Vittoria rührte sich keinen Millimeter. Der Mann hinter ihr würde keine Sekunde zögern und abdrücken, davon war sie überzeugt.
Gedanken schossen durch ihren Kopf: War Tom noch am Leben? Was war mit Hellen und Abiye? Was war mit den Priestern? Würden alle ertrinken müssen, nur weil sie versagt hatte?
„Los aufstehen, aber langsam“, sagte der Mann hinter ihr mit düsterer Stimme. Vittoria hob langsam die Hände neben ihren Kopf und stand auf.
„Bitte nicht schießen!“, wimmerte sie, um den Mann in Sicherheit zu wiegen. Er sollte denken, dass sie völlig hilflos sei. Für den Hauch einer Sekunde war der Mann unvorsichtig. Er hatte Vittoria unterschätzt und stand viel zu nahe. Kurz bevor sie komplett aufrecht stand, drehte sie sich blitzschnell um. Sie schob sein Gewehr ruckartig zur Seite und packte es. Ein Schuss löste sich. Sie riss es zu sich, sodass der überraschte Soldat ins Stolpern kam. Ihr Bein schnellte in die Höhe und traf den Mann, wo es wirklich weh tat.
„Ahh.“ Der Mann ging mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie. Vittorias rechter Haken traf seine Schläfe und setzte ihn für einige Sekunden außer Gefecht. Sie krallte sich den Zünder und lief die Böschung hinunter. Der Mann war schneller als erwartet wieder auf den Beinen. Schüsse pfiffen an Vittorias Kopf vorbei. Der Schmerz und der starke Regen machten aber genaues Zielen für den Mann unmöglich. Verärgert rappelte sich der Soldat hoch und nahm die Verfolgung auf. Im Laufen hatte Vittoria den Sender und den Zünder eingesteckt und ihre Waffe gezogen. Sie musste ihren Verfolger stoppen und traf eine waghalsige Entscheidung. Dabei hatte sie jedoch nur einen Versuch. Nachdem sie ihr Tempo leicht verringert hatte, wandte sie sich blitzschnell um, ließ sich auf die Knie fallen und zielte in aller Ruhe. Der überraschte Soldat riss sein Gewehr hoch, doch Vittorias Kugel streckte ihn im gleichen Moment nieder. Wenn es in ihrem Training etwas gab, in dem sie brillierte, dann war es am Schießstand.
Zitternd senkte sie ihre Waffe und sah den reglosen Körper auf der Böschung im Dreck liegen. Mit einem Mal durchfuhr ein sengender Schmerz ihre rechte Schulter. Sie drehte sich um und sah oben auf dem Felsplateau einen weiteren Soldaten stehen. Er schoss ein zweites Mal, doch diesmal verfehlte er. Vittoria war wieder in Bewegung. Ihre Schulter brannte wie Feuer und sie dachte an die vielen Ertrinkenden. Versagen war keine Option! Am Fuße der Böschung stand wieder knietief das Wasser. Sie lief zickzack auf die Schlucht zu, in Richtung der Stelle, wo sie das C4 platziert hatte. Schmerzverzerrt holte sie im Laufen den Zünder hervor. Kugeln peitschten links und rechts von ihr ins Wasser. Sie presste sich flach an die Wand. Von oben regnete es eine Salve Dauerfeuer auf sie herunter. Die Kugeln verfehlten sie nur um Haaresbreite. Blitzschnell steckte sie den Zünder zurück in den Sprengstoff, aktivierte ihn und lief die Wand entlang. Diesmal fackelte sie nicht lange und nach nur zehn Metern drückte sie den Auslöser. Eine Druckwelle schleuderte Vittoria nach vorne und sie landete kopfüber im Wasser. Felsbrocken wurden durch die Luft geschleudert. Wie aus einem gebrochenen Damm schoss das Wasser aus dem Kirchhof ins Freie. Augenblicke später war alles Wasser aus dem Inneren der Kirche und dem Kirchhof geflossen. Vittoria rappelte sich auf und wollte wieder in Deckung gehen. Aber der Soldat auf dem Plateau war durch die Explosion in die Tiefe gerissen worden und von einem großen Felsbrocken erschlagen worden. Vittoria lief in den Kirchhof, löste den Keil der Tür und riss sie auf. Elf völlig erschöpfte und triefend nasse Priester kamen nach und nach aus der dunklen Kirche. Hustend stützten sie sich gegenseitig und konnten es kaum glauben, dass sie noch am Leben waren. Die Geistlichen, unter ihnen auch Tesfaye, bedankten sich überschwänglich bei Vittoria, die abgekämpft auf einer kleinen Treppe neben der Kirche Platz nahm und sich überglücklich zurücklehnte.