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Bis zur Abiturfeier vor den Sommerferien in Anwesenheit der Eltern lagen noch etliche Wochen, und der bald Zwanzigjährige glaubte, diese Wochen in der rauen Wirklichkeit verbringen zu müssen, unter Bauarbeitern. Es war eine schöne Idee, um sich Geld für eine geplante Reise mit dem Freund zu verdienen, im September nach Teneriffa, wovon der Bauarbeiter nur träumen konnte, ein Geld, das nicht vom Himmel fiel, im Gegenteil, das mit Hacke und Schaufel sozusagen aus steiniger Erde gegraben sein wollte (während der Freund zur selben Zeit einen sportlichen weißen Zweisitzer als Belohnung für das geschaffte Abitur vorfand und gleich in alle Himmelsrichtungen ausfuhr, auch in die, die zu meiner Schwester führte).

Und die raue Wirklichkeit, das war die Kirchzartener Baufirma Kromer mit einem laufenden Auftrag gar nicht weit von dem Rohbauanbau; für drei Mark zwanzig in der Stunde beginnt der eingestellte Hilfsarbeiter mit Erdarbeiten rings um ein künftiges Einfamilienhäuschen. Graben kann jeder, denkt der Abiturient, man schwingt den Pickel und setzt die Schaufel an, und die Gedanken dürfen abschweifen, während den Muskeln ein Training zukommt – aber das Ausheben von Gräben für Rohre ist eine Kunst für sich. Der Polier muss die Hilfskraft mit Brille immer wieder korrigieren, und der Angelernte beteuert immer wieder seine Hochachtung vor dem nicht geistigen Schaffen und unterwirft sich von vornherein jeder Entscheidung, ihm noch mühsamere Arbeiten zu übertragen. Er gräbt in der Junisonne wie ein Sklave und gefällt sich in der Rolle, wird dazu noch tiefbraun und nimmt die Figur eines Kriegers an, viermal am Tage ernährt von seiner Hüterin, zum Frühstück und in der Zehnuhrpause, mittags und vor allem am Abend, wenn er von der letzten Stunde auf dem Bau schon drei Flaschen Export intus hat. Er schläft nachts wie ein Toter und ist tagsüber ein grabendes Tier, nur am freien Sonntag kehrt der unruhige Geist zurück, und werden die Stunden zu still, zu lang, geht es mit dem Rad nach Freiburg wie früher in den Ferien und dort ins Kino, jetzt nur noch in Filme ab achtzehn, oft als einziger Besucher in einer Sonntagnachmittagsvorstellung bei Schwimmbadwetter. Es ist ein Warten, bis sich die Leinwand endlich mit einer Nacktheit füllt, als würde das weiche Fleisch in den Kinosaal kippen, das Ganze kaum für eine Minute, doch die reicht ihm, um danach das Weite zu suchen, wieder nach Hause zu radeln, mit freiem Oberkörper, sein Hemd um die Hüften. Und bei einer dieser Fluchten auf Nebenstraßen und Feldwegen, vorbei an dem Hof, auf dem er die Tierwelt entdeckt hatte, sieht er sich schon als Soldat, auch im Gelände, kriechend mit Waffe, während die anderen aus der Klasse, die, die sich spitzfindig nach West-Berlin abgesetzt haben oder wie der Freund mit ärztlichen Attesten aufwarten konnten, nur reden; er sieht sich trainieren und denkt sogar daran, Ausbilder zu werden, dann könnte er später auch andere trainieren, gegen den Polizeistaat ins Feld führen.

Es waren tagträumerische Wochen, während der Arbeit oft mit Fantasien wie aus Kinderzeiten, einer zu sein, der da mit Hacke und Schaufel die Welt aus den Angeln hebt. Ich hatte auch den Ton meiner Volksschuljahre wieder, das kehlige Alemannische, und wenn gegen Feierabend eine Nähe zu den älteren Maurern aufkam, in der Kühle zwischen gerade hochgezogenen, noch feuchten Wänden zementstaubige Flaschen aneinanderschlugen, entstand dazu noch das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, die durch ihre Taten zusammenhielt, den Guss einer Betondecke, gelungen an einem einzigen Tag, oder dem Verlegen eines Rohrs, das präzise auf ein anderes traf. Man war berechtigt müde am Abend, die Muskeln hatten ihr Bestes gegeben, das eingeschnittene Fleisch bestimmte das Denken und Fühlen, bis auf einen individuellen Spielraum für den Gedanken, dass nur eigene Schnitte ins eigene Fleisch eine neue, von der Internatswelt abgelöste Welt aufstoßen könnten.

Einer dieser Schnitte war meine Entscheidung – wenn es eine war und kein Reflex – für das Militär, ein anderer lag in der Idee, nicht an der offiziellen Abiturfeier teilzunehmen, an dem Samstagvormittag (damals noch Teil der Arbeitswoche) stattdessen Erdarbeiten zu machen. Und das schließliche Nein zur Teilnahme an der Feier wurde von meinen Eltern kaum bedauert, weil es ihnen die Anreise an den Bodensee ersparte, und von dem Freund mit schon eigenem Auto am Telefon respektvoll kommentiert, wobei er offenließ, ob er selbst zu der kleinbürgerlichen Zeugnisübergabe erscheinen würde (dann aber samt Eltern erschienen ist). Nur ein Stuhl in der ersten Reihe blieb leer, ich hob an dem Vormittag das Loch für die Kreuzung zweier Abwasserrohre aus – und erinnere mich an ein Gefühl schmerzlichen Stolzes, als ich glänzend vor Schweiß in der Grube stand, wissend, dass die anderen, mit Schlips, jetzt ihre Zeugnisse aus der Hand des Direktors empfangen und die elterlichen Hände dazu applaudieren; Schmerz, weil ich mich isoliert fühlte, der Preis des Individuellen, und Stolz, weil ich tat, was andere nicht taten, und damit das Geld für drei letzte Sonnenwochen vor dem Einrücken verdiente.

Schnitte ins eigene Fleisch – dazu gehörte auch, nicht lange nach der ausgeschlagenen Abiturfeier, jenes Sichverlieben bis auf die Knochen am Ufer des Wörthersees, als meine Schwester und ich zum letzten Mal mit den Eltern im Urlaub waren und auf der Badewiese des verwunschenen Hotels Villa Riva ein Mädchen aus Wien mit Sonnenbrille und weichen Wangen und meistens mit Zigarette, nah am schönen Mund gehalten, in einem Liegestuhl lag und in Schnitzlers Erzählungen las. Die Annäherung hatte etwas Billiges, der Abiturient ging neben dem Liegestuhl in die Hocke (wie schon als Kind neben dem Stuhl der Mutter) und pries Schnitzler als Erzähler, obwohl er kaum etwas gelesen hatte von ihm. Immerhin wusste er von dem Stück Der Reigen, worum es darin geht, und auch dass Freud große Stücke auf Schnitzlers Kenntnis der weiblichen Seele gehalten hatte. Keiner sonst habe die Frauen so verstanden wie Schnitzler und Freud, sagte er halblaut, und spätestens nach dieser Bemerkung ließ das Mädchen das Buch in den Schoß sinken. Sie trug einen schwarzen Einteiler bei noch ungebräunter, geradezu strahlend heller Haut, ihr Haar war dunkelblond, es wippte auf den Schultern, ihre Hände spielten mit dem Buch, klappten es auf, klappten es wieder zu. Und dann tat sie dem jungen Neunmalklugen den Gefallen einer Unterhaltung über den künstlerischen Aufbruchsgeist im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, ein Thema, für das er Namen wie Klimt, Karl Kraus oder Wittgenstein parat hatte und jedem sogar ein Werk zuordnen konnte, wobei das Denken bereits auf zwei Gleisen lief: Da gab es einmal das Bemühen, der Unterhaltung mit immer weiteren Namen von Werken, von Künstlern, von Dichtern auch weitere Anstöße zu geben, dabei aber noch auf der Höhe des Gesprächs zu bleiben, und gleichzeitig war da schon der Gedanke, ich könnte diese Schöne ganz und gar auf meine Seite ziehen. Das Schwert der Verliebtheit traf mich in diesen ersten Stunden völlig unbemerkt, ich hockte mit einem Schnitt in der Brust neben dem Liegestuhl. Wir redeten, bis es Abend wurde, sie zu einer Verabredung musste, schon mit einer Entschuldigung: dass es ihr leidtue, nur sei sie für diesen Abend versprochen, so sagte sie es und kam dabei aus dem Stuhl, wir waren die Letzten auf der kleinen Badewiese. Und am anderen Tag hielt ich mich erst fern von ihr, zumal sie bei ihren Eltern saß, bis sie plötzlich winkte, so, als würde das Glück selbst winken – die kaum erhobene Hand war schon Zeichen genug. Ich ging zu ihr und fragte, ob sie mit mir im hoteleigenen Kahn auf den See hinausrudern wollte, eine bange Frage, weil ich den Schnitt in der Brust jetzt spürte, als Weitung, nicht als Schmerz, und ihr Nein hätte daraus eine Wunde gemacht. Sie aber sagte nur Ja, und ich nahm die kleine Zeiss-Kamera mit auf den See, das gehütete väterliche Geschenk; anderenfalls wäre nie das einzige Foto von der Schönen aus Wien entstanden, mit Sonnenbrille und Zigarette auf dem Bugsitz im Ruderkahn, als Beweis, dass es sie und mich im Juli neunzehnhundertachtundsechzig eine knappe Woche lang tatsächlich gegeben hat.

Noch heute fällt es mir schwer, dieses Foto, das den dunklen Einteiler und die helle Haut so betont, hervorzuholen – aus einem Umschlag in meinem Gepäck mit all den Fotos, keine zwanzig, die unbestechlich etwas von früher erzählen, das ohne ihr Schwarzaufweißes schnell zur Verklärung führen könnte –, das Foto mit zwei Fingern auf dem Hotelzimmertisch abzulegen, mich darüberzubeugen und die Einzelheiten darauf, etwa die eines halb über die Schulter gerutschten Badeanzugträgers, ihre Arbeit im Gedächtnis tun zu lassen. Ein gutes Stück sind wir schon vom Ufer entfernt, ich an den Rudern, sie rauchend auf dem Sitz, als ich um das Foto bitte und sie sich etwas vorbeugt, der Kamera und also auch mir entgegenkommt. Sie nimmt die Knie zusammen und lässt einen Unterarm auf einem Knie ruhen, während sie in die Kamera sieht, die Lippen einen Spalt geöffnet. Und genau in dem Augenblick drücke ich auf den Auslöser, so wie die Fotografierte Tage später im einzig richtigen Augenblick das Richtige tut, als wir nachts auf dem Weg von Pörtschach, wo wir im Kino waren, in einem Film mit Catherine Deneuve und Michel Piccoli, auf dem Rückweg zum Hotel sind und, überrascht von heftigem Regen, unter einer Eisenbahnbrücke stehen. Ich schlage ihr den Kragen eines leichten Mantels hoch und lege ihn um ihr schon feuchtes Haar, zögere dann aber, weiß nicht mehr weiter, ein Trottel der Liebe, und sie tut das noch Nötige, indem sie mir Tropfen von der Stirn streicht und mit dem Mund nah an meinen kommt, nah genug. Alles Weitere geschieht von selbst, wie nach einem alten, lange vor ihr und mir schon gültigen Plan, das Zueinanderkommen der Lippen und ihr Öffnen der schützenden Zähne – für einen Kuss, der nach Rauch und ihrer Zunge geschmeckt hat, letztlich nach Glück, einen Kuss, der sich, wie die Folge eines Unfalls in jungen Jahren, noch immer als Narbe bemerkbar macht, damals aber die einfache gültige Antwort auf alles Wirre und Ungeklärte in mir war (später mehrfach in Büchern erzählt, ohne den Kern dieser fünf oder zehn Minuten unter der Eisenbahnbrücke zu treffen, wie ihn nur ein Gedicht treffen könnte, durch eben andere, leise Worte dafür, dass mit diesem Kuss alles Verwahrlostsein vorübergehend außer Kraft gesetzt war). Die junge Schöne aus Wien mit der Sprachmelodie meiner Hüterin – und einem Namen, den hinzuschreiben das Bild von ihr zu sehr runden würde – hat mich vorübergehend erlöst, so geschehen in der Regennacht von Freitag zu Samstag. Und an dem Samstag regnete es weiter, wir konnten nicht rudern, auch nicht spazieren gehen, sondern saßen mit anderen um einen Tisch und spielten Monopoly. Abends war sie dann an ihre Eltern vergeben, und am nächsten Tag reiste die Familie schon zurück nach Wien.

Ich habe sie nie wiedergesehen, aber in den Wochen darauf noch berückende Briefe erhalten, an den Hochwohlgeborenen, so stand es auf den gefütterten Umschlägen, und Liebster, Du, so stand es mit Tinte in einer Haltung zeigenden Schönschrift als Anrede auf hellblauem Papier, während meine Anrede ihr eben auch berückender Name war, eine Anrede als Appell, damit sie all die Seiten mit den Darstellungen meiner Gefühle auch aufmerksam las. Und in einem der letzten Briefe, dem längsten, gab es dazu noch einen Anhang, in wilder Hast am Tag des Einmarsches der Sowjets in Prag geschrieben, drei oder vier Seiten, gesondert datiert mit dem einundzwanzigsten August, als wäre ich Zeuge gewesen, wo doch im Rohbauanbau nur der Fernseher lief, ein Anhang ganz in dem Bemühen, die individuelle Liebe und ein Weltgeschehen – russische Panzer gegen Pärchen mit Blumen in der Hand –, das ja wie eine Vernichtung der Idee der Liebe war, zusammenzuzwingen. Aber sie ging darauf gar nicht ein; ihre Antwort war feinfühlig und doch kühl, man müsse sich auf das konzentrieren, was um einen herum sei, sie wünsche mir so sehr, dass ich ein ausgeglichenerer Mensch würde, nicht von allem gleich fortgerissen; vielleicht ja als Soldat, der anderen ein Vorbild sein muss. Und rechtzeitig vor Beginn des Militärdienstes erreichte mich noch einmal ein Brief, wieder adressiert an den Hochwohlgeborenen, ihr Abschiedsbrief von kaum einer halben Seite. Auf der schrieb sie, die Worte wie gestochen, dass unsere Wege doch nun sehr auseinandergingen, es also besser sei, die Verbindung hiermit zu lösen, um uns nicht unnötig darin zu verwickeln, was sie mich zu verstehen bitte; gleichwohl wünsche sie mir für die Zeit als Soldat von Herzen alles Gute, adieu. Und ein ebenso klärender Brief, nur die Schrift weit weniger Ausdruck einer Contenance, eher nach hinten kippend, eher sich wehrend, kam kurz darauf auch von meiner Apothekertochter, ihr Abschied, als würde ich in einen Krieg ziehen und sie wollte sich von vornherein schützen, um am Ende keinen Gefallenen beweinen zu müssen – sie habe schon genug geweint meinetwegen: der Satz, der sich gehalten hat.