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Die camera dei libri mit ihrem Durcheinander aus hinterlassenen oder bei der Abreise vergessenen, vielleicht auch angeschafften, wohl aber nur selten von Autoren nachträglich zugeschickten Büchern mit Widmung für das Hotel (wie das meiner Mutter), kam erst heute, nach drei bewölkten Tagen, aus einem Schattendasein innerhalb des Hauses, schon in Konkurrenz des gut besuchten Fitnessraums. Mir waren von meinem Platz in der offenen Balkontür die freien Liegen am Strand aufgefallen, auch dass schon erste Liegen gestapelt wurden wie für einen Abtransport, und dass auf den genutzten Liegen gelesen wurde, tatsächlich in ein Buch gesehen und nicht in Illustrierten geblättert, eine Art Schlechtwetterbuch also, wie man es sich eher ausleiht als im Gepäck hat, weil man nur mit Sonne rechnet und ein mitgeführter komplizierter Roman den grauen Himmel am Ende noch heraufbeschwören könnte.

Das waren etwa die Gedanken oder Vermutungen im Laufe des Tages, und gegen Abend, nach dem Schreiben, dem letzten Wort für den Tag, lag es auf der Hand, wieder einmal in das Bücherzimmer zu gehen, und wie erwartet herrschte dort ein gewisses Leben. Einzelne Gäste, nicht nur weibliche, streiften still an den gefüllten Regalen entlang, zogen hier und da ein Buch hervor und schlugen die erste Seite auf, suchten den idealen Abstand zwischen Augen und Schrift und lasen ein paar Zeilen; fiel das Urteil zugunsten des Anfangs aus, nahmen sie in einem der Sessel Platz, doch nur auf der Kante, um der ganzen Seite eine Chance zu geben, und setzten sie danach Hoffnung in das gesamte Buch, verließen sie den Raum mit der Lesebeute für den nächsten bewölkten Tag. Offenbar ist es unter den Stammgästen – noch eine Vermutung: dass nur Stammgäste des Beau Sejour von der Büchersammlung Gebrauch machen – nicht üblich oder nicht verbreitet, einen in der camera dei libri entdeckten Roman auch dort zu lesen, obwohl der Raum zum Lesen einlädt. Und so war es, als ich nach längerem Blättern in einem alten bebilderten Reiseführer der Riviera dei Fiori wieder in den Raum sah, umso erstaunlicher, in einem der Sessel, die schon meiner Mutter gedient haben könnten, Mrs. Bennett in ein Buch vertieft zu sehen, die nackten Füße auf einem zweiten, herangerückten Sessel, von den Füßen aufwärts aber häuslich bequem gekleidet, Leggins und Sweatshirt, neben sich einen Drink, alles in allem eine auf gemächliches Lesen angelegte Situation.

Sie las Twilight in Italy von D. H. Lawrence, eins der mir liebsten Bücher zu Italien, seiner Landschaft im Norden, dort, wo sie erstmals an das Südliche stößt, und der Menschen auf dieser Klima- und Kulturnaht – vor gut hundert Jahren, aber manches davon findet sich noch am Gardasee –, und ich fragte leise, ob sie das Buch hier entdeckt habe, was sie, ebenfalls leise, so leise, als würden noch andere in anderen Sesseln lesen, bejahte und mich dann über den Rand einer zu ihrer bequemen Kleidung passenden Lesebrille ansah. Offenbar wollte sie noch etwas sagen und schien über die richtigen Worte nachzudenken, oder wollte es nicht sagen, solange noch zwei weitere Gäste anwesend waren, ein älteres Paar, das sich flüsternd über das eventuell Lesenswerte austauschte, aber sich auch anschickte, mit je einem Buch in der Hand den Raum zu verlassen, und als das geschehen war, schob sich Mrs. Bennett die Lesebrille in ihr so blondes, eigentlich graues Haar. Das Buch über meine Eltern, die sich hier im Hotel geliebt hätten, sagte sie, wie es vorangehe damit – will you finish it here, in my room with a sea view? Sie musterte mich jetzt, als wäre Schreiben eine Sportart, und der Körper, seine Haltung, die Spannung in jedem Teil, könnte ihr schon mitteilen, ob ich imstande wäre, dieses Match zu gewinnen, und ich korrigierte sie nur. Noch geliebt, sagte ich, sie hätten sich hier gerade noch geliebt, das sei der Grund für mein Hiersein, ihre wenigen, aber existenziellen Tage und Nächte in dem Zimmer mit Meerblick, und die Amerikanerin sagte, das höre sich schwierig an, ziemlich schwierig, so good luck! Sie winkte mir zu, als würde sie jemanden verabschieden, der zu einer Reise ins Ungewisse aufbricht, mit dem Zug eine Nachtfahrt an die Front des Gewesenen antritt, bleich am Abteilfenster steht, und ich tat ihr den Gefallen dieses Aufbruchs mit einem kurzen, gleichsam tapferen Zurückwinken und dem Verlassen der camera dei libri.

Ich lief an den Strand hinunter, zwischen den eingeklappten Liegen hindurch bis zu den Ausläufern der Wellen, ich zog die Schuhe aus und ging ein Stück durchs Wasser, wie ein Abwaschen oder Wegspülen der ganzen kleinen, nur durch ein einziges Wort bestimmten Szene mit Mrs. Bennett, obwohl es logisch war, woher das Wort existenziell plötzlich kam – auch damals, mit fünfzehn im Internat, hatte nicht viel dazugehört, damit es locker auf der Zunge saß, zwei Namen wie Fanale reichten, um bei jeder Gelegenheit vom Existenziellen zu reden, sogar vom Existenziellen vorn am Gaienhofener Landungssteg, wenn wir dort rauchten, während sich mittags der Oktobernebel hob und die letzte warme Sonne auf Camus’ Der Fremde fiel, auf Heute ist Mama gestorben.

Aber erst auf der Zugfahrt in die Herbstferien, wie versprochen für einige Tage nach Frankfurt, konnte ich endlich mehr als nur den Anfang lesen; der Freund mit der verlorenen Musik hatte mir das Buch, vorher wie ein Brevier ständig mit sich herumgetragen, für eine Woche geliehen. Und so las ich Der Fremde in dem vollen Zug auf einem Notsitz im Gang nahezu atemlos bis zu der Stelle, an der Meursault den Araber erschießt, ohne sich etwas dabei zu denken, wie er sich auch nichts gedacht hatte, als er nach dem Tod seiner Mutter in eine Filmkomödie mit Fernandel ging. Nur war er andererseits auch jemand, der nachdachte, der Autor seiner eigenen Geschichte, irgendetwas konnte also nicht stimmen, darin lag der Sog des Romans, den ich dann auch, um es dem Freund gleichzutun, ständig mit mir herumtrug, auf den Gängen zwischen der mütterlichen Wohnung in der Savignystraße und der Agentur, für die sie tätig war, in der Stadtmitte nahe der Hauptwache. Ich las den Rest in kleinen Schritten, zwei, drei Seiten auf der Bank einer Straßenbahnstation oder im langsamen Gehen, dann wieder einen Abschnitt in einem Café; und im Gehen hielt ich das Buch nach Priesterart in der Hand.

Ein Foto aus diesen Frankfurttagen im Oktober dreiundsechzig – schwarzweiß, Ansichtskartenformat, aufgenommen von einem, der, mit Kamera um den Hals, Passanten ansprach, ob sie vielleicht ein Foto von sich wollten für fünf Mark – zeigt den Internatsschüler als jungen, auf der Kaiserstraße flanierenden Herrn: enge Hose mit Bügelfalte, Jackett und Schlips, Brille und Scheitel bei immer noch kurzem Haar (Kleidung und Frisur heutiger Jungbanker), und in der Hand ein Buch, bei genauem Hinsehen Camus’ Der Fremde. Und der da auf dem Foto längs der Kaiserstraße auf dem breiten Bürgersteig Richtung Hauptbahnhof geht – in die Gegend, in der er schon ein Jahr zuvor wie unter Zwang umhergestreift ist – hat nichts von einem Fünfzehnjährigen; er erscheint darauf wie siebzehn, ja achtzehn. Das Bild zeigt eine Maskerade, einschließlich des Buchs in der Hand, und es hält einen der letzten Momente von Gesammeltsein an diesem frühen Nachmittag fest, eines Flanierens auf schon schiefer Bahn. Ich ging in eins der dortigen Kinos, die man nur betreten durfte, wenn man achtzehn war, und die ausschließlich Männer betraten, Einzelgänger in Mänteln mit Aktentasche, dem Modell, in das noch eine Thermosflasche passte. Erst war es ein Herumdrücken vor dem Kino, ein Beobachten der Besucher, die mit gesenktem Kopf vor der Kasse standen, schließlich das Lösen der Eintrittskarte dank einer schon tiefen Stimme. Der angekündigte Film lief bereits, und bald war klar, dass er weder Anfang noch Ende hatte, sondern die Zuschauer an jeder Stelle mitnahm, mich geradezu fortriss – aus dem einen verbrannten Foto, das der junge Kinobesucher noch vor Augen hat, der starren kannibalischen Szene zwischen Mann und Frau auf dem Sofa, werden auf einmal große bewegte Körper, zu sehen aber nur in Teilen, als dunkler Haarbusch um das noch Dunklere dahinter, als zum Schrei geöffneter Mund und zitternder Schenkel, als verkrallte Hand mit langen Nägeln. An sein Buch geklammert (sozusagen an den Fremden, mir schützend vor die Brust gehalten) sitzt der Jüngste im Saal in einer hinteren Reihe, kaum imstande zu atmen, und es dauert etwas, bis er den einzigen anderen in derselben Sitzreihe wahrnimmt: einen Mann, der seinen Mantel geöffnet hat und im Schoß Bewegungen macht, als wollte er mit einem Stöckchen ein Feuer entfachen. Die Bilder auf der Leinwand und diese Bewegungen sind wie eins, eine nahende übermächtige Welle, und der Junge flüchtet aus dem Kino, eine Flucht mit leeren Taschen; erst das Straßenfoto, dann die Kinokarte, keine Mark mehr ist ihm geblieben. Er flüchtet in die Innenstadt, zur Sandhofpassage, wo die Agentur Laux das ganze oberste Stockwerk einnimmt und seine Mutter ihr Büro hat, die Texte für sogenannte Tonbildschauen zu den Produkten großer Firmen erstellt und mit ihrem Charme auch neue Aufträge an Land zieht. Der Sohn besucht sie nach dem Kinoschock, er erzählt, dass ihm im Hauptbahnhof, wo er nach Verbindungen für die Rückfahrt an den Bodensee gefragt habe, das Portemonnaie (das ich gar nicht besaß) gestohlen worden sei, mit seinem letzten Geld, dreißig Mark, und sie spricht von Gesindel im Bahnhof und rundherum, von all den Huren und Hürchen dort, sie erwähnt sogar die legendäre Nitribitt (zu der Zeit längst tot) und ersetzt aus einem wahrhaft mütterlichen Impuls dem Sohn die dreißig Mark, damit sollte er sich morgen einen richtig schönen Nachmittag machen. Geh erst in ein Café, danach ins Kino, das waren ihre Worte. Und heute, sagte sie noch und führte mich dabei ins Nebenbüro, werden wir auch einen richtig schönen Abend haben! Der einleitende Satz, um mir den neuen Menschen an ihrer Seite vorzustellen, einen trotz aller Falten oder gerade mit seinen Falten gut aussehenden, schon etwas älteren Mann – letztlich der Mann ihres Lebens, der, der sie am bedingungslosesten liebte und neben dem sie so bei sich war wie neben keinem anderen.

So lernte ich Kurt kennen, genannt Das Kurtchen, damals Ende fünfzig, Texter bei der Firma Laux und Kettenraucher, verheiratet mit einer trinkenden Ex-Tänzerin, mit der er sich eine Sozialwohnung teilte und die er am Leben hielt, weshalb er immer knapp bei Kasse war, mir aber gleich, als wir kurz allein waren, ein Fünfmarkstück zusteckte und bei einer Zigarette erzählte, wie es hinter den Fassaden der Bahnhofsgegend zuging, in den Künstlergarderoben der Stripteaselokale, wenn dort morgens um vier jeder Glitzer abfalle, in den Stricherecken, wenn die nicht mehr taufrischen Freier auftauchten, die mit Ehefrau und Titel. Kurt hatte ein Gespür für alles Abgründige, auch Gespür für jedes Erfasstsein davon; ihm war – ich erfuhr es nach und nach in den zwölf Jahren bis zu seinem Tod – nichts Menschliches fremd. Während des Krieges hatte er als Pressemann und Betreuer von Stars bei der Ufa gearbeitet, Kokainsüchtigen und sonst wie Abgestürzten die passenden Worte in den Mund gelegt; er war vom Fronteinsatz befreit, ein von Goebbels Geschützter, bis er sich freiwillig meldete und eine schwere Verletzung davontrug, aber anders als mein Vater mit allen Gliedmaßen zurückkam. Kurt war ein Lebensgebeutelter und liebte meine Mutter mit ihren sämtlichen Schwächen, während sie in ihm den Gentleman auf dünnem Eis liebte. Und so war er von ihren fünf tragischen Lieben – dem Vater, der fiel, als sie vierzehn war, dem Verlobten, der fiel, als sie neunzehn war, meinem Vater, der sie nach fünfzehn Jahren verließ, und ihrem späten zweiten Ehemann, der geistig zu schwinden anfing, als sie Mitte siebzig war – die einzige heilsame, ihr Herz öffnende. Sie liebte Kurts Feinheit, denn er konnte selbst auf feine Art ferklig sein, auch seinen Humor in jeder Lage und das Abgründige in ihm, zu dem er eine Sprache besaß, an die sie sich anlehnen konnte – und die auch mir half, vom ersten Tag an. Der richtig schöne Abend, den meine Mutter in Aussicht gestellt hatte, war ein Abend in einer Apfelweinwirtschaft, im Gemalten Haus, und ausgerechnet an diesem geselligen Ort fand das Geschehen aus dem Bahnhofsviertelkino vom frühen Nachmittag noch eine Steigerung, später nur aufgefangen durch die passenden Worte von Kurt.

Der Internatsschüler sitzt seiner Mutter und ihrem Lebensgefährten in der Enge auf den langen Holzbänken gegenüber; sie trinken, was alle trinken, und essen, was die meisten essen, Rippchen mit Kraut, und wie auf der Kaiserstraße taucht ein Fotograf auf, einer mit Blick für Paare, die den Moment zur Ewigkeit machen wollen. Er fotografiert die schöne Frau und den zwanzig Jahre Älteren an ihrer Seite, nicht aber den Sohn, dem gezeigt wird, wie man zu schauen hat, wenn der Moment für die Ewigkeit sein soll. Und nicht einmal erahnen lässt dieses Foto heute, was dem Internatsschüler da – man sieht nur seine rechte Schulter von hinten –, gleichsam im Windschatten des Hochhergehens im Gemalten Haus und der ganzen Aufmerksamkeit seiner Mutter für den Mann mit dem Blitzlicht, von einem Banknachbarn unter dem Tisch gezeigt wurde: Als er noch ganz klein gewesen sei, ein Baby, habe man ihn auch einmal fotografiert, sagte der Bein an Bein Sitzende und hielt den Beweis halb unter dem Tisch in der hohlen Hand, darauf zu sehen ein nackter Säugling mit schwarzer Schambehaarung und gewaltiger Erektion – ein Montagetrick, aber das begriff ich in dem Augenblick nicht. Es war, als hielte mir der Banknachbar einen Spiegel vor und sagte: Sieh gut hin, das bist eigentlich du, der an seinem Steifen zappelt, ein Unkind.

Meine Mutter stand noch im Banne des Fotografen, ohne ein Auge für mich, nur Kurt bemerkte etwas vom Schrecken des Sohnes seiner Geliebten, als der mit dem Trickbild schon verschwunden war. Er schlug mir vor, kurz an die Luft zu gehen, er kroch dafür sogar unter dem Tisch hindurch – nicht ganz einfach, wenn man das Gemalte Haus kennt –, und wir gingen ins Freie, er bot mir eine Zigarette an und wurde auf seine feine Art ein Verbündeter. Ich musste gar nicht ins Detail gehen, nur sagen, dass mir jemand ein Foto gezeigt habe, und Kurt erzählte von einer Clique bei der Ufa, älteren Schauspielern, die er nachts aus Berliner Schwulenbars geholt habe, damit sie am nächsten Tag die Fasson hätten, um Goebbels am Set zu begegnen. Seine Sprache, mehr als die einzelnen Worte, sein Ton machte mir klar, wie sehr er auf der Seite dieser Verlorenen stand, so nannte er sie, und dass solche Fotos ein Teil dieser Verlorenheit seien, ein Stück der Nacht in jedem, das sagte er, in jedem, der sich dem Daseinsrisiko nicht verschließt – Worte, die mir in Erinnerung sind, auch wenn sie sich mit den Gedanken mischen, die man gern für die eigenen hält –, dem Risiko, zu begehren, was einem nicht gehört, oder selbst begehrt zu werden, ob es einem gefällt oder nicht. Und obwohl fast ein Menschenleben zwischen uns lag, gab er mir vor dem Gemalten Haus das Gefühl, dass der Platz, an dem man ganz bei sich und zugleich bei allen anderen ist, sogar der Sitzplatz auf der Bank einer Apfelweinwirtschaft sein kann. Wir kehrten an unseren Tisch zurück, wir stießen auf die Gemütlichkeit an und leerten den letzten Bembel, die Rechnung, mit Bleistift geschrieben, ging durch zwei. Und zu dritt saßen wir dann im VW meiner Mutter, sie fuhr ihr Kurtchen noch in den Kettelerallee im Frankfurter Ostend, und beim Abschied drückte er noch ein Fünfmarkstück in meine Hand, damit es eine schöne gerade Zahl nach dem unschönen Foto würde, das sagte er mir ins Ohr. Dann ging er mit gespieltem Schwung auf den trostlosen Häuserblock zu, um seine trinkende Frau ins Bett zu bringen, und Mutter und Sohn fuhren ins Westend, in die Savignystraße. In ihrer kleinen Wohnung gab es noch einen Whisky für jeden, das fand sie schick, und so endete ein schwerwiegender, aber auch ertragreicher Tag – ich hatte jetzt, mit den erschwindelten dreißig Mark und den zwei Fünferstücken vierzig Mark in der Tasche, und die wollte ich gleich am nächsten Tag für ein Buch und den Kinobesuch ausgeben.

Whisky: Nach einem irischen Redbreast an der kleinen Hotelbar – Tribut an meine Eltern, die dort einst saßen, es dem englischen Paar gleichtaten – bin ich mit einem zweiten Glas im Zimmer, erstmals vor dem Fernseher mit einer Unzahl von Sendern, auch deutschen, die sich vom Bett aus auf den Schirm holen lassen, eine Ablenkung vom Regen, der seit dem Nachmittag fällt; morgen soll damit wieder Schluss sein, noch eine ganze wolkenlose Woche ist in Aussicht, angeblich die letzte vor dem ersten Herbststurm. Deutsches Fernsehen also, die Nachrichten im Zweiten Programm, und wenn ich an meine Eltern denke, damals hier im Zimmer nicht einmal mit Radio (ohne etwa zu erfahren, dass Elvis um die Zeit als GI in Bad Nauheim angekommen war), hätte sie bei einem Blick in meine Gegenwart das bis in die Haarspitzen scharfe Spektakel auf dem Schirm völlig aus der Fassung gebracht. Die Nachrichten wären ihnen entgangen, sie hätten wie Kinder auf die Bilder gestarrt, die das Interesse am Weltgeschehen nur dann nicht erdrücken, wenn man den Anblick gewohnt ist, sich auch nicht wundert, wenn die Ankerfrau der Sendung, was das Spektakel noch erhöht, plötzlich ihren Platz verlässt, heute, um vor einem Schaubild die Reichweite nordkoreanischer Raketen zu erläutern, wobei ihre Art, gelöst und doch gesammelt dazustehen, zugleich konzentriert auf die Worte, meine Mutter zu einem halblauten Donnerwetter veranlasst hätte, während mein Vater wohl auf die Idee gekommen wäre, dass sich seine charmante, bühnenerprobte Frau für diese Tätigkeit doch bewerben könnte. Da hängt Segen dran, hätte er gesagt und Geld gemeint.

Ich sah die Nachrichten und trank; am Ende gab es Guten-Abend-Wünsche, so direkt, als wäre man persönlich gemeint, auch im Bett eines Hotelzimmers in Alassio, Wünsche mit einem Lächeln wie für Kinder, die langsam ins Bett sollten, und in diesen Schlusssekunden schien sich tatsächlich etwas von meiner Mutter ins Bild zu mischen, wie ein Blick hinter dem Blick auf dem Schirm, ein Mund hinter dem lächelnden Mund. Danach kam Werbung für ein Mittel, das die Hirnleistung steigert, und Werbung für ein Auto, das von selbst einparkt oder andersherum, erst das Auto, dann das Hirnmittel; auf jeden Fall folgten der Wetterbericht und die Vorschau auf einen Film am späteren Abend – einen von der Sorte, für die man in kein Kino geht, nicht vor der Kasse ansteht, nicht überlegt, ob man preiswert oder teurer sitzen will, und aufatmet, wenn dann keine mit Hochfrisur vor einem Platz nimmt und die Armlehnen links und rechts frei sind, während schon das Licht in Stufen erlischt und der Vorhang aufgeht.