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Noch malte der Weltferne in dem Dachzimmer, aber es war wie gesagt eine Vorstufe des Erzählens, ein Schreiben mit feinem Pinsel. Und eines Nachts bat ihn der alte ungarische Nachbar, als sie sich im kalten Flur trafen, es war Januar, in das Zimmer neben seinem. Dort zeigte er ihm, kommentarlos, alle Dokumente eines Lebens, von einer lappigen Geburtsurkunde als Zoltan Fodor über Schulzeugnisse und Militärpässe, von Trauscheinen und Scheidungspapieren über eine Waffenlizenz und Parteibüchern bis zu Reisevisa und einem behördlichen Schreiben, aus dem ein Status als Verfolgter hervorging. Er saß in einem alten Bademantel auf dem Bett, das weiße Haar stand ihm ab, er bot dem Besucher einen süßen, schweren Wein an, und nach dem zweiten Glas fragte er ihn nach seinem Leben, seiner Arbeit, und der junge Mitbenutzer von Dusche und Klo im Flur sagte, er sei Schriftsteller, eine glatte Lüge, zumal seine Hände voller Farbe waren. Aber der alte Ungar, sicher um die achtzig schon, wollte dem so viel Jüngeren glauben und erzählte ihm im Gegenzug Dinge aus seinem Leben, dass er erst Journalist gewesen sei, dann Agent, dann Verfolgter, später Flüchtling und erneut Agent; dass er zwei Söhne habe, irgendwo, und nicht wisse, was er morgen den Tag über tun solle, außer oben im Kaufhaus Schneider in die Cafeteria zu gehen. Bis es hell wurde, redete er, um sich im Bett all seine Papiere, und sie leerten die Flasche mit dem süßen Wein in dem überheizten Zimmer. Zwei Monate später, Anfang März, hörten die nächtlichen Katastrophe-Rufe von nebenan auf.
Es war der Monat, in dem ich das letzte Bild malte – von etwa siebzig, die Hälfte verschenkt, einige zerstört, nur wenige behalten –, einen auf der Seite liegenden weiblichen Körper, der Kopf ersetzt durch ein Kissen. Das Licht ist auf der obenliegenden Schulter, welche die Figur anstelle des Kopfes abschließt, und fällt auf ideal geformte Hinterbacken, es verliert sich in dem Spalt dazwischen; das obere Bein ist angewinkelt, das untere gestreckt, etwas Licht auch auf der offenen Kniekehle. Das ganze Motiv füllt die linke untere Bildhälfte, dann folgt ein Mittelfeld, darin nichts als die Bettfläche, auf der die weiche Gestalt liegt, und in der rechten unteren Hälfte steht ein etwa Vierjähriger, blond gelockt, in kurzen Strampelhosen und auch einem Strampelhemd, in seinen Händchen ein Bleistift, der Maler des Bildes als Unkind mit einem Ausdruck der Betretenheit: die großen, spähenden Augen einerseits auf den Spalt gerichtet, andererseits auf das Kissen, das den Kopf ersetzt. Es ist ein Doppelblick am Rande des Weinens, unschlüssig oder ohne Vertrauen in die Situation – die Frage ist nicht, wohin mit dem Bleistift, sondern wie es anstellen, den Stift in der Gestalt zu versenken, ohne ertappt zu werden. Aber ertappt von wem? Eine Antwort findet sich im oberen Bildteil: Dort öffnet sich die Bettfläche, und man sieht einen geraden Horizont, auf seiner Linie ein Herrenhut wie ein dunkler Berg vor hellem Himmel. Ich saß, wie auch bei meisten Bildern zuvor, gut eine Woche an dem zentralen Motiv, mal gefielen mir die Umrisse nicht, mal die Schatten, mal die Farben, dann wieder die ganze Komposition; Versuch und Irrtum waren das Verfahren. Und in jeder dieser Nächte gab es keine Rufe von Zoltan Fodor, nur die Katastrophe der Stille von nebenan, einer Stille, die mich das Bild aus der Hand legen ließ und die Nadel von der laufenden Schallplatte heben, die leichter zu ertragen war, ich könnte auch sagen: einträglich wurde, wenn man eine eigene Stille dagegenhielt, die im Grunde gar keine war, weil in diesen Frühstunden ohne Malen und ohne Musik eine innere Stimme zu Wort kam – der, der sich schon Schriftsteller genannt hatte, fing an zu schreiben. Ein quadratischer Raum, verstellt mit Abgelegtem, ein Tisch, ein Stuhl, eine Matratze, Waschbecken und Kochgelegenheit, viele Bücher, gestapelt, an den Wänden Bilder, alle im selben Format, und auf der Matratze ein Körper, von hinten auf der Seite liegend, das obere Bein angewinkelt, über dem Kopf mit langem Haar ein Kissen, Punkt. Erst hat er gemalt, was ihm fehlt, jetzt schreibt er es hin und schafft sich mit Worten in aller Stille, auch der von nebenan, einen anderen in seinem Zimmer, weiblich, ohne dieses Wort zu gebrauchen, einfach ein anderes weiches Geschöpf.
Der alte Nachbar schweigt, und der junge Mitbenutzer von Bad und Klo im Flur – noch gibt es dort Spuren, aber keine frischen – schreibt; und jedes Verlassen des Dachzimmers ist jetzt eine Flucht in die Nichtstille. Nach wie vor besucht er das düstere Sportstudio mit all dem Gestöhne beim Drücken und Ziehen, nach wie vor auch die Arbeitsgruppe mit ihrem Geistesoberhaupt, all dem klugen Palaver dort; davon hat er inzwischen genug aufgeschnappt, um sich selbst zum kleinen Häuptling zu machen. In seinem Fachbereich der grenzenlosen Möglichkeiten bietet er unter dem Schirm der psychoanalytischen Pädagogik eine Veranstaltung mit dem Titel Der zerstückelte Körper an, über das Weiterreichen des eigenen beschädigten Körperbildes am Fallbeispiel des Kindermörders Jürgen Bartsch. Und nach wie vor besucht er an Samstagabenden seine Mutter, während sie höchstens ein-, zweimal aus einer Laune heraus, einem Übermut, den Fuß in sein Dachloch, das ist ihr Wort dafür, gesetzt hat. Er geht nicht ungern in die Savignystraße zwanzig, schon weil der Weg durch das Bahnhofsviertel führt; die Abende zu dritt in der kleinen Wohnung sind gute Abende, wenn seine Mutter, ihr Freund und er dort essen, trinken und reden (die Schwester studiert inzwischen Medizin in Freiburg, desgleichen der alte Internatsfreund, die Losung heißt Neurochirurgie). Es sind gelungene Imitationen eines Familienlebens, in manchen Momenten mit einem Schwung, einer Ansteckung, als müsste es genauso sein. Sie erzählen einander das Neueste, und Freund Kurt, jetzt Ende sechzig und mit schweren Beinen vom Rauchen, versteht es, alles zu Wolkige, sich in sonst einem Himmel Verlierende, auf die Erde zu holen, die Denkflüge des nunmehr Doktoranden durch Ironie und das oft bühnenhaft Überdrehte seiner Geliebten – niemand hatte ihr theatralisches Wesen besser begriffen als er –, indem er mit rollendem R Wir vom Theater sagt. Es sind die guten Stunden, die Jahre zu spät kommen und doch nicht so spät kamen, um nicht auch in der Erinnerung noch gute Stunden zu sein.
Der Besucher mochte die, die seine Mutter war, und ihn an solchen Abenden ernährte (in keiner anderen Lebensphase waren Empathie und Kalkül so getrennt bei ihr, so unverschlungen). Er blieb, bis sie in sich zusammenfiel, schmal wurde vor Müdigkeit, ja fast weinte; ein spätes Gehen aus Wohlbefinden, aber auch, weil der Rückweg ins Ostend wieder durch das Bahnhofsviertel führt und dort in den Bars und Lokalen, den Hauseingängen und parfümierten Zimmern der Häuser schon eine Ermattung herrscht, die wie eine Einladung ist. An den Spielautomaten sitzen die Verlierer, in den Häusern riecht es nach spätem Essen und nur noch träger Bereitschaft, und wenn der, der noch wach ist, angetrunken, aber hellwach nach dem anregenden Abend, an einem der Automaten gewonnen hat, eine Kaskade aus Silbermünzen in die Geldschale fällt, dass manche herausspringen, geht er mit all den Münzen in eins der Zimmer und zahlt dort für einen Anblick seiner Wahl, für ein Modell, ohne dass ihm Stift und Malblock einen Anschein von Recht dazu gäben. Seine Legitimation, das sind die Fünfmarkstücke aus dem Automaten in der ersten Stunde zum Sonntag, nachdem er wieder einmal horrendes Glück oder auch einfach Schwein, wie es heißt, gehabt hat, und drei lachende Monde oder Sonnen im Fenster des Automaten erschienen sind, dort nach zittrigem Einpendeln einträchtig nebeneinander verharrten. Niemand weiß von dieser Sorte Glück, mit der er sich in den Sonntag und über den Sonntag rettet, und würde man ihm etwas ansehen davon, dann wäre die am blindesten, mit der er den Abend verbracht hat. Seine Mutter, nunmehr neunundvierzig und immer noch finanziell in der Enge, auch immer noch in einem Mädchentraum vom Ruhm, beharrlich weiter über Liebesglück und Liebesleid Romane schreibend, die jetzt als Taschenbücher bei Ullstein erscheinen, lebt in ihrer Luftwelt, er in seiner – und bis zu dem Abend, als alles, was sie gestützt hat, ihr die Flügel verlieh für einen Alltag, in sich zusammenfiel, waren das Welten ohne wirkliche Berührung.
Der Sohn, noch keine Viertelstunde aus dem Souterrainraum mit den Hanteln und Zugseilen zurück, noch in verschwitztem Zeug, die Notizen von Sprüchen anderer Trainierender ordnend (der Aufsatz Body Building, Versuch über den Mangel, nahm erste Gestalt an), wird aufgeschreckt durch Rufe seines Namens im Treppenhaus und dann auch im Flur. Es ist die Stimme der Stimmen, die nach ihm ruft – aus tiefer Not schrei ich zu dir, das fällt ihm ein, das hat er gesungen, wenn es im Kirchenjahr an der Reihe war –, dann trommelt seine Mutter geradezu an die Tür und müsste gar nichts mehr sagen: Er weiß, dass ihr Leben über den Haufen geworfen ist. Noch durch die Tür wird sie es los, dass Kurt, ihr Kurtchen, einen Schlaganfall erlitten hat, vor zwei Tagen bereits in seiner Wohnung, sie gerade aus dem Krankenhaus kommt. Er ist schon nicht mehr von dieser Welt, ruft sie, als der Sohn Sekunden später in der offenen Tür ihren Kopf umarmt, den er vorher noch nie umarmt hat. Und eine Stunde oder länger sitzen sie beide, Mutter und Sohn dann auf der Bettmatratze, er immer noch im verschwitzten Zeug; er gibt ihr Wasser und erlebt sie erstmals aus einer Flasche trinkend, unbeholfen, irgendwie, er hält ihre andere, kalte Hand. Immer wieder flüstert sie den Namen, Kurtchen, es ist wie ein Sog – sie will noch einmal in das Krankenhaus, aber nicht allein, er soll sie begleiten, so wie er ist. Sie übersieht, was er anhat, Trainingshose und eine Cordjacke, dazu Turnschuhe, wie man sie eigentlich nicht trägt auf der Straße, sie will jetzt einfach nur ihn, seine Nähe. Also fahren sie mit einem Taxi zu dem Krankenhaus und sehen den, der schon nicht mehr von dieser Welt ist, die Augen verdreht, in einer Art Gitterbett, das neben zwei leeren Betten in einem Durchgangsraum steht, wie geschaffen für einen zwischen Leben und Tod. Seine Gefährtin der letzten zwölf Jahre – meine weinende Mutter – streicht ihm einzelne Haare aus der Stirn und küsst seine faltigen Wangen, die fleckige Hand mit Katheter, die schon fast weiße Nase, den immer noch feinen Mund, und plötzlich kommt in die Lippen eine Bewegung. Sie bilden Laute, die erst noch verwaschen sind, kaum verständlich, ein Lallen, dann aber sagt die Gestalt in dem Bett, das noch dem Leben Zugewandte in ihr, mit ferner Stimme meinen Namen, verbunden mit einem Satz, wie ihn sonst nur der Traum diktiert: dass ich immer die Klotür auflassen würde.
Und noch in derselben Stunde starb der Lebensfreund meiner Mutter. Sie war bei ihm in dem Durchgangsraum, während ich im Flur davor mit Zigarette hin und her ging, einem Flur, in dem damals Rauchen normal war; die Zigaretten stammten aus Kurts Jackett, das neben dem Bett über einem Stuhl hing, ein halbes Päckchen Nil. Ich rauchte und rauchte, bis die gerade Verlassene, das Haar in nie gesehener Weise zerzaust, wie schlafwandelnd in den Flur kam. Sie nahm mir die Zigarette aus der Hand und zog daran, und ich wusste, dass er tot war – eins der ganz wenigen Male, bei dem ihre Sprache nicht der Geste vorausgeeilt ist. Ich nahm sie in die Arme, und sie weinte hemmungslos für ein, zwei Minuten – die Zigarette brannte herunter. Dann löste sie sich und sagte mit nahezu fester Stimme etwa Folgendes: Wir fahren jetzt zurück und essen eine Kleinigkeit in deiner Wohnung – sie sagte nicht Zimmer und schon gar nicht Dachloch –, danach bestellen wir wieder ein Taxi, und ich fahre zu mir, ich will allein sein heute Nacht, sei mir nicht böse.
Wie kam sie auf böse? Böse war der Tod in einem Durchgangszimmer, während der, der immer die Klotür aufließ, im Flur vor dem Zimmer rauchte. Der Sohn war beschämt und zugleich froh, dass er überhaupt etwas tun konnte, nämlich für das Essen in seinen vier Wänden sorgen, auch wenn es keinen Esstisch gab und nur eine Kochplatte und der Balkon der Kühlschrank war; es gab auch keine Vorräte, und der Laden im Erdgeschoss hatte schon zu. Es gab aber schräg gegenüber an der Hanauer Landstraße einen Kiosk, in Frankfurt auch Wasserhäuschen genannt, und er klammerte sich im Taxi an dieses Wort, sagte, Wir kaufen im Wasserhäuschen etwas zu essen, und zählte auf, was er dort selbst schon gekauft hatte, Haltbares in Dosen, Pichelsteiner Topf und Sauerkraut, Brathering in Tomatentunke, Bockwurst im Glas oder einzelne Packungen von Mirácoli, dünne Nudeln mit Fertigsoße. Und genau die sollten es sein, als sie dann beide am Verkaufsfenster standen, wie ein Pärchen, das vor lauter Glück alles zu essen bereit ist. Die Spaghetti, sagte seine Mutter, fast schon aufatmend. Dazu gab es dort sogar italienischen Rotwein, Lambrusco, den trank sie später aus einem Bierglas, etwas anderes hatte der Sohn nicht anzubieten. Sie saß auf seiner Matratzenkante, noch im Mantel, das gefüllte Glas in beiden Händen, während er ein Auge auf die Nudeln im kochenden Wasser hatte; zwischendurch holte er sich eine kalte Büchse Henninger vom Balkon und nahm dort gleich einen Schluck – aus dem Nebenzimmer fiel Licht auf den Nebenbalkon, etwas Beruhigendes in dem Moment. Im Zimmer trank er dann aus dem Zahnputzglas, weil ja das Bierglas vergeben war, und immer wieder sah er zu der, die das volle Glas hielt, in das überraschende Menschenantlitz hinter der Mutter; sie nippte am Wein – das Gegenteil ihres Nippens auf dem Ikonenfoto, Augen weit offen –, und der Gedanke, sie in dieser Nacht allein in ihrer Wohnung zu wissen, hatte jetzt etwas, als würde sie allein in einen Wald gehen. Der Sohn tat die Nudeln auf, er gab die erwärmte Mirácoli-Feuersoße dazu, und die Bekochte auf der Matratzenkante aß wie ein Kind, ein Häppchen und noch eins, dazwischen der Lambrusco in kleinsten Schlucken, und er schlug ihr vor, doch hier bei ihm zu übernachten. Aber sie beharrte auf ihrer Wohnung, auf dem Für-sich-Sein, wollte allerdings, dass er sie noch im Taxi bis in die Savignystraße begleite, um dann mit demselben Taxi auch gleich zurückzufahren.
Ich erinnere mich, dass sie mir noch vor der Fahrt Geld gab, damit ich als Mann die Bezahlung übernähme, fünfzig Mark, deutlich zu viel für diese Strecke. Und so fuhren wir durch die Stadt, ihr Kopf lag an meiner Schulter, ich war damit betraut, ihre Wange zu streicheln, wieder und wieder, und strich über etwas, das sich anfühlte wie eine nur minimale Haut über einem Meer von Verzweiflung, dem alten Vaterseelenalleinsein. Noch vor dem Aussteigen bat sie darum, drei Tage lang völlig in Ruhe gelassen zu werden – und nach der Beerdigung, sagte sie, könnten wir beide mal ins Kino gehen. Dann wies sie den Fahrer an zu warten, damit ich sie zur Haustür bringen könnte, ihr letzter Wunsch an dem Abend, ich stützte sie auf dem Weg zur Tür; dort drückte sie mich mit einer Kraft an sich, als wäre sie eine andere und ich ein anderer. Und in der unsichtbaren Hülle ihres von keinen Tränen abgewaschenen Geruchs (der bis heute ihren aufbewahrten Schals anhaftet, nach einer übersüßen Reife) stieg ich wieder ins Taxi, ließ mich aber nur zum nahen Bahnhof fahren; so blieben von dem Fünfziger fast vierzig Mark – und die verspielt der Sohn an einem Automaten bis auf das Kleingeld für ein Bier und die Straßenbahn.
Es ist kalt in der Nacht, darum steigt er in die Linie achtzehn Richtung Ostend, und das mit Kärtchen; etwas hat ihn abgehalten, schwarzzufahren, wie er es sonst macht – vielleicht ein Gefühl des Kleinen gegenüber dem Großen, das sich auftut, wenn jemand stirbt, der einem nahe war, der großen Stille. Er sitzt, als berechtigter Fahrgast, klein und verstummt in der Bahn bis zum Ostbahnhof mit einer Uhr ohne Zeiger über dem Eingang. Von dort läuft er ein Stück zurück, bis vor die Feuerwache gegenüber von seinem Haus. Oben, im Dachzimmer von Herrn Fodor, brennt immer noch ein Licht, auf den Balkonstreben liegt matter Schimmer; und auch in der Küche der Wohnung von der, die mit ihm durch ganz Mexiko gereist ist, brennt Licht. Sie machen sich ein spätes Essen, denkt er, Bratkartoffeln, Spiegeleier, Nudeln vom Vortag, der Freund steht am Herd, schon im Schlafanzug, sie sitzt am Küchentisch und strickt, wie sie alle jetzt stricken, auch in seiner Veranstaltung, wenn er über den zerstückelten Körper spricht. Aber soweit er es aus dem Bartsch-Seminar weiß oder im Anschluss daran gehört hat, von Teilnehmerinnen, die in Analyse oder analytischen Gruppen sind und so gut wie alle im Fachbereich kennen, die auch unter Anleitung mit sich selbst beschäftigt sind – ein frühes intimes Netzwerk –, ist die, die er kaum noch oder schon nicht mehr liebt, auf dem Sprung in eine Frauenwohngemeinschaft, angeblich im Bahnhofsviertel. Verlässlich weiß er das nur von einer, weil sie die Wohnung mit ausgekundschaftet hat, der Neugierigsten in dem Seminar, während sich andere schon zurückgezogen haben; er ist zu genau, wenn es um die Mordtaten geht, fast, als wäre er dabei gewesen. Immer noch sieht er zu dem Küchenfenster, da steht jetzt wer mit dem Rücken zum Fenster, der Freund wohl, er tut ihr auf, und jetzt erst, warum auch vorher, legt sie das Strickzeug neben ein Buch auf dem Küchentisch, Hannah Green, Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen, Bericht einer Heilung, das lesen sie zurzeit alle, auch die noch übrigen im Bartsch-Seminar, und wer das nicht liest, hat von Maud Mannoni Das zurückgebliebene Kind und seine Mutter in der Küche liegen. Er weiß das, als säße er mit am Tisch; er weiß auch, wie dünnhäutig die sind, die so etwas lesen, und noch dünnhäutiger, wenn sie aus ihren Gruppen kommen, als hätten sie keine Haut mehr, und er kennt die Namen derer, die sie so hautlos machen mit ihrem bezahlten Schweigen und manchmal einem leisen Satz, ihnen am Ende aber das dicke Fell geben, um sich zu trennen. Er könnte eine Karte zeichnen, darauf zu sehen, welche der Teilnehmerinnen am Mörderseminar sich wo in der Stadt unter welcher analytischen Leitung mit solchen im Austausch befinden, die sich schon nach einer Nacht, eher aber vor der Nacht getrennt haben von ihm – die Kreise derer, die um sich selbst kreisten, waren eng, und irgendwie gehörte ich am Rande dazu.
Es fing an zu schneien, ganz sachte, ein taumelndes Sinken der Flocken wie in der Schwarzwaldkindheit lange vor Weihnachten, nicht erst im Januar, Februar; ich überquerte die Straße und betrat mein Wohnhaus, ich fuhr mit dem engen Fahrstuhl nach oben, darin an der Rückwand die Aufzugsverordnung vom 8. September 1926, mit Paragraphen, die alle noch Gültigkeit hatten, nur nicht für mich mit brennender Zigarette. Die Viertelstunde in der Kälte, oder wie lange ich im Freien war, das Küchenfenster auf der anderen Straßenseite im Auge, hatte mir gutgetan. Trotz des Todesfalls an dem Tag und einer verzweifelten Mutter betrat ich in der Nacht mit einem Gefühl der Ruhe mein Zimmer, auch ohne einen Gedanken an die Stille nebenan. Ich zog mich aus und legte mich gleich hin, um gleich einzuschlafen, aber kaum war es dunkel und erst recht still, endete die Ruhe; auf einmal waren da nur noch die Worte aus dem Bett in dem Durchgangsraum, die schon nicht mehr Kurts Worte waren, oder in einem Ausmaß seine, das alles andere, im Wachen Gesagte in Frage stellt.
Und nicht lange nach diesen Worten – zwei Tage nach den Tränen am Grab – sitzen Mutter und Sohn in einem Frankfurter Kino, dem Cinema am Roßmarkt, und sehen eine Billy-Wilder-Komödie, Avanti, Avanti!, in der Hauptrolle Jack Lemmon. Die Geschichte um eine Erbschaft spielt auf Ischia, und die Besucherin in diskreter Trauerkleidung, an ihren Begleiter gelehnt, sieht sehr genau hin, ein Schnappen nach jeder Ablenkung wie der ganze Kinogang. Ab und zu macht sie leise Bemerkungen über die Schönheit der Insel, das Traumhafte, das einen dort erwarte, während der Sohn gedanklich woanders ist: bei der Neugierigsten, eher aber Lebendigsten in seinem Tutorium über den zerstückelten Körper. Er hat sie nach der letzten Stunde – die Teilnehmerinnenzahl weiter abnehmend wegen der Details zu den Bluttaten, von ihm in dunklen Begriffen französischer Abweichler der Psychoanalyse präsentiert – in ein Gespräch gezogen und mit Erfolg eine Einladung zum Abendessen bei sich ausgesprochen; und die ist schon in einer Woche fällig, daran muss er denken, als eine ähnlich Lebendige in dem Film auftaucht, noch mehr an Schönheit auf die Insel bringt. Da will ich mal hin, flüstert die Zuschauerin neben ihm (und im Sommer desselben Jahres fuhr sie nach Ischia und lernte den Mann kennen, der sie kein Jahr später zu sich nach Hamburg holte, wo er zum Ehemann wurde und ihr erneute Jahre in der Stadt ihrer ersten Ehe bescherte, weit über zwanzig, und diesmal so gebettet, dass sie immer mehr Bereiche der realen Welt aus den Augen verlor). Noch aber sitzt sie in dem Frankfurter Kino, in Trauer um den Mann, der sie verstanden hat wie kein anderer (und über den sie bald darauf ein Buch schrieb mit dem Titel Der Zaungast, für den Sohn ihr bestes, das sie später nie mehr erwähnt hat), noch lacht sie weinend bei jeder Pointe, den Kopf an der Schulter des Begleiters. Immer wieder drückt sie ihm dankbar die Hand, dankbar, dass es ihn gibt und er mit ihr den Film ansieht, auch wenn er, was sie nicht einmal ahnt, ganz woanders ist, bei der, die selbst die dunkelsten Begriffe lebhaft aufgreift, das Lacan’sche Objekt klein a, den Mangel an Sein, das Fading, und zur Not auch darüber lacht, sich in jedem Fall unerschrockener zeigt als die noch übrigen anderen. Er müsste die Einladung durch einen Anruf bekräftigen, so versteckt entschlossen wie Jack Lemmon als Wendell Armbruster, wenn er die quirlige Schöne, in die er sich verliebt hat, fragt, ob er sie küssen dürfe, permesso?, und sie nur Avanti, avanti! sagt.
Der erste Sturm ist da, mit Wind, der das Meer aufwühlt, zu Wellen, die erst auf dem Strand mit dumpfem Geräusch brechen, dann an den letzten noch nicht abgebauten Umkleidekabinen rütteln und bis über die Fußgängerstraße rollen, in Abständen sogar gegen die Mauer unter der Hotelterrasse klatschen – ein Lärmen bis nach Frankfurt, selbst wenn man im Zimmer telefoniert, nur die Balkontür leicht aufsteht. Was die Arbeit mache, ob es vorangehe und wie sich der Ort auswirke, das Hotel, mein Zimmer, und ob es nicht besser sei abzureisen bei dem Wetter – Fragen einer immer noch Neugierigen, auch daran interessiert, dass ein Buch nach mehreren Anläufen zum Ende kommt, trotzdem geduldig genug – oder lang genug an der Seite des Anrufers –, um vor dem Auflegen nur lachend Jetzt mach mal zu sagen (statt Avanti, avanti).