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Die Kinos mit den guten Filmen lagen in der Innenstadt, das Alemannia, das Elysee, der Europa-Palast, das Gloria mit Raucherloge, Kinos, in denen man unbesorgt sitzen konnte, selbst am Nachmittag, wenn dort die Einsamen ihre Zeit totschlugen. Aber in der Innenstadt gab es auch die Buchhandlungen mit den vielversprechendsten Büchern im Fenster, und statt in ein Kino ging der Internatsschüler vom Bodensee mit seinen vierzig Mark in der Tasche in einen Buchladen in der Goethestraße und kaufte dort – das Bild auf dem Umschlag war entscheidend: eine schöne, schon etwas ältere Frau an einem Fenster, mit sehnsüchtigem Blick vermutlich auf einen Platz hinunter – einen schmalen Roman von Tennessee Williams, Mrs. Stone und ihr römischer Frühling. Mit diesem Buch setzte er sich in ein nahes Café (das plüschige Schwille, das kaum einer mehr kennt) und las dort den Roman bei einer Cola bis zur letzten Seite, so erfüllt danach, dass sich der Kinobesuch vorerst erübrigte. Er verließ das Café, steckte sich auf der Straße eine Roth-Händle an, wedelte wie sein Vater die Flamme aus und schlenderte rauchend, vorbei an der Opernruine mit geparkten Autos davor, in die Taunusanlage, als ginge es durch den Borghese-Park in Richtung der Spanischen Treppe, um als römischer Gigolo seine Gönnerin Mrs. Stone zu treffen oder wie zu Beginn des Romans für sie den Mantel zu öffnen, kurz seine Blöße zu zeigen. Tatsächlich aber ging der jugendliche Leser – immer noch in den Sätzen, in der Geschichte – Richtung Hauptbahnhof, wie einem Wink folgend, und fand sich schließlich in einer der Querstraßen wieder, die nach Flüssen mit weiblichem Geschlecht benannt sind, Elbe, Mosel, Nidda, der Gegend, vor der seine Mutter gewarnt hatte, wenn es denn eine Warnung war. Das Buch in der Jacketttasche, seine linke, kräftigere Hand darum wie um eine Waffe, die ihn schützen könnte, lief der Fünfzehnjährige mitten am Nachmittag, zehn nach drei mochte es sein, eine der drei stillen Straßen entlang, still um diese Tageszeit, schläfrig fast, bis auf ein gelegentlich wippendes Knie in einem Hauseingang oder eine pendelnde Hand mit Zigarette darin. Er sah es nur mit halbem Auge, aber sah es, und hörte auch wie mit halbem Ohr ein leises Schnalzen, ein leises Nadu? Den Gehsteig hatte er verlassen, er lief jetzt am Rinnstein entlang, über die Gullys, und ihm war, als käme das Schnalzen und immer wieder auch ein Wort für ihn von dort unten aus den Kanalrohren und nicht von den Hauseingängen. Nur kam es von dort, und bald konnte er nicht anders, als den Kopf zu heben, hinzusehen, zu einer der Frauen, die auch den Kopf hob, damit Zeichen machte, Kopfbewegungen hin zu dem Eingang, vor dem sie stand, zu einem der oberen Stockwerke. Eine große oder eher durch die blonde steife Frisur groß erscheinende Frau in einem taubengrauen Kostüm, zum Zerreißen um die Hüften, einem Grau wie dem des Anzugs, den Mrs. Stone ihrem Geliebten, dem römischen Paolo, hat machen lassen, und für einen Augenblick – oder das Aussetzen eines Herzschlags mit kurzer Eintrübung für das Auge – war die in dem Hauseingang die amerikanisch-römische Dame, der sich der lesende Junge zu Füßen geworfen hätte, nur damit sie ihn aufhebt.
Es war der Auftakt einer jener Stunden – in Wahrheit kaum einer Viertelstunde –, die sich weiter durchs Leben ziehen, mit einer eigenen Zeit, die der übrigen trotzt, die keine Vergänglichkeit kennt, kein Verblassen. Ich bleibe stehen und wische mir Schmutz vom Schuh, dann trete ich auf den Gehsteig und suche etwas in meinen Taschen, ich spiele den Zerstreuten, bis erneut ein Schnalzen kommt und jetzt auch ein deutliches Wort, ein Vorschlag, ein Preis, dreißig, für etwas Schönes oben im Zimmer. In meiner Tasche sind aber nur noch ein Zwanziger und eins der Fünfmarkstücke; das Buch und die Cola hatten auch ihren Preis, und ich zeige, was ich habe und entschuldige mich sogar. Tut mir leid, sage ich, das ist mein ganzes Geld, und wieder gibt es eine Kopfbewegung, Richtung Treppenhaus jetzt, ein stummes Meinetwegen, dann eben fünfundzwanzig. Und schon wird die Haustür aufgedrückt, es gibt kein Zurück mehr, als wäre der Gehsteig hinter mir weggebrochen, es gibt nur eine einfache, bestechende Logik: fünfundzwanzig Mark für das Schöne oben im Zimmer, do ut des, so hatte ich es in Latein gelernt. Die Frau im engen Kostüm lässt mir den Vortritt, lächelnd für einen Moment, Fältchen in den Wangen, Locken in der Stirn, und Wimpern, die nicht ihre sind, erschreckend wie sich öffnende Insektenflügel, als ich schon einen Fuß vor den anderen setze und sie nachhilft mit noch einem Wort, halblaut in mein Ohr – es war das Wort, das alles gesagt hat, alles barbarisch auf die Spitze gebracht. Und die folgenden Minuten in dem Haus, erst auf der Treppe zum obersten Stock, dort dann in einem Dachzimmer mit schräger Wand, einem Bett, einem Stuhl, einem Waschbecken, zehn, elf Minuten, wenn es hochkommt, waren von Anfang an eine Zeit außerhalb der Zeit und jenseits der Welt, oder in einer Welt, in der es erst galt, Zeit und Raum zu erfahren, das Erleben vor dem Erzählen.
Die Frau betrachtet den Jungen, sie schüttelt kaum merklich den Kopf, dann verlangt sie das Geld, und er reicht es ihr, es verschwindet in einer kleinen Handtasche. In dem Zimmer ist es heller als im Hauseingang, das Licht fällt durch einen Vorhangspalt, den sie schnell schließt, und noch aus dieser Bewegung heraus tippt sie sich an den Mund, bedeutet dem Jungen, leise zu sein. Sie zeigt auf seine Kleidung, Hose, Jacke, Pulli, dann auf einen Stuhl, der vorm Fenster steht, als säße sie dort gern und schaute hinunter, manchmal vielleicht so sehnsüchtig wie Mrs. Stone auf die Spanische Treppe, dort soll er wohl alles ablegen, auf ihrem Stuhl, nur weiß er nicht, wann er damit anfangen kann. Also löst er zunächst die Schuhbändel, steht erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein, während sich die Frau eine Zigarette ansteckt; und mit Zigarette im Mund schält sie sich aus dem Kostüm und schält auch ihre Strümpfe herunter, zeigt einen dunklen Busch – wenn er ihren Namen wüsste, hätte das etwas Helfendes, aber er traut sich nicht zu fragen. Darum nennt er erst einmal den eigenen Namen, und sie verhört sich wie die Leute früher auf dem Dorf, sagt Na, dann wollen wir mal, Bruno. Und schon setzt sie sich auf die Bettkante, noch mit den Strümpfen, die welk um ihre Knöchel liegen, und einem hochgeschobenen Büstenhalter als einer Art Halskrause. Sie drückt die Zigarette aus, nachlässig aber, mehr ein Stippen, sie spreizt ihren Busch mit zwei Fingern, und er dreht sich dem Stuhl am Fenster zu und zieht sich im Stehen aus, Jacke und Pulli, die Krawatte, das Hemd und die Hose, seine Wäsche und auch die Socken. Zwischen Vorhang und Scheibe sucht eine Fliege nach einem Ausweg, er hört ihr Anprallen gegen das Glas und glaubt sich für einen Moment allein mit der Fliege. Doch die Frau auf dem Bett gibt es noch, und er faltet die Hände über seinem Verräterischen, als er sich wieder umdreht. Sie drückt die Zigarette jetzt richtig aus, mit kleinen raschen Bewegungen, dann zieht sie ein Gummi aus einem Päckchen, den Pariser, und winkt ihn heran, und ihm ist, als hätte er zwei Körper, einen oberen, der Camus liest, und einen unteren, der ihn bloßstellt. Er nimmt die Hände von dem so Überdeutlichen, und sie streift das Gummi darüber und zieht an der Spitze, bis ein Säckchen entsteht, danach winkelt sie ein Bein ab, nur eins, als ob das reichen sollte. Wie ein unbestimmtes Du bietet sie ihren Spalt an, eins, das in seinem Schweigen zu ihm spricht, Komm. Und da wagt er es, nach ihrem Namen zu fragen, aber sie hört gar nicht hin oder überhört es, während sie nach ihm greift. Die fremde Hand nimmt sein Verräterisches, sie führt es an den Busch und lenkt es in den Spalt, in das Ersehnte, für das es nur Wörter gibt, die ihm nicht weiterhelfen, ihm nicht sagen, was da geschieht oder wie ihm geschieht, sondern nur in ihm lärmen, eine Art wilder Chor sind, in schrillen Tönen rufen, Jetzt tust du es, jetzt!, und dann kommen all die Wörter für dieses Tun, während er sich schon bäumt, Wort und Fleisch wie eins sind, kaum dass sich das Ersehnte um ihn schließt. Die Frau aber wendet den Kopf zur Seite, das eine, oben liegende Auge ist offen, ein leicht ungeduldiges Abwarten, als er sich Laute ausstoßen hört, einmal, zweimal, dreimal, wie von einem fremden Wesen in ihm, und danach, als alles Bäumen vorbei ist, leise um Entschuldigung bittet, und die Frau, die sein Geld hat, sich von ihm löst, dem Teil, um das sich alles drehte. Mein lieber Herr Gesangverein, sagt sie und streift den Gummi ab und macht einen Knoten hinein und wirft ihn in einen Eimer neben dem Kleiderablagestuhl, den Bogen hat sie heraus. Danach steckt sie sich den Zigarettenrest wieder an und richtet, den glimmenden Stummel im Mund, ihr falsches Haar im Nacken, während er, noch zittrig in den Beinen, schon nicht mehr der ist, der eben erst das Ersehnte getan hat (sechs, sieben Herzschläge lang höchstens ist er ganz der gewesen, der es tut – und Jahrzehnte würde es dauern, bis sich ihm erschließt, wie sehr das Begehren das Sein verbraucht). Er ist jetzt bloß noch der, an dem das alles hängen bleibt, wenn ihm keine Legende einfällt, keine schöne Geschichte vor der eigenen hässlichen.
Ein Nachmittag im Oktober vor vierundfünfzig Jahren, als in den Kinos Hitchcocks Die Vögel lief, aber auch in einem Frankfurter Filmkunstkino, der Lupe, Mrs. Stone und ihr römischer Frühling mit Vivien Leigh und dem ganz jungen Warren Beatty, dem Bruder von Shirley McLaine, die man als Mädchen Irma la Douce im Kino sehen konnte. Ein gefühltes Menschenleben liegt zwischen dieser Stunde, die keine war, und dem Schreiben darüber, auch in einem Oktober, und doch sind die Details aus dieser eigenen, unvergänglichen Zeit alle gegenwärtig, nur lassen sie sich nicht erzählen als Märchen von einem, der auszog, kein Junge mehr zu sein. Sie lassen sich allenfalls aufzählen, in der Hoffnung, dass sie von dem, der die Erwachsenenkleidung abgelegt hat und so kindlich wie unkindlich erregt den Dingen auf dem Bett entgegensieht, eine Wahrheit wiedergeben. Sicher ist: Da trat einer als Bündel an das Bett mit der für ihn bereiten Frau, und nur ein bisschen Wissen stärkte ihm den Rücken, um das Buch in der Jacke, die über dem Stuhl hing, oder was er als Tertianer so wusste. Er dachte an Meursault, den Fremden, die Worte Mama ist gestorben, er dachte an Krieger, an große Namen, Hannibal, Arminius, Wallenstein, El Cid, ja er dachte sogar an den spanischen Bürgerkrieg, ein Lieblingsthema des neuen Freunds, da wusste er jetzt auch schon manches, dass die Rechten den Dichter Lorca umgebracht hatten, neben hunderttausend anderen, und die Linken aus den internationalen Brigaden später in die Sowjetunion deportiert wurden: Auch das half ihm, sich noch zu behaupten, bis die Frau nach ihm griff, ihn hinführte, wo er hatte sein wollen, und er fast augenblicklich in das Säckchen an der Spitze des Gummis platzte, nun Bündel durch und durch war. Erst als er sich, mit einem Stück des Fensters als Spiegel, die Fliege noch immer im Anflug gegen das Glas, die abgenommene Krawatte neu band, kehrte er etwas zu sich zurück, während die Frau, auch im Fenster zu sehen, sich mit Klopapier den Schritt auswischte, als hätte er sie bekleckert. Noch mit dem geknüllten Papier in der Hand hielt sie ihm, kaum war er angezogen, die Tür auf, und er sagte höflich Auf Wiedersehen, auch wenn ihm jedes Wiedersehen ausgeschlossen erschien. Dann lief er die Treppen hinunter und steckte sich noch im Haus eine Zigarette an, und als er auf die Straße trat, in eine klare herbstliche Nachmittagssonne, war da eine Stille um ihn, wie er sie nur einmal in den Bergen erlebt hatte, als auch das leiseste Geräusch, ein Wind am Fels und der eigene Atem, schon laut war.
Die Erinnerung an diese Stille auf der Straße vor dem Haus, im dritten oder vierten Stock das Zimmer mit dem Stuhl am Fenster und der Frau mit den welken Strümpfen, ist zugleich die Erinnerung an das Gefühl, etwas getan zu haben, über das man nie im Leben reden könnte, wie über einen begangenen Mord, für den es keine Beweise gibt, das perfekte Verbrechen, das man als Krankheit ohne Symptome in sich trägt. Die Stille war dieses Gefühl und umgekehrt, und es gab auch keinerlei Bewegung um mich herum; es fuhr kein Auto, und niemand sonst war auf der Straße oder dem Abschnitt zwischen zwei Querstraßen, der mit dem Rest der Welt in keiner Verbindung zu stehen schien, daher auch die Stille, so umhüllend schalldicht wie die in den Musikübungszellen im Internat. Nicht einmal meine Schritte, weg von dem Haus, das Klacken der kleinen Eisen unter den Schuhen, konnte die Stille durchbrechen, erst das Geräusch eines VWs beim Anfahren in der nächsten Querstraße, und ich lief auf diese Straße zu, auf die Zeichen von Leben dort – vermutlich die Elbestraße, und ich kam aus der noch schmaleren Nidda –, und fiel in einen Laufschritt bis zurück in die Innenstadt, wo ich eigentlich hätte ins Kino gehen sollen, aber alles Geld war ausgegeben. Mir blieb nur das schmale Buch in meiner Jacketttasche, und ich las den ganzen Roman noch einmal auf einer Bank vor der Hauptwache, um später sagen zu können, ich hätte in der Lupe Mrs. Stone und ihr römischer Frühling gesehen. Ich sank förmlich in das Geschehen darin, in die Personen, in ihr erregendes Tun und ihr Nichtstun. Der schöne, junge, in den Tag lebende Römer Paolo zeigt einer schon leicht verblühten und frisch verwitweten amerikanischen Schauspielerin, die gerade noch Diva genug ist, an der Piazza di Spagna zu residieren, durch kurzes Öffnen des Mantels auf der Spanischen Treppe sein Geschlecht. Bald darauf verführt er die alternde Schauspielerin, und sie macht ihm Geschenke, kleidet den Geliebten neu ein und zeigt sich mit ihm, hält ihn als Hündchen mit Schleife, bis er sie über Nacht sitzen lässt; das Ganze – auch der Eindruck beim kürzlichen Nachlesen – sehr genau erzählt, ohne ins Detail zu gehen. Aber als der Erstleser abends mit seiner Mutter noch beim Schlummerwhisky saß und über seinen schönen Nachmittag mit Kinobesuch sprach, da bekamen die Szenen, die er gesehen zu haben vorgab, etwas Eindeutiges – im Grunde eine Beichte des Geschehenen im Bahnhofsviertel, der Dinge in dem Zimmer, nur mit vertauschten Rollen: Er legt seinen Teil in Mrs. Stone und macht den verheerend gut aussehenden Paolo zum käuflichen Mann; der lockt die Arglose erst mit seinem Körper, dann lässt er sich Geld geben und wälzt sich dafür mit ihr im Bett.
Donnerwetter, da hast du ja was erlebt, rief meine Mutter am Ende, als wäre ich Mitwirkender in dem Film gewesen; es war der letzte Abend vor der Rückfahrt an den Bodensee. Am nächsten Mittag brachte sie mich noch zum Bahnhof, unterwegs kaufte sie ein Halstuch, das ihr an einer Herrenschaufensterpuppe gefallen hatte. Sie band es mir gleich im Laden um und band es auf dem Bahnsteig noch einmal neu, und als alle Zugtüren schon geschlossen waren, bat sie noch um einen Kuss nach dem Abschiedskuss. Also beugte sich der Sohn mit Halstuch aus dem Abteilfenster und küsste zwei hingehaltene Hände, als sich der Zug schon langsam in Bewegung setzte, aber seine Mutter, er fasste es kaum, nicht etwa stehen blieb, sondern neben dem anfahrenden Wagen herzulaufen begann, wie er als Neunjähriger neben ihrem Zug nach Wien auf dem Bahnsteig mitgelaufen war, bis sich etwas rauschhaft aus ihm herauslöste, inmitten all der schnellen Schritte. Und auch ihre Schritte wurden noch schneller, sie lief mit wehendem Mantel, wehendem Haar, fuchtelnder Hand. Wie toll mir das Tuch stehen würde, zusammen mit den kurzen Haaren und der Brille, ja, dass ich überhaupt nur den tollsten Eindruck gemacht habe, besonders auf Kurtchen – einen hochanständigen, rief sie noch, jetzt schon außer Atem und nicht mehr auf meiner Höhe, und ich winkte und winkte ihr und wusste es besser.
Schön langsam, gleich ist es geschafft, immer einen Fuß vor den anderen, sagte der alte Sohn zu seiner doch noch um einiges älteren Mutter auf dem für sie endlosen Weg zum Bad, von einem Bett, das schon nicht mehr ihr eigenes war, das flache elegante, das dem Appartement noch etwas Leichtes gegeben hatte, sondern ein erhöhtes Pflegebett. Und von dort ging es quer durchs Wohnzimmer, vorbei am früheren Lesesessel mit dem gefährlichen, oft im Weg stehenden Fußschemel, vorbei am Esstisch mit seinen gefährlichen Kanten und weiter in den kleinen Garderobenvorraum, wo noch ihr pelzgefütterter Mantel wie für tägliche Wege im Flur oder gar im Freien hing. Sie brauchte eine Pause, obwohl der Weg fast geschafft war, linker Hand schon die Tür zum Bad mit seinen Halterungen wie für einen Menschen ohne Beine – Erinnerst du dich noch, wie du einmal sogar fast gerannt bist auf einem Bahnsteig, als ich mit dem Zug zurück ins Internat fuhr und am Abteilfenster stand und winkte? Ich zog die Badezimmertür auf und machte mich schmal, damit sie, auf meinen Arm gestützt, bequem eintreten konnte, und als sich ihre Hand um den Arm schloss, für die letzten kleinen Schritte bis zum Waschbecken, da glaubte sie sogar, sich ganz genau zu erinnern, und wollte die gewesen sein, die auf dem Bahnsteig nicht zu halten war – Stell dir vor, da ist deine Mutter auf dem Bahnsteig wie ein junges Mädchen gerannt, sagte sie, ganz plötzlich bei Atem, bei Stimme: Mein Gott, wie lang ist das her, wie alt warst du da? Sie streichelte mir die Hand, bis daraus ein befehlender Griff wurde: Ich sollte die Badtür von außen schließen und erst wieder öffnen, wenn sie dagegenklopfte, ja nicht vorher. Oh, ich weiß noch, wie ich gerannt bin, und du warst fast ein junger Mann! Aber sie hatte sich nur auf ein paar Worte von mir gestürzt, wie der Sohn sich auf jedes ihrer Worte, das irgendwie hoffen ließ, sie käme damit zurecht, nach seinem kurzen Besuch wieder allein zu sein und auf den längeren Besuch der Tochter zu warten, bis dahin Tag für Tag nur vom Bett aus an die Decke zu schauen. Ich wartete auf ihr dreimaliges Klopfen an die Tür, wie ein Sesamöffnedich, und stand so lange in dem kleinen Garderobenraum; ich sah mir ihren Mantel an (den heute keiner ins Netz zu stellen wagt), ich sah ihre zahlreichen Tücher, sorgfältig auf einem Ablagetisch für Spaziergänge, die es nicht mehr gab. Und ich dachte an das Tuch, das sie mir gekauft hatte auf dem Weg zum Bahnhof, was wohl daraus geworden war, ob es noch in irgendeiner Form existierte, es konnte sich ja nicht völlig aufgelöst haben, ein Tuch bleibt ein Tuch.
Weinrot war es, Baumwolle vermutlich, aber gemischt mit Kunstfaser, die ja nicht verrottet; ich trug es bei der Ankunft im Internat, locker gebunden, und sah gleich den Blick des Bücher und Musik und nebenbei auch ein Dupont-Feuerzeug besitzenden Freundes – aha, er hat ein Halstuch bekommen. Und wie im Gegenzug machte er Andeutungen zu den Helden gerade gelesener Bücher, als wäre er ihnen persönlich begegnet, zu Mendel Singer, Holden Caulfield, Tonio Kröger, und am geheimnisvollsten zu Robert Jordan, der in Wem die Stunde schlägt auf Seiten der Republikaner in Spanien kämpft, wogegen auch das roteste Halstuch weit abfiel. Trotzdem trug ich es in den Wochen nach den Herbstferien wie eine Halsfahne, und an langen, schon fast winterlich dunklen Sonntagnachmittagen, wenn wir, verbotenerweise, im Badischen Hof saßen, dem BH, und dort den sämigsüßen, berauschenden Suser tranken, in einer niederen Wirtsstube, in der es nach Maggi, Bratfett und Stumpen roch, die Tische wie mit Bier und Essig getränkt, war dieses Tuch mein geheimer Beleg für das Geschehene in Frankfurt, ein stiller Beistand, sobald Freund Michael mit Andeutungen kam, als hätte er in den zurückliegenden Ferien Schweres durchgemacht, das noch nachwirkte. Wir tranken und rauchten, jeder über sein Buch gebeugt, er über Malapartes Die Haut. Wir taten, als würden wir lesen, und jeder tat noch so, als trüge er mit an der Bürde seines Romanhelden; das Halstuch hing mir lose herunter, die Fransen über einer der aufgeschlagenen Seiten – von George Orwells Mein Katalonien, um beim Spanischen Bürgerkrieg mithalten zu können. Ein paar Dörfler, nicht viel älter als wir, verbrachten ihre Sonntage auch im BH, sie saßen am Nebentisch und sprachen im rauen Singsang der Höri vom Zigarettenschmuggel aus der nahen Schweiz und den Weibern in Klein-Venedig, ein Nachtrevier, das bei Konstanz lag; sie waren dort schon, das spürte man, oder ich spürte es. Und die Bedienung mit enger Bluse und schwarzem Pferdeschwanz, die Zigarette im Mundwinkel, wenn sie ein Glas so auf den Tisch stellte, dass ihr Hinterteil im Kellnerinnenrock die Wand berührte, war nur für die Internatler bereit, sich noch mehr zu bücken, damit der Freund seine Pall Mall an ihrer Glut entzünden konnte, das Dupont-Feuerzeug in der Faust. Sie hieß Almut, und ältere Schüler ließen gern durchblicken, dass es im BH eine frühere Backstube gebe, sozusagen immer noch warm, wo sie schon den einen und anderen Primaner empfangen habe. Almut war unsere Sonntagsgöttin, erreichbar nur über die Glut ihrer Zigarette; sie war das ewig lockende Weib, für das man nicht ins Kino musste, nur einen trinken gehen.
Das Klopfen an der Badezimmertür, dreimal im Abstand einer Sekunde, kam etwas eher als sonst, und es hatte etwas Triumphales: Deine Mutter ist schon fertig. Und auf dem Rückweg zum Bett gab sie sich alle Mühe, die zu sein, die einmal imstande gewesen war, auf einem Bahnsteig neben dem anfahrenden Zug herzulaufen. Sie fragte wieder nach meinem Alter damals, als sie wie ein junges Mädchen gerannt sei, und machte sogar Schritte ohne meine Hilfe, glaubte aber, ihre Tollkühnheit müsste sich sofort rächen; noch bevor wir am Bett waren, begann sie zu zittern, ja drohte hinzufallen. Dein Sohn war fünfzehn, sagte ich und bot ihr beide Arme als Halt, und sie klammerte sich mit einem Ausdruck an mich, als sollte sie auf den verschneiten Balkon hinaus, dort im Freien übernachten, Gott, dann war ich ja erst achtunddreißig! Das rief sie, und ich erinnere mich an ihr Fassungsloses an diesem Februarabend, noch als sie im Bett lag, gewärmt von zwei Decken, und mich aus weiten Augen ansah, nicht etwa wegen des nahenden, unausweichlichen Todes, sondern der unendlichen Ferne zu ihren achtunddreißig Jahren im Frankfurter Hauptbahnhof, als sie dem Sohn im Laufen noch nah sein wollte, wo er sich doch unaufhaltsam wegbewegte von ihr.
Merkwürdig: Obwohl seit heute die Sonne wieder scheint, von einem wolkenlosen Himmel, und laut Wetterbericht noch sechs perfekte Tage bevorstehen, werden schon Strandliegen der vorderen Reihen eingepackt und auch einige der Umkleidekabinen und überdachten Mittagslokale einfach abgeschlagen, so in Einzelteile zerlegt, als hätte man sich in ihrem Festen, ihrem Ganzen von Anfang an getäuscht. Die Einzelteile, abgespritzt und nach dem Trocknen in Plastik geschlagen, kommen in ebenerdige Lager unter den etwas höher gelegenen Hotels – alles vom Balkon aus zu verfolgen, auch wenn die Sonne ab dem frühen Nachmittag zu sehr blendet, schon zu schräg steht im Oktober, um etwa eins der mitgenommenen Bücher von damals nachzulesen, die Exemplare sogar, auf die die Asche einer Roth-Händle oder einer Pall Mall gefallen ist. Neben Mrs. Stone und ihr römischer Frühling liegt noch Der Fremde auf dem Nachttisch am Bett, außerdem Joseph Roths Hiob, Sartres Saint Genet und Hemingways Depeschen; ganz oben aber liegt das Buch, auf das der Freund in den fünf gemeinsamen Internatsjahren am meisten geschworen hatte.
Nur die Mittagsstunde eignet sich im Moment zum Lesen, die Sonne ist schon über das Hotel gewandert und scheint von rechts durch eine Pinie auf den Balkon, warm, aber nicht blendend. Ich las das erste Kapitel von Malapartes Die Haut, und wie damals, wie bei dem Freund, gab es ein Gefühl von Neid auf den amerikanischen Offizier, der eigentlich Zivilist ist und mit Rilke im Tornister die Festung Monte Cassino von den Faschisten zurückerobert, ein Mann des Geistes im Kugelhagel; ich las es in dem träumerischen Gedanken, an seiner Seite zu stehen, sein Schicksal zu teilen. Das eine Kapitel reichte, dann sah ich wieder dem Abschlagen der Umkleidekabinen zu, als wäre die Saison schon zu Ende – hatte meine Mutter auf diesem Balkon gelesen? Wohl kaum; auch mit Kissen war ihr der Stuhl zu hart, sie hat höchstens in einem Buch geblättert, vielleicht in Hemingways Fiesta, weil der Held ein Bein verloren hat, dann ist sie ins schützende Zimmer gegangen.