Wenig später trafen sie auf dem Platz Midan Hussein ein. Hier standen sich zwei riesige Moscheen gegenüber. Die kleinere und modernere Saijidna el-Hussein-Moschee befand sich gleich beim Eingang zum Bazar und auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, die über tausend Jahre alte al-Azhar-Moschee. Sie war die zweite Moschee, die in Kairo errichtet worden war und seitdem der Stadt den Spitznamen Stadt der Tausend Minarette bescherte. Sie gilt auch bis heute als zweitälteste, durchgehend betriebene Universität der Welt.
Cloutard fuhr rechts ran und ließ Tom aussteigen. Es war zwar schon spät, aber es tummelten sich immer noch viele Menschen auf dem Platz rund um die Moscheen. Auch zahlreiche Touristen spazierten umher und bewunderten die alten Gebäude. Die Moschee erstrahlte in weißem und gelbem Licht, welches die beeindruckende Architektur wunderbar zur Geltung brachte. Tom lief über den Platz zum östlichen Eingang des Bazars, beim großen Minarett-Turm der Hussein-Moschee. Ihm blieben nur noch wenige Minuten bis zu Ossanas Deadline.
„Check, Check“, sagte Tom, um das Earpiece zu testen, dass er sich vor dem Aussteigen ins Ohr gesteckt hatte. Der Zugang zu toller Ausrüstung, die ihm die kurzzeitige Rückkehr in seinen alten Job bot, kam ihnen jetzt sehr gelegen. Nachdem er Kanzler Lang wieder in der Botschaft abgeliefert hatte, hatte er einen kleinen Abstecher in das Equipmentlager gemacht.
„Wir verstehen dich gut“, erwiderte Cloutard.
Tom wühlte sich währenddessen durch die schmale Gasse Sekat Al Badstan. Sie war gesäumt von kleinen Geschäften und offenen Ständen, die unter anderem Gewürze anboten. Kunstvolle Lampen, Gefäße oder Schmuckstücke schimmerten im goldenen Licht der Gassenbeleuchtung. Touristen kauften Souvenirs, Schmuck oder T-Shirts für ihre Liebsten. Einheimische Männer saßen in ihren Kaftans vor Lokalen, tranken Tee oder Kaffee und rauchten ihre aromatischen Shishapfeifen.
Tom sah Ossana schon aus der Ferne. Die einsachtziggroße Schönheit stand in einem langen Umhang und mit einem prachtvollen Kopftuch verhüllt, an dem vereinbarten Treffpunkt, unter dem kunstvollen Torbogen des Bazars.
„Wo ist Noah?“, knirschte er Ossana mit ernster Stimme an.
„Immer schön langsam, Mr. Wagner. Haben Sie, was ich wollte?“, fragte sie etwas misstrauisch und Tom musternd.
„Man spricht meinen Namen anders aus, aber egal. Die Amphoren waren zu unhandlich. Das war darin!“ Er zeigte ihr die Dokumentenrolle.
„Mr. Wagner, wollen Sie mir etwa weismachen, dass Sie zweitausend Jahre alte Vasen zerstört haben, nur um nicht so viel tragen zu müssen?“ Sie schüttelte mit einem gehässigen Lächeln auf den Lippen, ihren Kopf.
„Wo ist Noah?“, wiederholte Tom zunehmend verärgert.
Ossana holte ein Handy unter ihrem Umhang hervor und hielt es Tom hin. Zu sehen war ein Live-Video, das Noah in einem Van zeigte.
„Geben Sie mir die Dokumente und meine Männer lassen Noah gehen.“
„Wo lassen Sie ihn frei?“
„Wir liefern frei Haus“, scherzte Ossana „Wir haben dich und deine Freunde seit dem Museum nicht mehr aus den Augen gelassen. Gib mir die Rolle und meine Männer werden Noah an deine Freunde übergeben.“
Tom zögerte, überreichte die Schriftrollen aber schlussendlich an Ossana. Sie murmelte auf Afrikaans einen kurzen Befehl in das Handy und legte auf.
Dann beugte sie sich nach vorne und hauchte Tom in das Ohr, in dem er sein Earpiece trug.
„Und lass mir meinen Ex-Liebsten François grüßen, ich werde unsere schöne Zeit nie vergessen. Und dass unser gemeinsames Schäferstündchen damals so rüde unterbrochen wurde, ist wirklich schade.“ Sie zwinkerte ihm zu, dann gab sie Tom einen Kuss auf die Wange, wandte sich schnell ab und verschwand in westlicher Richtung in der Menschenmenge.
„Pute stupide“, schimpfte Cloutard, als er Ossanas Nachricht über Funk vernahm. Er hatte den Wagen in der Hasan El-Adawy unter einer Gruppe Bäume geparkt, gegenüber dem Eingang des Bazars. Plötzlich tauchte neben ihnen ein Van auf und zwei schwarze Männer stießen Noah in seinem Rollstuhl einfach aus dem Wagen, der nicht einmal für eine Sekunde hielt.
Noah knallte vornüber auf die Straße und der Van raste mit quietschenden Reifen davon. Als Hellen und Cloutard den ziemlich mitgenommenen und verletzten Noah wieder aufrichteten, kam Tom gelaufen und fiel seinem alten Freund etwas zu stürmisch um den Hals.
Noah ächzte, erwiderte aber die Umarmung seines Freundes.
„Ich danke euch, ihr habt mir wirklich das Leben gerettet.“
Tom hob seinen Freund vorsichtig in den Wagen und Cloutard klappte den Rollstuhl zusammen, verstaute ihn im Kofferraum und sie machten sich auf den Weg zur österreichischen Botschaft.
Am westlichen Ausgang des Bazars stieg Ossana in den Van und nahm ihr Mobiltelefon zur Hand. Ein kleiner roter Punkt bewegte sich langsam über das Display, das eine Karte von Kairo zeigte. Sie lächelte zufrieden, denn niemand hatte den kleinen GPS-Dot bemerkt, den ihre Jungs auf der Unterseite des Rollstuhls versteckt hatten.