaleins. Sie hält ihn für völlig unbegabt, schwärmt aber vom Glanz seiner Flügel, und da begreift er, dass er als Mistkäfer nur auf sein Äußeres setzen kann. Er lässt sich auf dem Schreibtisch der Dichterin nieder, und sie nimmt ihn alsbald bei sich auf, ja, sie widmet ihm sogar ein Gedicht. Ich sah das Stück schon auf allen Bühnen, ja sah meine Mutter in der Rolle der Dichterin. Sie las die sechzig handgeschriebenen Seiten, lachte immer wieder, aber war auch gerührt und zitierte das eine und andere, sie gab mir das Gefühl, dem Erfolg bereits nahe zu sein. Also machte ich eine Abschrift für das Theater, das mein Stück uraufführen sollte, schreckte nur im letzten Moment davor zurück, die zwei vollgeschriebenen Schulhefte an das Zürcher Schauspielhaus zu schicken, das Theater, das wir vom Internat aus monatlich besuchten.
Der inzwischen heimliche Dramatiker ist jetzt knappe fünfzehn. Seinen Geburtstag hat er mit Mutter und Großmutter in einem Landgasthof gefeiert, in einem neuen dunkelgrünlichen Jackett, etwa die Farbe der Käferflügel, zu dem er auch eine Fliege trug, die er mühsam vor dem Spiegel zu binden gelernt hat, eine Fliege, wie die Primaner aus besseren Familien sie trugen, dazu das endlich erlaubte Entenschwänzchen im Nacken. Er saß nach dem Geburtstagsessen mit übereinandergeschlagenen Beinen da, wie ein Foto zeigt, Zigarette in der einen Hand, seine Sonnenbrille in der anderen. Es war ein Wochenende in dem Landgasthof, er schlief im Zimmer der Mutter, und vor der Rückfahrt ins Internat beschenkte er sich noch selbst, weil ihm das neue Jackett, einige Bücher und ein Fünfzigmarkschein als unzureichend erschienen waren: Er nahm eine kleine Flasche Eau de Toilette der Mutter an sich, in das Glas fein eingraviert der Name Calèche, ein Verlust, der sich erst im Auto, bei einer Fahrpause, herausstellte und dem Zimmermädchen zur Last gelegt wurde. Und der, der die Flasche im Koffer hatte, freute sich im wahrsten Sinne diebisch, ein Gefühl, das schon am nächsten Tag umschlug – ich war mit dem Eau de Toilette ins Schilf gegangen, sein Duft sollte helfen, meine Schwedin zu vergessen, aber das Gegenteil trat ein. Ich wand mich vor Sehnsucht, ich wand mich auch vor Widerwillen, ja Verachtung gegenüber einem, der sich so sehnt, und noch vor Ende der Nachmittagsfreizeit ging ich in den Salon des Anton Eisenbeiß, der mit erloschener Zigarette im Mundwinkel den Südkurier las, und forderte ihn auf, mir eine Glatze zu rasieren. Eisenbeiß weigerte sich zunächst, der Ruf des Salons stand auf dem Spiel, aber der Internatsschüler blieb hartnäckig, er wollte einen Beleg für seine Selbstverachtung, und der Gaienhofener Frisör nannte schließlich einen Verlegenheitspreis für das Abrasieren aller Haare: Fünfzig Pfennig.
Ich höre noch, wie er es murmelt mit der erloschenen Zigarette im Mund, Fünfzig Pfennig, und sehe, wie er einen der weißen Kittel von Haken nimmt, mir Schultern und Brust bedeckt, ich fühle das Krepppapier, das er mir um den Hals legt, wie er damit einen Kragen bildet, ich höre das Sirren seines Haarschneidegeräts in Form und Größe eines Maulwurfs und spüre das Kitzeln, wo er ansetzt, und eine Kühle an der Kopfhaut, wo sie schon kahl ist. So wurde der Junge mit dem Eau de Toilette seiner Mutter in der Tasche zum frühen Skinhead, ohne das hilfreiche Wort dazu, auch ohne die Kleidung und das Umfeld anderer Glatzköpfe. Mein kahler Schädel war nicht das weithin sichtbare Zeichen von Auflehnung, es war das der Unterwerfung unter eine höhere Gewalt, bestenfalls einer Flucht nach vorn, hinein in den Sturm jugendlichen Verzweifeltseins, letztlich, mit dem Kopf voraus, in das alles erdrückende Liebessehnen, die höhere Gewalt der Gefühle. Das Geschorene, Kahle, leuchtend Blanke war das Zeichen einer unbekannten und womöglich gefährlichen Krankheit, mit der die Internatsleitung nicht umzugehen wusste. Eine Glatze fiel unter kein Verbot, war aber, durch die Aufmerksamkeit, die sie erregte, das ihr wesentliche Nackte, das alle Blicke anzog, auf keinen Fall gutzuheißen; folglich hatte ich allen öffentlichen Ereignissen wie Gottesdiensten und Theaterbesuchen oder auch den Filmabenden im Speisesaal fernzubleiben.
Und in den letzten Wochen vor den Sommerferien zog sich der Geächtete, anstatt im See zu baden, immer wieder in einen der kleinen schalldichten Musikübungsräume im Schulkeller zurück, um an dem Fläschchen mit der Aufschrift Calèche zu riechen und in einem verbotenen Buch zu lesen, eingeschlagen in Zeitungspapier. Das Buch war eine Dauerleihgabe des Cellisten mit dem Gauloiseshusten, Jean Genets Roman Querelle, dem der Neuleser vom ersten Satz an verfallen war – Mit der Vorstellung von Mord verbindet sich oft der Gedanke an Meer und Matrosen, Meer und Matrosen erscheinen dann nicht mit der Schärfe eines Abbilds, Mord lässt vielmehr unsere Erregung in Wogen verebben. Es war einer der Sätze, die mir den Vorhang in die Welt einer Sprache geöffnet haben, die weit mehr kann, als nur festzuhalten, was andere wissen sollten. Genet, der Dieb, der Verurteilte, der Insasse im Leben wie im Schreiben, dazu auch kahlköpfig, Genet, der Ausgestoßene und doch Erkannte, wurde mein Held, während die Haare bis zum Beginn der Ferien zu einem Sträflingsschnitt nachwuchsen. Ich blieb von allem Öffentlichen weiter ausgeschlossen, zum Glück waren schon Theaterferien; mich schmerzten nur die Filmabende im Speisesaal, auch mit Herrn Diesch als Vorführer. Ich versäumte High Noon, die Originalversion, ich versäumte Fahrraddiebe und Die zwölf Geschworenen, und an einem schwülen Abend waren es die Kinder des Olymp. Stattdessen ging ich an den See und traf dort eine, die den Film schon kannte und für kitschig hielt, eine Externe, die mir seit der Unterstufe Rätsel aufgab, Tochter eines bedeutenden Malers der Höri, Curth Georg Becker, im Kreis um Otto Dix, der noch täglich Spaziergänge zwischen Hemmenhofen und Gaienhofen machte und jedem, der ihm begegnete, mit mürrischer Miene zum Ausweichen und Mundhalten brachte. Auch die Malertochter hatte etwas Einschüchterndes, mit großen dunklen Augen und großem Mund, und doch erschien sie mir als die Richtige, um nach ein paar Worten über das Wetter – sie in der Hoffnung, dass es bei den bevorstehenden Bundesjugendspielen in Strömen regnete, der Blödsinn ins Wasser falle – ein Gespräch über Genet anzufangen, von den Kindern des Olymp weit entfernt. Beide wussten wir nicht recht, worüber wir da sprachen, und doch war es ein Gespräch, bei meinen Gauloises und ihren Gitanes, aus dem ich in dem Gefühl hervorging, etwas zu haben, das mich so stärkt wie mein Expander, nur eben an anderer, unsichtbarer Stelle, unter der Sträflingsfrisur.
Erst zum Sommerfest wurde der Bann aufgehoben, ich nahm an den Bundesjugendspielen teil, bei bestem Wetter, und durfte bei der Theateraufführung auf der Freilichtbühne vor dem Schloss sogar als zwielichtiger Hintergrundstatist in Goldonis Diener zweier Herren auftreten, das aber vor allen Schülern, Lehrern, Erziehern und Eltern, auch meinen, angereist, um mit den Kindern in den Urlaub zu fahren – den ersten nach ihrer Scheidung, von der wir weiterhin nichts wussten. Wir wussten nur oder glaubten daran, dass jeder eben an seinem Ort zu tun hatte und sie jetzt zusammengekommen waren, um mit uns zwei Wochen in einer Ferienwohnung am Lago Maggiore zu verbringen. Wie eine Woge trug uns die mütterliche Vorfreude aus der Internatsenge in eine Welt, die schon auf dem Weg zum Gotthard für meine Schwester und mich begann, hinten im väterlichen VW, so ewig weiterlaufend, wie es in der Werbung hieß – eine Weltvorfreude, wie ich sie noch heute am Beginn jeder Reise empfinde, letztlich noch immer in dem alten VW.
In allen Tonlagen, die sie für italienisch hält, spricht meine Mutter in Abständen Lago Maggiore vor sich hin, während der Mann am Steuer von Zeit zu Zeit auf die sich ändernde Architektur und Vegetation aufmerksam macht. Bruder und Schwester schweigen dagegen, eingeklemmt zwischen Gepäck, zwei, denen man nicht ansieht, woran sie denken – der heimliche Dramatiker unter anderem daran, wie er im nächsten Jahr auf der Freilichtbühne eine Hauptrolle spielt, am besten in einem eigenen Stück. Einmal fragt ihn die Mutter sogar, was eigentlich sein Mistkäferdrama mache, und der Vater zeigt auf einen Campanile, Jetzt konzentrieren wir uns mal lieber auf Italien! Ein Appell an Mutter und Sohn; die Tochter sieht ohnehin aus dem Fenster. Sie ist die Einzige, die alles sieht, alles aufnimmt, keinerlei Selbstschlieren vor Augen hat, auch wenn ihre Mutter lachend sagt: Wie sie träumt, unsere Kleine, das Näschen am Fenster. Herrgott, Italien, wir sind wieder da!