Eigentlich sprach alles dagegen. Nachdem Hellen vor ein paar Tagen zum ersten Mal die Nekropole von Anfushi begutachtet hatte, schwanden ihre Hoffnungen. Diese kleine Ausgrabungsstätte lag in einer Gegend, wo man mit allem rechnete, nur nicht damit, einen sensationellen, archäologischen Fund zu machen. Rund um die kleine Nekropole befanden sich Schulen, Sportplätze, ein Hafengebäude und einer der vielen öffentlichen Strände. Die Gegend war heruntergekommen und unscheinbar. Die ehemalige Ausgrabungsstätte war verlassen, ungepflegt und mittlerweile von Pflanzen teilweise überwachsen. Die Gräber, die dort gefunden wurden, stammten zwar passenderweise aus dem dritten Jahrhundert, aber das war schon der einzige Lichtblick.
„Bist du sicher, dass die Briefe diese Stätte meinen? Hier sieht es mehr aus wie auf einer verlassenen Baustelle“, hatte Arno sie gefragt. Und auch Hellen musste zugeben, dass sie niemals auf die Idee gekommen wäre, hier nach Hinweisen auf die glorreiche Bibliothek von Alexandria zu suchen, oder überhaupt nach irgendwelchen wertvollen Dingen. Doch die Briefe waren unmissverständlich gewesen. Das war aber nicht das einzige Problem. Als sie um eine Genehmigung ansuchte, um in den Gräbern und Gängen der Nekropole Nachforschungen machen zu können, war sie sofort abgewiesen worden.
Die Ausgrabungsstätte liegt in unmittelbarer Nähe zum Meer und der Großteil der Gänge und Gräber sind teilweise überflutet oder durch das Meerwasser instabil. Eine Erforschung der Gänge sei deswegen viel zu gefährlich und kann somit nicht genehmigt werden.
So lautete das offizielle Schreiben des ägyptischen Kulturministeriums. Und sogar Arnos mehr als großzügige Bestechungsversuche konnten die Beamten nicht umstimmen.
„Wir gehen da trotzdem rein. Dann machen wir das eben nachts, wenn es niemand auffällt. Und wir brauchen eine Taucherausrüstung, damit wir durch die überfluteten Gänge kommen“, sagte Hellen entschlossen.
Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Noch vor einiger Zeit hätte sie die Absage der Behörden zwar nicht hingenommen und sich in ein langwieriges bürokratische Hin und Her verstrickt. Aber sie hatte sich verändert. Und sie wusste auch, welcher Mann dafür verantwortlich war. Dafür würde sie ihm ewig dankbar bleiben, aber das war im Moment nicht wichtig. Jetzt musste sie den Hinweisen in den Briefen nachgehen. Es war kurz nach Mitternacht, als Arno den SUV direkt vor der Nekropole, gegenüber eines Militärkrankenhauses parkte.
„Hier können wir nicht stehen bleiben. Nicht direkt vor der Nase einer militärischen Einrichtung“, gab Hellen zu bedenken.
„Schau mal, ob wir nicht auf der anderen Seite einen Weg in das Gelände finden können.“
Arno gab Hellen recht und fuhr langsam wieder los, als auch er den Soldaten bemerkte, der den Einfahrtsbereich des Krankenhauses bewachte und mittlerweile auf den SUV und die beiden aufmerksam geworden war. Sie fuhren bis ans Ende der Straße und bogen an der nächsten Ecke des Ausgrabungsareals, links in eine Seitengasse ein. Dort befand sich eine kleine Gruppe von Bäumen, die ihnen die nötige Deckung bot, um über die Mauer klettern zu können.
Arno nahm die beiden Rucksäcke mit ihrer Ausrüstung aus dem Kofferraum und gab einen davon Hellen.
Sie warfen die Rucksäcke auf die andere Seite und waren in Windeseile über die niedrige Mauer geklettert.
Sie gelangten, dank der klaren Nacht und des hellen Mondscheins, auch ohne ihre Taschenlampen einzuschalten, problemlos über den offenen Hof des Ausgrabungsareals. Mit dem Brecheisen, das Arno eingepackt hatte, brachen sie das Vorhängeschloss an der Holztür auf und huschten in die erste Grabkammer. Hellen schaltete ihre Taschenlampe ein.
„So weit, so gut“, sagte Arno und steckte das Brecheisen wieder weg. Er sah zu Hellen hinüber. Sie trug ein olivgrünes Trägershirt und Cargoshorts. Auf den ersten Blick und in diesem Setting war eine Ähnlichkeit zu Lara Croft nicht abzustreiten.
„Schau!“ Hellen deutete auf Malerei, die an der Wand zu sehen waren.
„Eindeutig vorptolemäische Zeit. Diese Kartuschen des Pharaos Apries aus der 26. Dynastie sind recht selten. Warum die das hier so verkommen lassen, verstehe ich nicht.“
„Und hier eine Darstellung des Horus“, ergänzte Arno.
Hellen lächelte. Sie genoss es, mit einem Mann zusammen zu sein, mit dem sie so viele gemeinsame Interessen hatte.
Sie gingen an diversen Grabkammern vorbei, bis der Weg sie in eine große Kammer mit einfachen geometrischen Mustern und einer Darstellung des Gottes Osiris an den Wänden führte. Am Ende der Kammer führte eine Treppe in die Tiefe. Arno leuchtete die Stufen nach unten und bereits ein paar Meter tiefer sahen sie das Schimmern der Wasseroberfläche. Hellens Herz schlug sofort schneller. Sie erblasste.
„Was ist los, Hellen? Ist alles in Ordnung?“ Arno hatte die Angst in ihrem Gesicht richtig gedeutet.
„Ja, alles OK. Mich erinnert das nur an“, sie stockte, „… an eine Situation, in der ich fast ertrunken wäre.“
Sie wusste zwar, dass sie mitunter zum Tauchen hier waren, aber erst jetzt wurde ihr die Situation richtig bewusst. Als sie die Stiegen sah, die im rabenschwarzen Wasser verschwanden, kamen all die lähmenden Erinnerungen hoch. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und aus und hatte sich schnell wieder gefasst.
„Aber da hatten wir keine Taucherausrüstung dabei“, sagte sie mehr zu sich selbst, um sich die Angst zu nehmen. Ihre Stimme hatte ihre übliche Stärke wiedererlangt. Arno nahm die beiden Sauerstoffflaschen aus dem Rucksack und reichte eine davon an Hellen weiter. Das Mundstück war direkt an der nur knapp 30 cm hohen Flasche angebracht und barg Luft für 10 Minuten. Hellen nahm am Wasserrand auf der Treppe Platz, stülpte die Brille über, schlüpfte in ihre Flossen und steckte das Mundstück der Flasche in ihren Mund. Sie nahm auch noch ein paar Knicklichter aus dem Rucksack und steckte sie in ihre beigen Shorts.
„Denk dran, wir haben nur für zehn Minuten Luft“, erinnerte Arno Hellen, setzte sich neben sie und legte seine Ausrüstung an. Hellen signalisierte Arno mit der Hand ein OK, rutschte die Treppen nach unten und tauchte ab. Arno folgte ihr. Der Abgang endete bald und führte in einen weiteren Raum. Sie ließen in größeren Abständen immer wieder ein Knicklicht fallen, um so auch wieder schnell den Weg zurückzufinden. Laut ihrer Skizze, die sie sich auf der weißen Plastikkarte mit dem Unterwassermarker gemacht hatte, musste jetzt ein rund 200 Meter schmaler Gang folgen, an dessen Ende sich eine für die Ägypter so typische Scheintür befand. Sie schwammen los und fanden alles genauso vor. Links und rechts der Scheintür sahen sie ein schachbrettartiges Muster aus vergilbten schwarzen und gelblichen Steinen. Sie warfen ein paar Knicklichter auf den Boden, um die Hände frei zu haben, und machten sich an die Arbeit.
12 Steine in der Breite und 12 Steine in der Höhe. Hellen hatte sich die Anweisungen in dem Brief genau gemerkt und war sie mit Arno unzählige Male durchgegangen. Von der rechten Wand weg, zählte sie vier Steine nach links und dann drei Steine nach oben. Arno zählte auf seiner Seite, sechs Steine nach oben und zwei Steine nach rechts.
Die beiden drückten gleichzeitig auf ihren jeweiligen Stein. Doch es geschah nichts. Die Steine steckten fest. Sie versuchten es abermals und es bewegte sich wieder nichts. Nach einigen Versuchen deutete Arno auf seine Taucheruhr. Sie hatten nur noch für 5 Minuten Luft, die Anstrengung verbrauchte mehr Luft als geplant. Sie mussten sich beeilen, sonst würde ihnen die Luft frühzeitig ausgehen. Hellen zückte ihr Taschenmesser und schabte rund um den Stein in den Spalten ein wenig Schmutz heraus. Arno tat es ihr gleich. Sie drückten ein weiteres Mal. Endlich glitten die Steine zehn Zentimeter nach hinten. Gleichzeitig sprang in der Mitte der Scheintür, deren Türrahmen mit Hunderten Hieroglyphen übersät war, ein 70 mal 70 großer Steinblock heraus. Luftblasen stiegen auf. Ein Hohlraum, dachte Hellen. Sie schwammen zu dem Steinblock und versuchten ihn weiter aus der Wand zu ziehen. Es kostete die beiden eine Menge Mühe, aber sie schafften es. Der Würfel glitt zur Gänze aus der Wand und hatte auf der Rückseite einen hohlen Kern. Hellen blickte in den Steinblock. Darin befanden sich zwei Amphoren, mit einem Symbol darauf, das sie sofort wiedererkannte. Arno warf wieder einen Blick auf seine Uhr. Sie hatten nur mehr zwei Minuten Atemluft übrig. In Hellen stieg Angst hoch. Ihr letztes Taucherlebnis war für sie sehr traumatisch gewesen. Sie hatte keine Lust, so etwas noch einmal zu erleben. Sie schnappte eine Amphore und folgte den Knicklichtern zurück zum Ausgang. Arno klemmte sich die andere unter den Arm und folgte ihr. Hellen tauchte auf und schnappte lautstark nach Luft. Die letzten Schwimmzüge musste sie ohne Atemluft machen, denn die Flaschen waren restlos leer. Arno tauchte ein paar Sekunden später auf. Sie hatten es geschafft.
„Ich kenne das Symbol.“ Hellen deutete begeistert auf die Amphoren.
„In den Unterlagen meines Vaters habe ich es oft gesehen.“ Sie atmete schnell und lächelte Arno überglücklich an. „Diese beiden Amphoren stammen mit Sicherheit aus der Bibliothek von Alexandria.“