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Ägyptisches Museum, Kairo

Den Wagen mussten sie in einer nahegelegenen Seitengasse parken, denn hinter dem Museum befand sich lediglich ein riesiges Autobahnkreuz. Auf den mehrspurigen Straßen wälzten sich die Verkehrsmassen durch die Hauptstadt des einstigen Pharaonenreichs. Ägypten, die Hochkultur der Antike, versank heute in Armut, Überbevölkerung und Smog. Hellen und Arno zwängten sich durch die Autokolonnen, die auf der Meret Basha langsam durch die Stadt krochen. Genau gegenüber des Hintereinganges warteten sie auf die nächste Gelegenheit, den großen Kreuzungsbereich zu überqueren. Es war spät abends und dennoch herrschte ein reges Treiben in dieser heruntergekommen und stinkenden Stadt. Sie liefen über die Straße und hämmerten an das große Tor auf der Rückseite des Museums. Wenige Augenblicke später öffnete ihnen ein kleiner, bärtiger Mann mit einem herzlichen, und gleichzeitig zahnlosen Lächeln das Tor, sah sich verstohlen um, winkte die beiden hastig herein und führte sie über den kleinen staubigen Hof.

Ihnen war natürlich nicht bewusst, dass sie von der gegenüberliegenden Straßenseite, vom Balkon des Hotels Tahrir Plaza Suites aus, beobachtet wurden.

„Ich habe schon erwartet, Sidi, kommen Sie, kommen Sie“, sagte er in einem starken Akzent und mit einer einladenden Handbewegung. Er trug eine graue Hose, ein schmuddeliges Button-down Hemd und abgetragene schwarze Schuhe.

„Sie haben Glück, heute niemand mehr da, alle schon weg.“ Er hielt ihnen die Tür auf und Hellen und Arno schlüpften in das Museumsgebäude.

Als sie die Sicherheitszentrale des 120 Jahre alten Museums betraten, offenbarte sich ihnen eine andere Welt. Das antiquierte Sicherheitssystem und die Handvoll schwarz-weiß Bildschirme zeigten, dass der Bau des neuen Museums bei Giseh nicht früh genug fertig werden konnte. Die unsagbaren Schätze, die das weltweit größte Museum für ägyptische Kunst beherbergte, brauchten dringend ein neues, modernes Zuhause.

Arno legte fast beiläufig ein Kuvert auf den Schreibtisch des Mannes, der das aus dem Augenwinkel wahrnahm und lächelte. Dieses Geld würde seiner Familie mehr als gut tun und er konnte seinen Kindern und auch seiner Frau endlich wieder einmal eine Freude bereiten.

Er ging zu einer Wand, auf der Pläne jeder Etage des Museums dargestellt waren, und fing an zu erklären.

„Wir hier.“ Er tippte mit dem Finger auf sein Büro in der nordöstlichen Ecke des Gebäudes und fuhr fort. „Sie gehen so, so, dann so, dann hinunter - nicht da - auf keinen Fall da - dann so und so.“

Hellen und Arno versuchten, so gut es ging sich die Anweisungen des Mannes einzuprägen. Hellen nahm ihr Handy aus der Tasche ihrer Cargohose und machte damit ein Foto der Wand. Sicher ist sicher, dachte sie.

Der Nachtwächter tippte jetzt aufgeregt auf ein Zimmer im Untergeschoß.

„Hier, hier Amphore von Anfushi, erst heute bringen.“

Er drückte Arno eine alte, abgewetzte Keycard in die Hand.

„Tür damit auf - Sie haben eine Stunde - nachher bringen Karte.“

Plötzlich vernahmen die drei ein lautes metallisches Klopfen. Es war das Eingangstor.

„Alarm für eine Stunde aus. Nicht vergessen, eine Stunde! - Gehen Sie, gehen Sie.“ Er scheuchte Hellen und Arno förmlich aus seinem Büro, lächelte die beiden freundlich mit seiner riesigen Zahnlücke an. Er wartete, bis die beiden um die Ecke verschwunden waren und vernahm ein weiteres Hämmern. Er lief nach draußen.

Hellen wandte sich um und sah dem Mann zweifelnd hinterher. Konnten sie diesem alten, zugegeben sehr liebenswerten Wächter wirklich trauen? Oder stand schon die Polizei vor der Tür, um sie zu verhaften, und sie würden sich das Geld teilen, dass Arno auf dem Tisch zurückgelassen hatte?

„Na los, worauf warten wir, die Uhr tickt“, sagte Arno und zog Hellen am Arm, die anfangs noch zögerlich, aber ihrem Freund schließlich folgte. Sie hielten sich haarklein an die Anweisung des Mannes und achteten darauf nur genau den Weg zu nehmen, den er ihnen auf dem Plan gezeigt hatte. Hellen hatte zwar schon mehrmals das Museum besucht, doch solche Orte verzauberten sie buchstäblich. Der Geruch in solchen Museen rief bei immer ein wohliges Gefühl hervor. Und einmal nachts und ganz alleine diese mächtigen Hallen zu begehen, war für sie ein aufregendes Erlebnis. Ihr kam das berühmteste Artefakt des Museums in den Sinn. Es war neben dem Porträt der Mona Lisa von Leonardo da Vinci wahrscheinlich eines der berühmtesten Kunstwerke der Welt. Die goldene Totenmaske des vor 3343 Jahren verstorbenen Pharaos Tutanchamun. Er hatte nur dadurch Berühmtheit erlangt, dass sein Grab nahezu unversehrt von Howard Carter 1922 im Tal der Könige entdeckt worden war. Er war kein sehr bedeutender Pharao gewesen. Wenn man sich also überlegte, welche Schätze ein unwichtiger König in seinem eher kleinen Grab gehabt hatte, welche Schätze waren dann über die Jahrtausende verloren gegangen, weil sie von Grabräubern geplündert worden waren. Hellen dachte an Cloutard und ob er sich etwas davon ergattert hatte. Der Inhalt dieses Grabs galt bis heute als einer der spektakulärsten Funde der Archäologie. Es befanden sich aber auch bedeutendere Persönlichkeiten in diesen Mauern. Unter anderem die Mumie von Ramses II. So hatte auch der einst mächtigste Pharao und das selbst bis heute am längsten regierende Staatsoberhaupt der Welt, in einem der Kühlschränke des Kairoer Museums seine letzte Ruhestätte gefunden. Hellen erinnerte sich, wie ihr Vater sie als Kind einmal hierher mitgenommen hatte, und ihr die Ehre zu Teil wurde, die Mumie von Ramses II persönlich sehen zu können. Sie hatten damals Glück gehabt, dass ein amerikanisches Filmteam eine Dokumentation gedreht hatte und er dafür aus seiner voll klimatisierten Ruhestätte geholt worden war. Das war einer der Momente mit ihrem Vater gewesen, an den sich Hellen noch heute gerne zurückerinnerte.

Als sie und Arno im Keller vor der Tür standen, für die ihnen der Nachtwächter die Keycard mitgegeben hatte, atmete Hellen freudig ein und steckte die Karte in das alte Lesegerät. Ein Summen, dann ein Klicken, und die Tür ließ sich aufziehen. Sie betraten das kühle Labor und Hellen schaltete das Licht an. In der Mitte des sterilen Laborraums stand ein großer, stählerner Tisch und auf ihm befand sich eine dunkle Holzkiste. Hellen und Arno gingen darauf zu und sahen sich mit Spannung geladen und großen Augen an. Hellen gab Arno einen Kuss.

„Ich danke dir, dass du das für mich getan hast.“

Sie nahm das Brecheisen, das neben der Holzkiste lag, knackte den Deckel auf und legte ihn zur Seite. Da waren sie. Auf Holzwolle gebettet lagen die beiden 50 Zentimeter großen Amphoren endlich vor ihr. Die sandigen Tongefäße waren in einem nahezu perfekten Zustand. Die zwei Minuten, die sie dem Meerwasser ausgesetzt waren, als Hellen und Arno sie an die Oberfläche getaucht hatten, schienen ihnen nichts ausgemacht zu haben. Der Hohlraum, aus dem sie Hellen entnommen hatte, war wahrscheinlich luftdicht verschlossen gewesen. Das würde die Luftblasen erklären, die aufgestiegen waren, als der Stein aus der Wand gefahren war und auch, warum sich anfänglich die Steine nicht hatten bewegen lassen. Das Geheimfach war versiegelt worden. Hellen hob eine Amphore aus der Kiste und bewunderte die Textur des schlichten Gefäßes, aber vor allem interessierte sie das Symbol, das in den Ton gepresst war. Hellen entnahm auch die zweite Amphore und begann ihre Untersuchung.